In der Serie Chuck heißt es in einer Rückblende in die 1990er, als die Hauptfigur sich vom Computerspieler zum Informatik-Studenten aufschwingen muss: »The Next Millenium belongs to the geek«. Als die Episode Mitte der 2000er ausgestrahlt wurde, war dieses Narrativ längst Wirklichkeit geworden und retrospektiv lassen sich zahlreiche kulturelle, ökonomische und politische Entwicklungen darin einschreiben. Nina Scholz unternimmt diesen Versuch im vierten Band der Reihe »Texte zur Zeit.« Sie beschreibt die Genealogie des Nerds, eher nebenbei auch die des häufig synonym gebrauchten Begriffs Geek, und blickt zuletzt auf Piraten und Hacker, die in der politischen Sphäre fortsetzen, was die popkulturellen Zeichen signalisierten: Den Aufstieg des Nerds vom Außenseiter zum neoliberalen Role Model.
Nicht nur die Präsenz an kulturellen Artefakten, die sich um Nerds drehen, wie Big Bang Theory oder die permanenten Marvel-Verfilmungen, zeugen von diesem Wandel. Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse werden längst von den Nerds bestimmt. Bereits der Film Revenge of the Nerds von 1984 offenbart, wie wenig sie als emanzipatorische Role Models taugen. Sie wollen das Gleiche wie ihre Kontrahenten, die Jocks: Im Film das blonde College-Girl, im echten Leben Anerkennung und finanziellen Erfolg. Wie aus dieser College-Komödie Realität wurde, illustrierte schließlich das Mark-Zuckerberg Biopic The Social Network über die Entstehung von Facebook. Während die Jocks als die Sportfanatiker noch Ausdruck einer fordistischen Produktionsweise waren, in der diejenigen, die keine Profi-Football-Karriere begannen, Sport immer noch in ihrer Freizeit als Ausgleich zu den Büro- und Fabrikjobs pflegten, verkörperten die Nerds die gelungene postfordistische Verbindung von Arbeit und Freizeit: Die Skills, die sie sich mit ihrem ehemals subkulturellen, inzwischen selbstverständlichen Wissen über Comics, Filme und vor allem Computer erwarben, sind zu Primärtugenden des neuen Geistes des Kapitalismus geworden: Kreativität, Flexibilität, Vernetzung (no pun intended) und die Verinnerlichung des Imperativs, gerne zu arbeiten. Von den Fanboys, die sich auf Klingonisch unterhalten, sind sie zu perfekten Prosumern geworden, die mittlerweile auch Programmier- und Geschäftssprachen beherrschen: Auf dem einstigen Insidertreff Comic-Con, in den sozialen Netzwerken oder in den euphemistisch Creative Spaces genannten Büros sind sie gleichermaßen Konsumenten und Produzenten.
Diese Dialektik aus subkulturellem Siegeszug und kapitalistischer Verwertungslogik droht eine wesentliche Kritik zu verdecken: »Die erneuerte Kapitalismuskultur nimmt nicht alle mit, egal wie locker sie daherkommt, vielmehr bleibt die Funktion der Nerds als Gatekeeper einer weißen, männlichen und westlichen Leistungsgesellschaft bei aller integrativen Kraft erhalten«. Leider sind derart klare und kritische Passagen in dem dünnen Band rar, meist geht Scholz deskriptiv vor. Das ostentative »Das ist der Nerd« nimmt tautologisch die mediale und größtenteils popkulturelle Konstruktion und Stereotypisierung des Nerds auf. Die kulturellen, ökonomischen und politischen Sphären werden dabei beinahe getrennt betrachtet. Auf die Darstellung des Aufstiegs der Nerds in der Popkultur folgt immerhin eine dezidierte Kritik, wie sehr die »Nerdhegemonie« von weißen Männern und entsprechend Sexismus dominiert wird. Auch im folgenden Kapitel über die Entwicklung der kalifornischen Ideologie von einer Subkultur, gar einer vermeintlichen Gegenkultur, die den »coolen Kapitalismus« proklamiert, zum ökonomischen Primat im Silicon Valley wird diese Kritik gegen die sexistische Darstellung der wenigen Frauen in Führungspositionen artikuliert. Scholz betont hier jedoch zu Recht den elitären und neoliberalen Charakter dieser Debatte. Zuletzt wendet sie sich den Piraten und Hackern und damit der politischen Sphäre zu. Erneut übernimmt sie die Zuschreibung des Nerdstatus’ aufgrund der medialen Darstellung und Rezeption dieser Computerspezialisten, die ihre häufig diffuse Agenda von Urheber- und Datenschutzrechten zumindest kurzzeitig erfolgreich in europäische Parlamente trugen. Wieder bleiben die Frauen außen vor: Das Piraten-Konzept vom Post-Geschlecht mag für Avatare genügen, tatsächlich verdeckt es reale Unterdrückungsmechanismen und übersieht, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auch das digitale Bewusstsein bestimmen.
Es mag dem Format der Reihe geschuldet sein, dass mit der akribischen und mikrologischen Fokussierung auf ein Objekt – die Nerds – dieses monokausal als Erklärungsmuster für einen zentralen gesellschaftlichen Wandel herhalten muss, den es produzieren würde. Gleichwohl verdeckt dieser Blick die umgekehrte Makroperspektive, nach der die Menschen zwar ihre eigene Geschichte machen würden, aber nicht unter selbstgewählten, sondern abhängig von den bestehenden Umständen, die auch die Nerds hervorbringen.
Chris W. Wilpert
Nina Scholz: Nerds, Geeks und Piraten. Digital Natives in Kultur und Politik, Texte zur Zeit, Band 4, Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2014, 116 S., € 9,90.