Der Irak-Krieg ist vorbei, die Großdemonstrationen finden nicht mehr statt und die bunten Pace-Fahnen sind kaum mehr zu sehen. Mit dem Kriegsende scheint die aktuelle Friedensbewegung genauso schnell von der Bildfläche verschwunden zu sein, wie sie zuvor entstanden war. Da jedoch davon auszugehen ist, dass die radikale Linke auch in Zukunft mit solchen Formen von »Bewegungen« konfrontiert sein wird, halten wir es für notwendig, die Diskussion um die Möglichkeiten der kritischen Intervention weiterhin zu führen – Anlass dafür bieten auch die in der Phase 2 vertretenen Positionen, die einer solchen Interventionspolitik ablehnend gegenüberstehen.
Kritikebenen
Schon vor und insbesondere während des Irak-Krieges erhielt die grundsätzliche Frage, wie mit einem derartigen bürgerlichen Massenprotest umzugehen sei, erneut Relevanz. Die radikale Linke sah sich plötzlich mit hunderttausenden DemonstrantInnen konfrontiert, die – im Gegensatz zur früheren Friedensbewegung der achtziger Jahre – nicht gegen, sondern mit der (und in vielen Fällen für die) Bundesregierung marschierten. Doch auch ohne die Beteiligung der regierenden Parteien wurde schnell deutlich, dass es sich nicht unbedingt um progressive Demonstrationen handelte. In weiten Teilen der Friedensbewegung waren antiamerikanische und antisemitische Positionen verbreitet, die eine deutliche Gegenwehr erforderten. Für eine emanzipatorische radikale Linke, die den Irak-Krieg nach wie vor ablehnt, ergaben sich daraus zwei Ebenen der Kritik und damit einhergehende Schwierigkeiten in der politischen Praxis. Einerseits galt es (und gilt es selbstverständlich nach wie vor), diejenigen auszuschließen, die in den USA und Israel ihre Hauptfeinde sehen und deren Antikriegspositionen sich aus antiamerikanischen und antisemitischen Ressentiments speisen. Andererseits stellte gerade die Situation, in der die Bundesregierung zur treibenden Kraft der Proteste wurde, ein weiteres praktisches und taktisches Problem dar. Eine linksradikale Antikriegsposition, die ernst genommen werden wollte, musste eine deutliche Absage an dieses »Bündnis« und damit einhergehend eine grundlegende Kritik an der vermeintlich pazifistischen, tatsächlich jedoch deutsch-nationalistischen Position der Regierung und ihrer UnterstützerInnen formulieren.
»Soviel Gewaltbereitschaft und hasserfüllte Gesichter habe ich noch nie gesehen«(1)
Wie in allen anderen deutschen Städten gab es auch in Göttingen bereits vor Beginn des Irak-Krieges Demonstrationen gegen den sich immer deutlicher abzeichnenden anglo-amerikanischen Militärschlag. Die Frage stand damit im Raum: Wie würde der »Tag X« in Göttingen verlaufen; welche politischen Interventionsmöglichkeiten waren angesichts der bereits stattgefunden Großdemonstrationen wie im Februar diesen Jahres in Berlin, bei denen antinationale und antikapitalistische Kräfte fast überhaupt nicht wahrnehmbar waren, gegeben? Konnte trotz dieser Eindrücke und der Befürchtung, dass antiamerikanische und antisemitische Positionen auch in Göttingen möglicherweise hoffähig wären, eine kritische Position, wie sie die Autonome Antifa [M] in ihrem Flugblatt zum Irak-Krieg formuliert hat, auf Resonanz hoffen, geschweige denn den Ausdruck der Antikriegsproteste dominieren? Der erste Testlauf ließ nicht lange auf sich warten: Etwa zwei Wochen vor Beginn des Militärschlags demonstrierten in Göttingen über tausend Menschen gegen den bevorstehenden Krieg, darunter zahlreiche SPDlerInnen und GRÜNE. Im Rahmen einer Kampagne mit dem Motto »Regierung Hau ab!«, deren Ziel es war, den Konflikt zwischen Friedensbewegten, VertreterInnen von Rot-Grün und linksradikalen KriegsgegnerInnen zuzuspitzen, traten auf derselben Demo drei als Bundeswehrsoldaten verkleidete Personen mit einem gefakten Transparent der Regierungsparteien auf und verteilten Flugblätter der Autonomen Antifa [M]. In diesen wurde die radikale Linke aufgefordert, einen klaren Trennstrich gegenüber »Deutschtümelei, Regierungsunterstützung oder dumpfem Antiamerikanismus« zu ziehen. Das einzige antisemitische Transparent auf dieser Demo musste übrigens aufgrund der Intervention von AntifaschistInnen eingepackt werden. Die von der Autonomen Antifa [M] vertretene Strategie, im Bezug auf den »Tag X« eine Spaltung der linken Szene von dem durch den örtlichen DGB-Vorsitzenden Wertmüller(2) einberufenen Bündnis und den darin vertretenen Regierungsparteien einzufordern, verlief letztlich erfolgreich. Während der DGB und die Regierung am »Tag X« ihre Kundgebung abhielten, packten sie nach Eintreffen des Lautsprecherwagens brav ihre Parteifahnen ein und überließen der radikalen Linken bereitwillig das Feld. Die anschließende Demonstration wurde inhaltlich von linksradikalen Kräften dominiert, allerdings gab es natürlich auch hier Kontroversen über die politische Ausrichtung. Dennoch war es unproblematisch einen Redebeitrag zu verlesen, der antiamerikanische und nationalistische Positionen in der Friedensbewegung kritisierte. Ein von den GRÜNEN angemeldeter Schweigemarsch fiel angesichts angekündigter Störaktionen ins Wasser. Einen Tag später fand in Göttingen eine SchülerInnendemonstration statt, die die »Antifaschistische Jugend Göttingen« (AJG) organisiert hatte und an der sich etwa 1500 SchülerInnen beteiligten. Die inhaltliche Ausrichtung war deutlich. Sowohl in ihrem Redebeitrag als auch in dem Aufruf erklärte die AJG Deutschland zum Hauptfeind, verurteilte das Baath-Regime als »faschistisch« und setzte sich kritisch mit Antiamerikanismus, Antisemitismus und Nationalismus innerhalb der Friedensbewegung auseinander. Während der gesamten Demonstration distanzierten sich die RednerInnen von Rot-Grün, das Büro der GRÜNEN wurde von DemonstrantInnen mit Eiern und Parolen, die sich gegen die grüne Außenpolitik richteten, verziert. Die SchülerInnen zeigten sich konfliktfreudig, obwohl einige von ihnen Schwierigkeiten hatten, die Demonstration überhaupt zu erreichen, weil Lehrkräfte und wild gewordene Hausmeister versuchten, sie in den Schulen einzusperren. In den folgenden Wochen gab es immer wieder Antikriegsproteste, die sich deutlich von nationalistischen und Pro-Regierungspositionen abgrenzten. Eine Besetzung des örtlichen SPD-Büros wurde ebenso mit einer Kritik an der deutschen Außenpolitik und den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands verbunden, wie die kurzzeitige Blockade des Linos-Konzerns in Göttingen, der sich an Rüstungsgeschäften beteiligt. In diesem Zusammenhang wies die Gruppe »UNPOWER« in einem Flugblatt auch auf die Beteiligung deutscher Firmen an der Aufrüstung des Irak hin.(3)
Was geht (nicht)?
Wenn nun das BgR(4) in seinem Papier behauptet, dass es der Friedensbewegung immer nur darum gegangen sei, »Deutschland (und teilweise Europa) als Gegenmodell zur amerikanischen Hegemonie zu präsentieren« bleibt offen, wer denn nun die Friedensbewegung ist? Waren die SchülerInnen in Göttingen die Friedensbewegung oder stellt sich nicht vielmehr Frage, ob die Motivationen der DemonstrantInnen mindestens ebenso heterogen waren, wie die Bewegung selbst? Selbstverständlich bleibt unklar, inwieweit die etwa von der AJG vertreten Positionen unter den DemonstrantInnen mehrheitsfähig waren und es gibt auch keine Garantie dafür, dass niemand dort antiamerikanische, antisemitische und/oder nationalistische Positionen vertreten hat, hätte jemand sie/ihn befragt. Eine derartige Garantie gibt es jedoch bei keiner Demonstration. Bleibt noch die Frage nach der Rezeption. Tragen die in Göttingen gesetzten Akzente vor dem Hintergrund einer Massenbewegung, bei der die hier geschilderten Ansätze absolut marginal waren, überhaupt etwas aus? Die Berichterstattung in Göttingen war jedenfalls ambivalent. Während das »Göttinger Tageblatt« die Spaltung am »Tag X« verschwieg, erwähnte das Anzeigenblatt »Extra Tip« immerhin, dass Parteifahnen nicht zugelassen wurden. Die SchülerInnendemo zog eine wochenlange Diskussion nach sich und einzelne AktivistInnen waren anschließend mit Repressionen verschiedenster Art konfrontiert. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Zivilgesellschaft nur solange funktioniert, wie ihr Konsens nicht durchbrochen wird. Proteste, die einen Angriff auf die Bundesregierung implizierten, waren auch von friedensbewegten LehrerInnen ebenso wenig erwünscht, wie Aktionen, die sich nicht auf das Herumlatschen beschränkten. Es mag sein, dass die Situation in Göttingen eine Ausnahme darstellte – sofern dies der Fall ist, bietet sie immerhin Anlass, die Absage an eine Politik der kritischen und offensiven Intervention zu überdenken. Auch wenn die Bedingungen in einer kleinen Stadt wie Göttingen ganz andere sind als etwa in Berlin oder Leipzig, zeigen die geschilderten Erfahrungen die Möglichkeiten auf, die eine radikale Linke in einer solchen Situation hat und nutzen sollte.
Fußnoten:
(1) Zitat von Birgit Zuse, Lehrerin am Göttinger Felix-Klein-Gymnasium (FKG), nachlesbar im »Göttinger Tageblatt« vom 27.3.2003.
(2) Die LeserInnen werden an dieser Stelle vielleicht stutzen. Moment, ist der antideutsche Vorkämpfer doch in einer Gewerkschaft, führt er gar ein skandalöses Doppelleben? Hat er einen zweiten Wohnsitz in der heimeligen niedersächsischen Kleinstadt? Nein, nein, keine Sorge. Es dreht sich hier um den engen Verwandten des großen Bellizisten und Autors einer allseits bekannten Zeitung mit dem Namen einer Südseeinsel.
(3) UNPOWER (Unabhängiges Nichtnationales Projekt zur Organisierung von Widerstand, Entwaffnung und gegen Regierungsgewalt) erklärte in dem Flugblatt: »Die Linos AG produziert optische Zielsysteme für Lenkwaffen, die wahrscheinlich auch im aktuellen Krieg gegen den Irak zum Einsatz kommen (...) Neben den eigenen schmutzigen Geschäften ist die Linos AG auch noch ein Tochterunternehmen von Carl Zeiss. Zeiss belieferte in den achtziger Jahren den Irak mit Waffentechnik. Nach dem irakischen Rüstungsbericht an die UNO waren damals insgesamt 80 deutsche Firmen an der Aufrüstung des Krieg führenden Diktators Saddam Hussein beteiligt (...)« Ein Sprecher der Linos- AG gab daraufhin zu, dass die Herstellung von militärisch nutzbaren Bildverarbeitungssystemen sechs Prozent des Umsatzes ausmache.
(4) Vgl. Beitrag des Bündnis gegen Rechts (BgR) Leipzig; »Das Projekt Zivilgesellschaft. Ziviles Engagement als Leitkultur« in dieser Ausgabe der Phase 2.
Phase 2 Göttingen