Die Erfahrungen eines gemeinsamen Staates und die des kriegerisch ausgetragenen Zerfalls der Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) haben sich unweigerlich in das Bewusstsein der Ex-JugoslawInnen gebrannt. Besonders die Kriege der 1990er Jahre scheinen für die postjugoslawischen Staaten prägend gewesen zu sein. Die Zusagen der EU-Mitglieder Kroatien und Slowenien, Flüchtlinge, die die »Balkanroute« wählen – anders als Ungarn – passieren zu lassen, ist durchaus als Konsequenz dieser Geschichte zu begreifen. Auch Aleksandar Vu?i?, Ministerpräsident des bis dato lediglich EU-Anwärters Serbien, sprach angesichts der Grenzschließung Ungarns davon, dass die »europäische Solidarität« in Gefahr sei. Dass Kroatien bereits einen Tag nach der Schließung der ungarischen Grenzen die völlige Überforderung mit der Situation bekannt gab, steht dabei auf einem anderen Blatt. Auch bedarf es einer gehörigen Portion politischer Naivität zu glauben, dass Kroatien und Slowenien aus reiner Menschlichkeit Flüchtlinge passieren lassen und nicht etwa in dem Bewusstsein handeln, dass die Flüchtlinge nicht vorhaben in diesen Ländern zu bleiben. Dennoch ist die Fluchterfahrung Zehn-, gar Hunderttausender während der Kriege der 90er sicher nicht spurlos an den Staaten Ex-Jugoslawiens vorbeigegangen.
Genau an dieser Schnittstelle zwischen jugoslawischer Vergangenheit und europäischer Zukunft setzt Tanja Petrovi?s Buch Yuropa an. Im ersten Abschnitt des zweigeteilten Bandes widmet sich Petrovi? einer europäischen Identität, erläutert wie sich diese konstituiert und legt ihren Blick auf das ehemalige Jugoslawien dar. Dabei diskutiert die Autorin eingangs vor allem die Begrifflichkeiten, mit denen versucht wurde und wird jenen geographischen Raum zu beschreiben, sowie deren politischen Gehalt. So ist jene
Terminologie immer Ausdruck aktueller politischer Verhältnisse gewesen. Petrovi? weist etwa darauf hin, dass der in den 90er Jahren gebräuchliche Begriff »Südosteuropa« im Sprachgebrauch der EU-PolitikerInnen allmählich durch den des »Westbalkan« abgelöst wurde, um das negative Bild einer Region ethnischer Konflikte und failed states in der Phase des Zerfalls der 1990er abzustreifen und die »Rückkehr« der postjugoslawischen Staaten in das Haus Europa kenntlich zu machen. Dabei macht sie auch den Transfer jener Terminologie von der EU-Politik in die Länder Ex-Jugoslawiens
deutlich, der sich jedoch vollzieht, um sich vom Westbalkan und damit von den ihm zugerechneten Staaten abzugrenzen und eine Differenz deutlich zu machen, etwa dann, wenn Slowenien einen »Entwurf von Richtlinien für die Gestaltung der Beziehungen der Republik Slowenien und den Ländern des Westbalkan« ausarbeitet. Die Analyse des Sprachgebrauchs der EU im
Kontext Ex-Jugoslawiens wie auch der jeweiligen Länder ist zugleich
Ausgangspunkt für die Frage, wie anhand der verwendeten Begrifflichkeiten das Entstehen einer europäischen Identität in den Gesellschaften des Westbalkans deutlich wird.
Der zweite Teil widmet sich stärker der jugoslawischen Vergangenheit, behält dabei jedoch die sprachanalytische Perspektive des ersten bei, und so zeigt Petrovi? erneut am Beispiel Sloweniens das Abgrenzungsbedürfnis, das in der Verwendung des Begriffs »Westbalkan« zu Tage tritt. So diene dieser nicht nur dazu, sich von seinen Nachbarn abzugrenzen, sondern auch dazu, sich von der eigenen sozialistischen Vergangenheit zu distanzieren. Petrovi?s eigene Position und ihr daraus resultierender Sprachgebrauch wirken jedoch an einigen Stellen selbst recht antiquiert. Etwa wenn sie jene Teile der postjugoslawischen Gesellschaften, die sich positiv auf das sozialistische Erbe beziehen, gegen den Angriff verteidigt, diese wären Nostalgiker, die die 90er Jahre verdrängten und den Vorwurf gegen die Angreifer selbst wendet. Der Bezug auf das sozialistische Jugoslawien sei viel mehr Ausdruck des Willens die Verbrechen während der Auflösung der SFRJ aufzuarbeiten und sich auf die ehemals gemeinsamen Werte von Solidarität und Antifaschismus zu beziehen. Petrovi? verfällt hier jedoch ihrerseits einer Jugonostalgie und übersieht, dass der Untergang des sozialistischen Jugoslawiens bereits in den 1980er Jahren einsetzte. Einzig Tito hielt als Integrationsfigur und durch Repression einen Staat zusammen, dessen Bevölkerung unmittelbar vor der Staatsgründung gegeneinander kämpfte. So konnte die jugoslawische Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg nur dadurch befriedet werden, dass es keine Aufarbeitung der Verbrechen gab, die an den mehrheitlich serbischen Gefangenen im von der kroatischen Ustascha betriebenen Konzentrationslager Jasenovac begangen wurden. Dennoch tut dies dem Wert des Buches keinen Abbruch. Vor allem, weil Ex-Jugoslawien auch auf der politischen Landkarte der Linken nach wie vor ein blinder Fleck ist und sich eine Auseinandersetzung mit ihm abseits von linker Jugonostalgie lohnen würde.
Ronald Weber
Tanja Petrovi?: Yuropa. Jugoslawisches Erbe und Zukunftsstrategien in postjugoslawischen Gesellschaften, Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 256 S., € 21,00.