Die Archive der Ich-AG

Um die soziale Frage unbeantwortet sein zu lassen, brachte der Kapitalismus ein effektives Mittel hervor: das Individuum

Die soziale Frage lässt sich richtig stellen oder strukturell verkürzt. Richtig gestellt erfragt sie, warum nicht alle alles haben. Falsch gestellt wird sie, wenn sie sozial, geographisch, temporär etc. beschränkt wird. Falsch gestellt wird sie aber vor allem auch, wenn versucht wird sie zu individualisieren im Sinne dessen, dass gefragt wird, wie viel Anteil dem Individuum am »gesellschaftlichen Reichtum« zusteht (und was es dafür zu tun hat). Die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus ist historisch gekoppelt an die Institutionalisierung der Ohnmacht im Individuum.
 

Gründung und feindliche Übernahme der Ich-AG

Wenn es nach dem Manager-Magazin geht, stellt die Ich-AG eine »Chance für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft« dar.(1) Scheinbar müssen aber die Arbeitslosen erst zu ihrem Glück gezwungen werden: Erst 1630 Arbeitslose hatten sich zwischen Januar und März in Ich-AGs transformiert, nur ein Drittel von dem, was sich die Bundesanstalt für Arbeit erwartet hatte. Der Grund dafür läge wohl darin, dass »man sich so wenig zutraut«, meint Hartmut Fischer vom Manager-Magazin, zumindest taktisch ganz auf Augenhöhe mit den Arbeitslosen. Das sei unnötig, denn »viele Firmen sind gerne bereit, spezielle Aufgaben außerhalb der eigenen Geschäftsräume erledigen zu lassen«. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWi) ist trotz des Scheiterns der Ich-AG für größere Strenge in der Auswahl, weil sonst »die Selbstselektion unter den Gründungswilligen […] unnötig geschwächt wird«.(2)

Die Ich-AG als Wortschöpfung ist keine Hartz-Erfindung, sondern entstammt einer ungenauen Übersetzung aus einem Motivations-Buch zur Manager-Mobilisierung. »The Brand You« – »Sie als Logo/Markenzeichen« fordert eine radikale Selbstanpreisung und droht: »Falls Sie abgeschreckt oder genervt sind von diesem Wort (›verkaufen‹), … dann haben Sie … ein Problem. Will heißen: Sehen Sie zu, wo Sie bleiben … im neuen Jahrtausend«.(3) Dazwischen pochte eine Frankfurter Unternehmensberaterin auf ihr Recht: Sie habe sich die »Ich-AG« patentieren lassen, nun diene der Begriff der Charakterisierung der Lebenswelt der New Economy und sei durch die semantische Verknüpfung mit Arbeitslosigkeit entwertet. Sie sagte dies, als es noch eine New Economy gab.

Die Ich-AG ist, jenseits eines uninteressanten Modells gegen Schwarzarbeit und zur Umdeklarierung von Arbeitslosen, zum Symbol geworden für die Mobilisierung der »Eigenverantwortung und Selbstständigkeit« des Individuums in Krisenzeiten. Sie steht im Kontext eines umfassenden Sozialabbaus und des Ausbaus von Zwangsarbeit, der Verschärfung von Meldepflichten, der Zumutbarkeits- und Sperrzeitenregelungen, der Installierung von Job-Centern, Job-AQTIV-Gesetz und Personal-Service-Agenturen. Kapitalismusimmanente Risiken müssen in möglichst hohem Maße vom Individuum bewältigt werden können. Das Individuum ist genau dafür da, die Zumutungen kapitalistischer Produktion und Reproduktion alleine auszuhalten, sich dafür verantwortlich zu fühlen, sich die entsprechenden Möglichkeiten zu schaffen und dem Ganzen auch noch Sinn zu geben.

Die Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus ist auch eine der Durchsetzung des Konzeptes ›Individuum‹. Das Individuum ist dabei »Konstruktion« nur in dem Sinne, dass es jenseits irgendeiner ›Natürlichkeit‹ durch und durch gesellschaftliches Produkt ist – ohne Baupläne und ohne Konstrukteure. Die das ›Individuum‹ begleitenden Vorstellungen von individueller Entfaltung, Selbstfindung und Reifung gehören zum ideologischen Popanz, der der kargen Kernfunktion, nämlich der institutionalisierten Trägerschaft des Kapitalismus, aufgesetzt ist. Wenn ein Teil der bürgerlichen Geschichtsschreibung das Individuum in der Antike oder im frühen Mittelalter entstehen lässt, erfolgt dies um das Konzept zu universalisieren, es zur überhistorischen und globalen anthropologischen Größe zu machen, und es wird also Teil der Ideologie vom Individuum. In den folgenden Abschnitten soll die Genese des Individuums nachgezeichnet werden. Das kapitalistische Individuum hatte Vorläufer, angesiedelt in den jeweiligen gesellschaftlichen Eliten und zahlenmäßig marginal.(4) Hier wurden ›Prototypen‹ entwickelt, die später in repressiver Ausstattung massentauglich werden sollten. Der gesellschaftliche Individualisierungsprozess verlief ungleichmäßig, nicht nur entlang von Klassengrenzen, sondern auch rassistisch, antisemitisch und patriarchal abschottend und regulierend. Die Wirksamkeit des Instrumentes Individualisierung wurde erprobt, dosiert und immer weiter verfeinert.

 

Ich-Geschichten (I): Eliten-Individualisierung

Grundsätzlich ließen die vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen ein ›eigensinniges‹ Leben kaum zu. Verhalten, das als egoistisch eingestuft wurde, wurde negativ sanktioniert und fand keine soziale Anerkennung. Die feudalen wirtschaftlichen Interdependenzen stehen noch außerhalb von Ware-Geld-Beziehungen. Der Ausbruch des Bürgertums aus den ständischen Eingrenzungen und Verregelungen war ein aufwändiger Prozess. Kunst und Literatur legen seit der Renaissance Zeugnis ab von der Suche nach einem eigenen Ort des Nachdenkens über sich selbst, zunehmend als Selbstreflexionen in Bildern, Autobiographien, Tagebüchern und privaten Briefwechseln. Menschen entwickelten und diversifizierten immer verfeinerte Kulturtechniken, die Wissenschaften säkularisierten sich, schoben Vernunft vor Glauben, entdeckten den Einzelmenschen aus verschiedenen Perspektiven, und ein Erziehungswesen entstand, das zunehmend mehr Menschen erreichen sollte. Staatswesen, die sich formal wie teilweise auch faktisch dem Individuum (als Bürger) und seiner körperlichen wie besitzständischen Unversehrtheit verpflichtet fühlten, wurden etabliert.(5) In den sich entwickelnden Städten und Stadtstaaten versammelten Bürger Geld, steigerten ihre Gestaltungsmacht und gewannen politischen Einfluss.

Individualisierung des Bürgertums bedeutete zunächst immer auch Politisierung, war mithin immer an eine soziale Frage gekoppelt.(6) Politisches Engagement wurde zum Wert an sich und war als politische Selbsttätigkeit Teil des bürgerlichen kollektiven wie individuellen Profilierungsprozesses. Der Wille zur Subordination war ausgeprägt, und Bürger war nur, wer es sich leisten konnte. Die soziale Frage des Bürgertums wurde erfolgreich gestellt (und beantwortet): Gerichtet war sie auf das Eigeninteresse am Produktionsmittelbesitz und die zunehmende Aneignung aller Machtmittel.

Die Assoziationen der Individuen – Vereinigungen, Vereine, später Parteien, wurden trotz aller exklusiven Gewalt als liberal und gemeinwohlorientiert inszeniert. Von den meisten der entstehenden politischen Körperschaften war ausgeschlossen, wer nicht über ein relativ hohes Auskommen durch Produktionsmittelbesitz oder ein höheres Staatsamt verfügte, des weiteren diejenigen, die noch Jahrzehnte nachsitzen sollten, um überhaupt als vollwertige Menschen anerkannt zu werden: Frauen und Juden.(7)

In ganz Europa halfen die Französische Revolution und die sie verlängernden napoleonischen Gewehrläufe nicht nur dabei, die ideellen aufklärerischen Werte zu potenzieren, sondern auch dabei, eine umfassende Liberalisierung der Wirtschaft zu ermöglichen.

Die Versuche der assoziierten Individuen, die politische Handlungsfähigkeit in zentralen staatlichen Handlungsbereichen zu erlangen, scheiterten in Deutschland in der Regel und wurden dadurch kompensiert, dass an Stelle der funktional differenzierten Vergesellschaftung die Vergemeinschaftung zelebriert wurde. An die Stelle einer bürgerlichen Revolution trat das chauvinistische Stelldichein in den Wohnzimmern, auf den Sportplätzen und an den Denkmälern der Nation. Das gescheiterte bürgerliche Individuum tritt nach erfolgreicher Durchsetzung der ökonomischen Interessen (der Besitzstandswahrung und Vermehrung) symbolisch zurück in Reih und Glied des »Volksganzen«. Nachdem die Funktionalität des Konzeptes Individuum erfolgreich getestet war, konnte es repressiv und massentauglich gemacht werden.

 

Ich-Geschichten (II): Massenindividualisierung

Das Massenindividuum ist eines des 19. Jahrhunderts: Es wurde entwickelt unter den Bedingungen des radikalsten Umbruchs, den die Menschheit bis dahin erlebt hatte. Innerhalb von drei Generationen war ein Markt institutionalisiert worden, dessen zentraler Bestandteil das war, was zur Dominante der Lebenswelt der meisten Menschen wurde: Die marktvermittelte, einkommensfixierte und industriell organisierte und tauschwertproduzierende Lohnarbeit. Sie sollte Zentralinstanz der gesellschaftlichen Individualisierung wie der persönlichen Individuation(8) werden, Arbeit wurde von rechts bis links gedacht als »Springquell der Persönlichkeit«.(9) Arbeit wurde dabei als Aneignungsprozess verstanden, als legitime Grundlage zum Erwerb von Eigentum. Arbeit war der Bereich, in dem »Persönlichkeit« entwickelt werden sollte. Ein Individuum war ›wert‹, was es leistete, was es zu besitzen vermochte. Diese Fähigkeiten bildeten, ummantelt von etwas Kultur, den Kern dessen, was unter ›Entwicklung der Persönlichkeit‹ verstanden wurde. »Das Individuum« war dabei nicht nur ideologisches Konstrukt, sondern war objektiv wirkungsmächtig und wahrnehmbar in der kapitalistischen Realität und ihren ökonomischen, juristischen, kulturellen und diskursiven Praxen.

Säkularisierung, Alphabetisierung, Verstädterung und die Kodifizierung von gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen waren mit diesem Prozess der Massenindividualisierung verschränkt, eine faktische Befreiung aus den feudalen Zwängen die Voraussetzung.

Die Massenindividualisierung löste dabei die kleingewerbliche handarbeitliche Produktionsweise und die diese umgebenden Ordnungsschemata der Organisierung von Gemeinden, Familie und Arbeit auf. Produziert wird nun entfremdet für einen abstrakten Markt, der Produktionsprozess selbst wird ohne Feedback des Benutzers des Gebrauchswerts abstrakt in Form von Geld-Ware-Beziehungen. Der abstrakte Markt stellte das ›Gemeinsame‹ dar, in dem sich die Menschen nun als Individuen begegneten. Das Individuum verkörperte das ordnende Strukturmoment des Marktes, und die Sphäre des Tausches war die des Individuums: Tauschen konnte, wer sich als Individuum gegenübertrat. Kollektive Akteure funktionierten dabei – wie etwa im Sinne einer »juristischen Person« – nach den gleichen Regeln.

Der Prozess der Individualisierung bedeutete für Produktionsmittelbesitzende wie für die ProletarierInnen die Stabilisierung der jeweiligen Stellung im Produktionsprozess. Die einen verstanden ihre Individuation als Prozess der Selbstfindung, der Gestaltung und Erkenntnis von Innenleben. Den anderen war die Individuation Bewältigungsstrategie: Die sozialpartnerschaftliche Funktion der ArbeiterInnenbewegung versuchte die Krise der doppelten Freisetzung (frei von Leibeigenschaft etc., frei aber auch von Produktionsmitteln) und Entfremdung durch die Darreichung einer ArbeiterInnen-Identität bewältigen zu helfen. Sie half vergessen, dass das Einzige, was sie hatten – Arbeitskraft – nun Ware war, sie selbst damit untrennbar als Produktionsfaktor verdinglicht waren. Dazu kam Demütigung und Repression, die ›verarbeitet‹ sein wollten.(10)

Dass die Prolls, ein besseres Leben halluzinierend, gerne nachäfften, was die Bourgeoisie vorlebte (Tapeten-, Familien- und Erziehungsmodelle), war von Vorteil, als es darum ging, das Konzept Individuum an den Mann (und später an die Frau) zu bringen. Das Bewusstsein von sozialer Desintegration und die Wahrnehmung des Zustandes, grundsätzlich auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, tat sein Übriges. Auch die Erfahrung der geographischen (weniger die der sozialen) Mobilität, also z.B. Arbeitsmigration in die Städte und die Zentren der industriellen Produktion oder entlang der sie verbindenden und im Entstehen begriffenen Infrastruktur (Eisenbahnen, Kanäle), verschaffte einen ersten Eindruck davon, was es bedeutet, Individuum zu sein.

Die Domestizierung des Menschen unter Fabrikbedingungen, der Exorzismus gegen zählebige vorindustrielle Mentalitäts- und Ordnungsschemata bedeutete eine umfassende Disziplinierung. 1861 wurde der preußische König in einer Krupp-Halle mit den Worten »Majestät, Sie haben eine Leibgarde, ich habe auch eine!« empfangen und die Arbeiter mit dem Kommando »An die Öfen! Abziehen!« an die Produktionsfront gejagt. Eine »kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet« (Marx), war Kern der psychophysischen Zurichtung des Menschen auf Maschinentakt und Produktionsverhältnisse. Und es war eine Zurichtung des Einzelnen. Der Arbeitende war allein verantwortlich dafür, was er (nicht) tat, was er (nicht) schaffte, er wurde alleine getestet, belohnt, bewertet und bestraft. Diese Zurichtung, erprobt in europäischen Irren-, Arbeits-, Zucht und Waisenhäusern, war der effektivste Weg, kapitalistische Basisanforderungen wie Anwesenheit, Pünktlichkeit, Arbeitsfähigkeit und Tüchtigkeit zu erzwingen. Unter beflissenem Zutun des organisierten Proletariats wurde zunehmend ein Arbeitsethos implementiert, welches es zuließ, die Kontrolle der ArbeiterInnen zurückzufahren und dafür eine Kontrolle der Arbeit bezüglich Effektivität auszubauen. Diese Effektivität brachten die ProletarierInnen von der Arbeit nach Hause, um die knappen Phasen der Reproduktion zu strukturieren. Es war ›seine/ihre‹ Zeit geworden, und mit dieser hatte das Individuum verantwortungsbewusst umzugehen, sie nahmen »Zeit als Raum menschlicher Entwicklung« (Marx) wahr und die Verkürzung der Arbeitszeit stand, neben der Forderung nach höheren Löhnen, im Zentrum der sozialen Kämpfe. In allen Auseinandersetzungen, in Lohnkämpfen und Streiks, wurde den Freigesetzten klar, »dass die Willkürherrschaft des industriellen ›Fabrikfeudalismus‹ nicht als Einzelindividuen, sondern nur als Klasse abgewehrt werden konnte«.(11) Da der Kapitalismus das Massenindividuum braucht, jedes einzelne Individuum für die Produktionsmittelbesitzer austauschbar und entbehrlich ist, wird begonnen, die soziale Frage in die richtige Richtung zu treiben.

 

Funktionen des Ichs

Zweifelsfrei lässt es die menschliche Biomasse zu, von Individualität zu sprechen. Dass dafür angeführte Hauptindiz, der Fingerabdruck (zunehmend zusammengespachtelt in seiner genetischen Entsprechung), verweist implizit darauf, in welchem Zusammenhang vor allem angestrebt wird, Menschen zu Individuen zu machen: Der Mensch soll dingfest gemacht werden für sein gesellschaftlich erwünschtes (v.a. Arbeit und Besitzen, Gebären, Herrschen und sich beherrschen lassen) oder nichterwünschtes Handeln (v.a. Gefährdung der (Re-)Produktionssicherheit durch z.B. Mord, Körperverletzung, Raub, Diebstahl oder Widerstand gegen Staatsgewalten).

Die Durchformung eines Individuums, das die Handlungsformen der vorkapitalistischen Zeit überwandt, erforderte in der Durchsetzungsgeschichte Institutionen, die gewährleisteten, dass Verantwortung übernommen wurde. In der Abstraktion der Einbettung des Menschen in Ware-Geld-Beziehung galt es, neue »Formen und Methoden der Introspektion, der Selbstbetrachtung zu entwickeln«.(12) Vor allem für das prekär beschäftigte und lebende Industrieproletariat musste ein System der Affektkontrolle geschaffen werden und eine Instanz, die es trotz der Entfremdung der Arbeitenden gewährleistete, dass Waren und Produktionsmittel sorgsam behandelt wurden.

Im traditionellen Marxismus ist das Individuum die Instanz des Einpassens des Menschen in die Gesellschaft, der Garant für gesellschaftliche Reproduktion und Reproduzierbarkeit. Für die Individuation des Menschen von zentraler Bedeutung ist dabei die Aneignung. Unter kapitalistischen Bedingungen ist dabei die Aneignung der Produktivkräfte »selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten«.(13) Ziel der Individuation im Kapitalismus ist der Versuch, sich »natürliche und menschliche Gegenstände« anzueignen, zu gebrauchen, zu unterwerfen.(14) Vorstellungen einer nicht funktionalistisch verkürzten »revolutionären Aneignung« versuchen dabei (unnötigerweise) das Konzept des Individuums über den Kapitalismus hinwegzuretten.

Die Staatssozialismen überwanden nicht das kapitalistische Individuum, sondern perpetuierten es. Individuen existierten nicht bloß als solche fort, weil sie unter kapitalistischen Bedingungen sozialisiert wurden, sondern weil die zwei für das Individuum konstitutiven Pfeiler erhalten blieben: Eigentum und Lohnarbeit. Die Tauschbeziehungen bestanden fort und diese Form des Wirtschaftens erforderte Individuen, um ihnen Besitz zuschreiben zu können. »Aneignung« bedeutete in diesem Falle, Besitz-Individuuen durch teilweise kollektiv besitzende Individuen auszutauschen. Die Kollektivierung von Individuen schrieb den Kapitalismus fort und verwies nicht auf Kommunismus.

 

Pathologisierung des Ichs – Das Individuum im Sozialstaat

Der sozialstaatliche Kapitalismus reagierte auf die sich im Individuum selbst realisierenden Widersprüche mit regulativen Sozialtechnologien, allen voran denen der Pathologisierung. Mitte der 1980er Jahre stand für diese Regulation ein Heer von PsychologInnen bereit, zwei Drittel von ihnen im öffentlichen Dienst oder finanziert durch die öffentliche Hand. Ihre Aufgabe: präventive Sozialhygiene. Zum verfeinerten kapitalistischen Repressionsapparat gehörte die Antizipation möglicher Abweichung. Die psychologisch durchdrungenen gesellschaftlichen Institutionen wurden zu den Instanzen für die Festlegung dessen, was Normalität und Abweichung (vom individuellen Standardmodell) sei. Habermas beschrieb eine »Therapetokratie«, die ein »Netz von Klientenverhältnissen über die privaten Lebensbereiche ausbreitet«(15) und bedauerte, dass die beschauliche Lebenswelt der Individuen nun von den Medien Geld und Macht durchdrungen würde.

Alles sollte therapiert werden: Der Alltag, soziale Probleme. Alle sozial-regulativ tätigen Berufe eigneten sich eine therapeutische Note an. Der ›universelle Wahnsinn‹ bestand darin, dass der Mensch auch ohne Attestierung einer Krankheit therapiert werden sollte. Der Bedarf an psychohygienischen, kurativen und präventiven Dienstleistungen entstand, weil trotz der Erosionserscheinungen an den gängigen Identitätsbildungsressourcen eben gesellschaftlich vom Einzelnen erwartet wurde, komplexe individualistische Strukturen aufweisen zu können – und zur Kontrolle: »Psychologie, Pädagogik und Fürsorge lösen Gefängnisse und Kerker ab.«(16) Probleme und Krisen sollten als individuell und individuell zu bewältigen verstanden werden. Der Sozialstaat stellte dafür als Service die ›Einzelbetreuung‹.

 

Terror der Identität – Die Ich-Inszenierung als Krisenmanagement

Zu den grundlegenden modernen Individualitäts-Prämissen gehört die Vorstellung, dass Individualität einerseits rational und andererseits schön ist.(17) Identität ist dabei einerseits die ästhetische Veredelung und Außenrepräsentation dieser Vorstellung, andererseits das Feld der Sinnfindung und der Abgrenzung.

Individualität wandelte sich für die Individuen zusehends von einer impliziten bewusstlosen zu einer expliziten ›selbstbewussten‹ Aufgabe. Der erlangte Grad individueller Entfaltung wird inszeniert. Das vom Kapitalismus vorgedachte Instrumentarium ist das der Konsumption. Das Bemühen um die zu erlangende Distinktion, um »authentische Individualität«, ist echte Sisyphosarbeit. An der Aufgabe der »exzentrischen Positionalität« (Plessner) muss der konkurrierend vergesellschaftete Mensch permanent und nicht nur gemessen an den eigenen Ansprüchen scheitern – wenn auch auf teilweise hohem Niveau. Die Gesellschaft, in der der Einzelne sich sichtbar in Wert setzen muss, ist ihm bei den Strafexpeditionen in sein (vermeintliches) Inneres behilflich, und gefunden wird in der Regel, wonach auch gesucht wurde – in der Regel durch Ausbeutung, in der Regel durch vorherige Implementierung einiger Skills – mehrwerterzeugende Arbeitskraft.(18)

Im Prozess der Selbstkonturierung stellt die Gesellschaft ein Set zum Profildesign zu Verfügung: Die Zurichtung erfolgt als kostenlose (vermittelt z.B. durch Eltern, PartnerInnen, LehrerInnen, PolizistInnen), getauschte (ArbeitgeberInnen) oder legitim erkaufte Dienstleistungen (TherapeutInnen, TrainerInnen).

Die Referenzgröße (ex negativo) der Individuation ist die Masse. Das Abheben von ihr ist Ziel der erfolgreichen Distinktion, teilweise gesteigert in eine Verachtung des ›Normalen‹, des Durchschnittlichen. Das Wettrüsten im Distinktionskrieg der ›der Masse‹ zu entfliehen suchenden Individuen (derer, die es sich leisten können zwischen Möglichkeiten zu wählen) hat zu einem Gleichgewicht des identitären Schreckens geführt. Der Modus der Individualisierung ist reguliert durch Normierungsdruck. In diesem Sinne wurde Individualisierung als das Normale erzwungen, gleichzeitig aber individualistischer Wildwuchs verhindert. Das elaborierte Verachten der Masse wurde historisch vorexerziert durch die Arroganz des sich emanzipierenden Bürgertums, durch die Zelebrierung des Übermenschen bei Nietzsche, im letzten Jahrhundert durch Le Bons Psychologie der Masse, Ortega y Gassets Aufstand der Massen und Canettis Masse und Macht. Die Kritik der Masse steht dabei in einem Gefüge mit der Ablehnung von Kollektivität und in zwingend ablehnender Haltung gegenüber universellen Emanzipationsvorstellungen, solchen nämlich, die darüber hinausgehen, Menschen als Individuen zu ›emanzipieren‹.(19)

 

Das Ende der Einsamkeit

Mit der Diffusion des Konzeptes Individuum in die Massengesellschaft wuchs auch die Kritik, die Gefahren für den gesellschaftlichen (Re-)Produktionsfrieden heraufziehen sah: Diese als Korrektiv im Individuums-Diskurs unter kapitalistischen Bedingungen dienenden Einwände diffamierten die Individualisierung als die Zerstörung des sozialen Zusammenlebens. Es sind ebendiese KritikerInnen, die mittels Konstruktionen wie der Zivilgesellschaft vermeintlich andere Wege gehen wollen bei der Modernisierung des Kapitalismus.

Dem gegenüber bedeutet aber auch der Versuch, die Linke auf das Individuum einzuschwören, egal ob im Gewande einer Einforderung des Rechts auf »Differenz« oder auf »Chancengleichheit«, der Ideologie von Individuum und Identität aufzusitzen.(20) Im ersten Fall geht es um die explizite Legitimation individueller Festschreibung und die Bewertbarkeit von ›Unterschieden‹, im zweiten Fall wird als soziale Frage präsentiert, was lediglich bürgerliche Konkurrenz-Ideologie ist.

Der Nationalsozialismus kann weniger als Beweis für die Notwendigkeit der Individualisierung ins Feld geführt werden, sondern vielmehr als Beispiel einer falschen, nichtemanzipativen Deindividualisierung. Der Nationalsozialismus arbeitete intensiv mit den Mitteln dieser symbolischen und faktischen Deindividualisierung. Das einzig legitime Individuum bildete der Führer, einem als Körper und Gemeinschaft gedachten, inszenierten und praktizierten ›Volksganzen‹ vorstehend. Das Leitbild bildete die überindividuelle Figur des neuen faschistischen Menschen.(21) Tendenzen der tatsächlichen Aufhebung mussten dabei in die ›falsche‹ Richtung gehen: hin zur Volksgemeinschaft, in ihr der Wahn von Reinheit und Ungestörtheit und die Entschlossenheit, diese Zustände durch Säuberung zu erzwingen. Grundsätzlich blieb das Konzept des Individuums wirkungsmächtig in der Exklusionsgewalt, in seiner Kontrollfunktion und in seinen Eigenschaften der Organisierung von Besitz und Lohn.

Die Marginalisierten waren, unabhängig von Modernisierungsfunktionen, die sie damit implizit übernahmen,(22) nur dann ›erfolgreich‹, wenn sie ihre Bedürfnisse als kollektive erkannten und politisch zu verlängern wussten sowie damit Vereinzelung als Herrschaftsfunktion temporär brechen konnten. Sie waren erfolgreich im Sinne von größerer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Wurde diese zwar kollektiv erkämpft, blieben die Einzelnen dabei motiviert von den Vorstellungen des individuellen Glücks. Das organisierte Proletariat legitimierte dies und half dabei die bürgerlichen Vorstellungen vom individuellen Glück ›herunterzubrechen‹. Die Vorstellungen von Kollektivität waren die der Kollektivität der individuellen Bedürfnisse. Im Kollektivgedanken wurde das Individuum (als neuer sozialistischer Mensch) weitergedacht. Die Erziehung zum Sozialismus sollte es leisten, die Suche nach dem individuellen Glück zu leiten. Gewünscht werden musste, was die Gesellschaft bereitzustellen in der Lage war.

Eine Perspektive des Zusammenhandelns zur ›Beantwortung‹ der sozialen Frage wäre daran gebunden, die strukturelle Verkürzung der Kritik am Kapitalismus, nämlich ohne die Bereitschaft, die zentrale Herrschafts- und Organisationsform ›Individuum‹ zu dekonstruieren, aufzugeben. Adorno hat in der Negativen Dialektik die Herrschaftsfunktion der Konstruktion einer Welt der Individuen analysiert: »Die Welt wie sie ist wird zur einzigen Ideologie und die Menschen deren Bestandteil. Auch darin noch waltet dialektische Gerechtigkeit: Sie ergeht übers Individuum, den Prototypen und Agenten einer partikularistischen und unfreien Gesellschaft. Die Freiheit, auf die es für sich hoffen muß, könnte nicht bloß seine eigene, sie müßte die des Ganzen sein. Kritik am Individuum führt über die Kategorie der Freiheit soweit hinaus, wie diese nach dem Bilde des unfreien Individuums geschaffen ist«.(23)

 

Fußnoten:

(1) Manager-Magazin 3 (2003).

(2) Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Bundesarbeitsblatt 3 (2003).

(3) Tom Peters, Reinventing Work: The Brand You, New York 1999 (Deutsch: Selbstmanagement. Machen Sie aus sich eine Ich-AG, München 2001), Auslassungen im Original.

(4) Die analytische Überakzentuierung der Eliten beim Narrativ vom Individuum liegt zum einen im ideengeschichtlichen Faible der Historiographie begründet und zum anderen in der systematischen Verwechslung von Quellenlage und Wirklichkeit (einer nämlich, in der nur wenige die Chance hatten, deutliche Spuren zu hinterlassen).

(5) Richard v. Dülmen, Die Entdeckung des Individuums, 1500-1800, Frankfurt/M. 1997.

(6) In Deutschland war die politische Durchschlagskraft des Bürgertums gering.

(7) Das Curriculum für dieses (auf Dauer gestellte) Nachsitzen versuchten in Deutschland zu liefern: Christian Wilhelm von Dohm (Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/ 1783)) und Theodor Gottlieb von Hippel (Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792)). Das menschliche Inventar des globalen imperialistischen Kolonialwarenladens wurde nicht als Teil einer politischen Sphäre wahrgenommen.

(8) Durckheim beschreibt mit ›Individualisierung‹ einen gesellschaftlichen Prozess, mit der ›Individuation‹ die Realisierung dieses Prozesses im und durch den einzelnen Menschen. Zusätzlich sei hier unter ›Individualisierung‹ eine Herrschaftsstrategie verstanden.

(9) Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Berlin 1972.

(10) Die aufklärerischen Ideologien von der »vita activa« à la Locke (»Leben als Experiment«) oder Hume, entwickelt in Abgrenzung von den stärker religiösen Vorstellung der »vita contemplativa«, legitimierten nun, dass Menschen zu Anhängseln von Maschinen geworden waren.

(11) Margit Grabas, Individuum und industrielle Arbeit, in: Richard v. Dülmen (Hrsg.), Entdekkung des Ich – Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001

(12) Max Fuchs, Persönlichkeit und Subjektivität – Historische und systematische Studien zu ihrer Genese, Opladen 2001.

(13) Karl Marx u. Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Dies.: Werke, Band 3, Berlin (-Ost) 1969.

(14) Roland Voigtel, Zum Verhältnis von bürgerlicher Ökonomie und privater Individualität – Kritik der »Kritischen Psychologie« (Diss.), Berlin 1984.

(15) Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns – Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Bd.2, Frankfurt/M. 1981.

(16) Christoph Sachße u. Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung – Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt/M. 1986.

(17) Gerhard Schulze, Inszenierte Individualität – Ein modernes Theater, in: Dülmen, a.a.O.

(18) In Fällen, wo diese dysfunktional wurde (z.B. bei Massenarbeitslosigkeit), tut es auch ein saftiges Stück Kontrollmasse.

(19) In den postmodernen Identitätsideologemen ist vieles unklar; gesichertes Terrain scheint aber zu sein, dass »die Identität heute zu einem frei gewählten Spiel wird, einer Theateraufführung des Selbst« (Douglas Kellner, Popular Culture and Constructing Postmodern Identities, in: Scott Lasch u. Jonathan Friedman (Hrsg.), Modernity and Identity, Oxford 1992), – jenseits von Ressourcen, jenseits von Restriktionen. Wäre es dem modernen Individuum darum gegangen, Identität zu konstituieren, so wäre das Ziel der postmodernen identitären Existenz (auch hier wird der Einfachheit halber alles Materielle zurückgelassen), »die Festlegung zu vermeiden und sich die Optionen offen zu halten« (Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen – Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1995). Analysiert Bauman richtig, dass Identität in der Moderne dazu gedient habe, die Lösung gesellschaftlicher Probleme (die im Interesse der Erhaltung von Machtverhältnissen ungelöst bleiben) an das Individuum zu delegieren, folgert er falsch, dass dieses dadurch in die Arme von Trainern, Ausbildern und Führern getrieben werde und hofft dann konsequent falsch, aber aufrichtig weiter, dass diese Risiken mit den fluiden Identitätskonzepten der Postmoderne gebannt worden seien.

(20) Paolo Flores d\'Arcais, Die Linke und das Individuum – Ein politisches Pamphlet, Berlin 1997.

(21) Die Faschisierung der sozialen Frage war dabei ganz und gar identitär organisiert: Dem ›Volksganzen‹, der Volksgemeinschaft – mit ausdifferenzierten (Vor-)Bildern vom neuen faschistischen Menschen – wurde unter Nivellierung sozialer Widersprüche zugunsten eines kollektiven Vernichtungsprogramms mit ›dem Juden‹ ein generell Anderer gegenüber gestellt und in einer Radikalität entmenschlicht, die jenseits aller Vorstellungen von Rationalität liegt.

(22) Es bedarf dem im Kern asozialen, geschichtsblinden wie naiven Zynismus der sogenannten ›Kritik-Fraktion‹, um dies zum Vorwurf steigern.

(23) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966.

Phase 2 Leipzig