2 08

Ich-Gemeinschaft und Volks-AG

Die Linke vor der Sozialen Frage

Juni 2003

Editorial

Der Satz ist im Allgemeinen weniger eine Analyse als eine Drohung. Ist das Schreckensbild von Deutschland im Rückwärtsgang erst einmal ausgemalt, folgt die Forderung einer Reform. Mit diesem Euphemismus meint man nicht die schrittweise Bewegung zur Verbesserung eines sozialen Zustandes, sondern das Gegenteil, nur schneller und mit Maulhalten. Weiter

Inhalt

Top Story

Phase 2 Leipzig

Die Linke vor der sozialen Frage

Zum Schwerpunkt dieser Ausgabe

Die fetten Jahre sind vorbei. So oder ähnlich kann man den Abbau sozialstaatlicher Standards in der Bundesrepublik in den letzten Jahren zusammenfassen. Egal ob Hartz-Programm, die angestrebte Einschränkung des Kündigungsschutzes, die Ausweitung des Zwangs zur Arbeit oder die Kürzung von Sozialleistungen – wie immer es genannt wird, das Netz sozialer Sicherungssysteme wird eingeschränkt und zunehmend in den Bereich individueller Verantwortung überwiesen. Konträr zu ihrem sozialen Engagement steht die tendenzielle Betroffenheit auch der radikalen Linken als Teil der Gesellschaft, abzulesen auch an der nur geringen Begeisterung, in der Phase 2 einen Schwerpunkt eben zu diesem Thema zu machen. Spätestens seit dem Epochenbruch von 1989, verstärkt noch durch die Diskussionen um Kritik oder Politik der letzten drei Jahre, pflegt die Radikale Linke ein ambivalentes Verhältnis zur sozialen Frage, und das bisweilen aus gutem Grund. Die Ambivalenz lässt sich dabei ableiten aus der Zweiteilung des Begriffs »sozial« in einen gesellschaftlichen, die Ordnung der menschlichen Gesellschaft betreffenden und in einen menschenfreundlichen, die Beziehungen der Mitmenschen emanzipierenden Aspekt. War die soziale Frage immer ideell-konstitutiver Bestandteil linker Politik, die an der Durchsetzung menschenfreundlicherer Bedingungen interessiert war, so ist man doch daran gewöhnt, dass fernab von Gewerkschafts- oder Parteienpolitik relativ wenig politische Gruppen existieren, die auf diesem Gebiet tätig sind. Weiter…

Marek Mausebär

Jargon der Bewegung – Zur Ideologiekritik der Globalisierungsgegner

Über die vergebliche Suche nach systemimmanenten Alternativen auf dem Boden des warenproduzierenden Systems

Ende des 19. Jahrhunderts – eine Welt an der Schwelle zur totalen Verwertung. Die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder ist unfrei, Proletarier, die in finstersten Verhältnissen vegetieren. Nach Kapitallogik müssen sie mündiges Subjekt sein, real sind sie nichts als bessere Leibeigene (bspw. mussten sich Arbeiter noch Anfang des 20. Jahrhunderts willkürlich angeordneten Untersuchungen durch ihre Fabrikherren unterziehen, sie konnten nicht nach Gutdünken ihre Stelle kündigen und das preußische Dreiklassenwahlrecht sorgte dafür, dass mehr als drei Viertel der Bevölkerung verfassungsmäßig nicht in die Gesellschaft integriert war). Das Kapital steht auf wackligen Beinen. Sein Staat (der bürgerliche), der es gegen sich selbst, seinen Raubbau am Arbeitsvermögen der Gesellschaft, in Schutz nehmen könnte, ist erst im Entstehen. Arbeiter sterben früh an elenden Arbeitsbedingungen, Trunksucht und Kinderarbeit tun ihr übriges, um die gesamte Reproduktion zu gefährden. Die »schöne Maschine« droht sich festzufressen, ehe sie überhaupt auf volle Touren kommt. Langsam sickert die Erkenntnis, dass so etwas wie eine »soziale Frage« über Sein oder Nichtsein der ganzen Gesellschaft entscheidet. Nach Napoleon I. und Bismarck wird sie erneut von der Arbeiterbewegung gestellt und versucht, durch Revolution oder Reform zu lösen. Anfang des 21. Jahrhunderts – die Welt hat sich geändert. Die Arbeiterschaft ist in die Gesellschaft integriert, Arbeiterbewegung und Marxismus haben ihre historische Mission also erfüllt. Das Kapitalverhältnis ist zum planetarisch geschlossenen System geworden – nirgendwo mehr ist eine Reproduktion jenseits von Wert, Ware, Geld, Arbeit, Staat möglich. Wo diese fünf Teufel fehlen, ist menschliches Leben billig. Der Keynesianismus ist an den horrenden Staatsdefiziten mit Pauken und Trompeten gescheitert. Während linke Sozialpolitiker, Antideutsche und Neokeynesianer ihre liebgewordenen Meisen pflegen, taucht das letzte große Problem der Menschheit auf: Im Zuge der dritten industriellen – der mikroelektronischen – Revolution kommt es zum globalen Abschmelzen der Wertsubstanz, der Zeit, in der produktive Arbeit verausgabt wird. In seinem eigenen Prozessieren (G-W-G´ = aus Geld mehr Geld machen) entzieht sich das Kapital seine Grundlage dadurch, dass es menschliche Arbeit zunehmend überflüssig macht. Das Einzelkapital, das am meisten Arbeitskraft einsparen kann, erhält aus der verbleibenden Wertmasse den größten Anteil. Da nirgendwo eine Kompensation (in Gestalt neuer, Arbeitskraft einsaugender Produkte) für diesen Autokannibalismus zu entdecken ist, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Vor uns erscheint die absolute Schranke des warenproduzierenden Systems. Weiter…

Christoph Speer

Den Laden schmeißen

Fragmente für eine radikale Politik des Sozialen

Economy sucks – Solidarität mit den gewerkschaftlichen Kämpfen für 2,75 Prozent mehr Lohn und gegen die Begrenzung des Arbeitslosengelds für ältere Arbeitnehmer. Studieren wir die Konzentrationsprozesse in der europäischen Bauindustrie. Machen wir die besseren Sparvorschläge zur Sanierung der Berliner Stadtfinanzen. Unterstützen wir die Forderung nach Einführung der Tobinsteuer auf internationale Devisengeschäfte. Und so weiter. Das sind typische Forderungen aus der ideologischen Folterkammer. Irgendwie ist das alles richtig, irgendwie aber auch alles falsch, und es langweilt entsetzlich. Wenn es wenigstens wilde Streiks in Spanien wären; wenn ein wenig Verschwörungstheorie dazu käme. Aber so stehen wir erstmal im großen Gähnen: Wenn das die Auseinandersetzung mit »dem Sozialen« sein soll, dann lieber nicht. Dasselbe gilt aber auch für die andere Variante: die nicht-reformistische, nicht-integrierte, grundsätzlich-fundamentalistische. Wir stellen hier doch keine Forderungen, wir klären die Leute auf, dass im Kapitalismus eh nichts besser werden kann. Beweisen wir, warum die Forderung nach Grundsicherung oder nach besserer Förderung von Genossenschaften besonders raffinierte Instrumente kapitalistischer Integration sind. Gehen wir nochmal zurück auf die Kontroversen zwischen Lenin und Kautsky um den Imperialismus. Hier muss man doch erst mal eine ökonomische Analyse machen. Fordern wir die sofortige Aufhebung der Wertvergesellschaftung. Und so weiter. Das ist die andere ideologische Folterkammer, die andere Langeweile. Die scheinbaren Extreme berühren sich in ihrem Desinteresse, so etwas wie eine zumindest in Ansätzen greifbare, vorstellbare soziale Utopie hervorbringen zu wollen. Männerdiskussionen sind es ohnehin. Weiter…

Phase 2 Leipzig

Die Archive der Ich-AG

Um die soziale Frage unbeantwortet sein zu lassen, brachte der Kapitalismus ein effektives Mittel hervor: das Individuum

Die soziale Frage lässt sich richtig stellen oder strukturell verkürzt. Richtig gestellt erfragt sie, warum nicht alle alles haben. Falsch gestellt wird sie, wenn sie sozial, geographisch, temporär etc. beschränkt wird. Falsch gestellt wird sie aber vor allem auch, wenn versucht wird sie zu individualisieren im Sinne dessen, dass gefragt wird, wie viel Anteil dem Individuum am »gesellschaftlichen Reichtum« zusteht (und was es dafür zu tun hat). Die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus ist historisch gekoppelt an die Institutionalisierung der Ohnmacht im Individuum.   Weiter…

Phase 2 Leipzig

Sicher gibt es bessere Zeiten...

Die wirtschafts- und sozialpolitischen Angriffe auf gesellschaftliche Kompromisse stellen das Pendant zu den seit Mitte der Siebziger Jahre stattfindenden wirtschaftlichen Umbrüche dar

Im Vergleich mit dem, was die rot-grüne Bundesregierung in ihrer zweiten Legislaturperiode bereits geschafft hat und noch anzurichten gedenkt, war der Abbau der sozialen Sicherungssysteme durch die Regierung Kohl nur ein sanfter Vorgeschmack auf neoliberale Deregulierungspolitik. So nahm bereits die christlich-liberale Regierung Kürzungen bei der Höhe und der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld vor und verschärfte die notwendigen Zugangsvoraussetzungen. Im Jahr 1997 wurden zuletzt die Zumutbarkeitskriterien radikal verschärft. Galt davor die absolvierte Ausbildung als Kriterium dafür, welche Arbeit die Betroffenen anzunehmen hatten, so heißt es seitdem: Je länger jemand Arbeitslosenunterstützung bezogen hat, desto mehr Lohneinbußen im Vergleich zum vorherigen Job gelten als akzeptabel. Weiter…

AG Sozialer Widerstand/Ortsgruppe Lichtenrade

Wenn die Furcht zu irren der Irrtum selbst ist …

Von der Notwendigkeit einer klassenkämpferischen Praxis für die Linke

Seit einigen Jahren ist Kapitalismuskritik wieder en vogue. Auch innerhalb der radikalen Linken scheint diese nicht mehr mit Ökonomismus assoziiert zu werden. Ganz im Gegenteil: Es wird eine richtige – ergo nicht verkürzte – Kapitalismuskritik eingefordert. Dennoch ist wohl die radikale Linke in Deutschland eine der wenigen, bei welcher die Intervention in das soziale Verhältnis Kapitalismus Skepsis hervorruft. Antikapitalistische Praxis hat scheinbar noch nichts von ihren klischeehaften Auswüchsen der vergangenen Jahrzehnte verloren: Bedeutet das nicht morgens früh aufstehen und schlaftrunken vor Fabriktoren schlecht gelaunten ArbeiterInnen Flugblätter in die Hand drücken? Oder endet man nicht kurz oder lang als reformistischer Gewerkschaftsaktivist? Und überhaupt: Sollte sich eine Linke – besonders in Deutschland – nicht erst einmal ein grundlegendes Verständnis von dem erarbeiten, was Kapitalismus ist, bevor sie praktisch interveniert?   Weiter…

Brutes

Die dreckige Arbeit

Die Berliner Gruppe »Brutes« berichtet über den Begriff der Klasse und deren Zerfall

Traditionell ist die theoretische Kritik der kapitalistischen Verhältnisse durch den Klassenbegriff stets verknüpft gewesen mit der sie begrabenden Praxis. Die politische Forderung an die Klasse schrumpfte auf den fatalistischen Glauben an ihre Mächtigkeit im großen Ganzen der Geschichte. Der heute sehr beliebte Satz, dass das Kapital seine Bedingungen selbst schafft, bezieht sich bei Marx vordringlich auf das Freisetzen einer willigen Arbeitermasse der doppelt freien Lohnarbeiter. Im Begriff der Klasse spricht sich seit ihrem Ursprung stets zweierlei aus: Hier wird der Begriff für die adäquate Kritik der sozialen Verhältnisse im Kapitalismus geltend gemacht, dort ist sie als revolutionäres Subjekt verwünscht. Dass diese zwei Seiten auseinandergetreten sind, ist geschichtlich bedingt und theoretisch notwendig. Traditionell bildete das Klassenbewusstsein das politische Scharnier zwischen Theorie und Praxis. Die Lohnarbeiter als Proletariat kannten ihre Partei, die wiederum wusste, wohin es zu gehen hatte. Als politisches Subjekt hatte das Proletariat sich in seinen besten Zeiten gegen die Zwecke der kapitalistischen Vergesellschaftung und damit gegen seine eigene Existenz als Proletariat gerichtet. Wenn auch Theorie und Praxis je schwer nur zu vermitteln sind, verweist die politische Organisation und Reklamation der proletarischen Klasse auf die Struktur der kapitalistischen Vergesellschaftung. Als Bedingung der Verwertung des Werts wird die Klasse organisiert, freigesetzt und reproduziert. Theorie und Praxis bewährten sich traditionell in der Kritik der in der Klassengesellschaft durchgesetzten Ausbeutung, die in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie mit der Produktion von Mehrwert dargestellt worden ist. Mehrwert ist der durch Mehrarbeit in der Produktion geschaffene Wert, der über das für die Reproduktion des Arbeiters Notwendige hinausgeht oder es unterläuft. »The category of surplus value usually has been understood as indicating that the social surplus in capitalism results not from a number of factors of production but from labor alone. Such an interpretation maintains that labor’s unique productive role is veiled by the contractual character of the relations between nonpropertied producers and nonproductive proprietors in capitalism. These relations take the form of an exchange in which workers are remunerated for the value of their labor power – which is less than the value they produce.«(1) Die Form des Tausches der Ware Arbeitskraft gegen den Lohn stellt hiernach im Tausch zwischen zwei Gleichen – sowohl den formal gleichen bürgerlichen Rechtssubjekten als auch den »gleichen Werten« – die Ausbeutung als gerechte dar und überspielt sie somit. Solange die Kritik jedoch einzig auf die Form des Wertes als Mehrwert gerichtet ist, und wahrhaft statt scheinhaft eingelöst wissen will, was als Form des gesellschaftlichen Reichtums abzuschaffen wäre, hängt sie dem Phantasma des gerechten Tausches an, der den Bezug auf die Arbeiterklasse als unschuldiges, fleißig schaffendes Subjekt möglich macht. Nicht selten geriet ausgerechnet der Überschuss in der Form des Mehrwerts zum Denunzierten, statt den kontingenten Zusammenhang von materialem und sozialem Reichtum zu kritisieren. Weiter…