Blinded by the light
Über den Zustand der Aufklärung
Eigentlich gab es bereits genug Gründe, sich in einem Schwerpunkt der Phase 2 mit dem Begriff der Aufklärung auseinanderzusetzen, Ordnung zu stiften in einem Dickicht aus historischen und politischen Bezügen und darzulegen, was gemeint ist, wenn davon gesprochen wird, »aufzuklären«. Ist nicht gerade Aufklärung, der es vor allem um die öffentliche Freiheit und das öffentliche Glück ging, das Programm einer an einer befreiten Gesellschaft interessierten Zeitschrift? War nicht die Linke vor allem der Aufklärung verpflichtet, wenn sie sich mit Karl Marx auf die Fahnen schrieb, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« und damit das, was Immanuel Kant noch in den Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates dachte, über sich hinaus zu treiben? Nein, Immanuel Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784) feiert kein rundes Jubiläum, zumal den Text, der längst in den Rang eines Gründungsdokuments der grob auf das 18. Jahrhundert datierten Aufklärung und der mit ihr verbundenen Werte erhoben wurde, zum Zeitpunkt seines Erscheinens nur ein Bruchteil der Bevölkerung lesen konnte. Weniger als ein Viertel der Bevölkerung lebte überhaupt in urbanen Zentren, das Bürgertum war eine Minderheit und die Zahl der aktiv Lesenden lag bei etwa einem Prozent. Doch auch wenn das heute anders ist, lassen sich Marx und Kant kaum mehr als hilflos-appellativ zitieren, wenn Tausende von Menschen sich tatsächlich ihres eigenen Verstandes bedienen und die Grenzen jener failed states überqueren, in denen sie unterjocht und verfolgt werden oder man sie schlicht verhungern lässt. Sie fliehen in Richtung jener Gemeinwesen, in denen sie sich Freiheit, Sicherheit und ein bescheidenes Auskommen erhoffen – so sie es denn bis dorthin schaffen und nicht vorher Opfer einer europäischen Grenzpolitik, die die Toten im Mittelmeer billigend in Kauf nimmt, und immer unduldsamerer Staaten werden. Was hilft die Forderung nach einem Ausgang aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wenn die Zahl der brennenden Erstaufnahmestätten beständig steigt, »besorgte« BürgerInnen sich partout nicht aufklären lassen wollen oder wenn – etwas weiter von der eigenen Haustür entfernt – in Jerusalem und Tel Aviv jedes Warten an der Bushaltestelle tödlich enden kann und deutsche Zeitungen nicht vor der Überschrift zurückschrecken: »Palästinenser sterben bei Messerattacken auf Israelis«? Wenn es das Ziel der Aufklärung ist, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schreiben, »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen«, scheint sie momentan weit von diesem Ziel entfernt. All das wären ausreichend Gründe gewesen, sich dem Begriff der Aufklärung zu widmen, ihren Verfall sowie die Tendenz zu reflektieren, ihren eigenen Gegenpart hervorzubringen; oder – wie Blair Taylor in seinem Beitrag – zu fragen, warum es gerade Linke sind, die beispielsweise einer französischen Satirezeitschrift die Solidarität versagten, weil ihnen die Kritik einer als eurozentrisch und imperialistisch diffamierten Aufklärung über alles geht, die sich von dem Stück Universalismus und Individualismus, das die Linke in ihren besten Momenten einmal auszeichnete, abgewandt haben und stattdessen, ob wissentlich oder nicht, einem Programm der Gegenaufklärung folgen. Weiter…