»Gerade angesichts solcher Erfahrungen, und in der tödlichen Müdigkeit, die mich jetzt befallen hat, war mir Ihr Buch ein doppelter Trost, vor allem weil es so gar nicht tröstet. Auch dafür möchte ich Ihnen danken«. Dies schreibt ein vom akademischen wie politischen Betrieb spürbar entnervter Theodor W. Adorno 1963 an Ulrich Sonnemann, dessen zur Rede stehendes Buch, Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen, gerade erschienen war. Und tatsächlich zeichnet der 1955 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Sonnemann darin ein sehr trostloses Bild. In polemischer Schärfe, die in ihrer Sprachgewandtheit und Genauigkeit an die Texte eines Karl Kraus erinnert, benennt und denunziert es die juristischen, politischen, publizistischen und pädagogischen Unmenschlichkeiten, mit denen sich Sonnemann in der Bundesrepublik konfrontiert sah. Im Rahmen der von Paul Fiebig herausgegebenen Schriften Sonnemanns ist dieser Essay-Band jüngst neu erschienen und um einige weitere Texte zum Thema ergänzt.
Die deutsche Ideologie nach 1945 wird hier nicht in Großthesen abgehandelt. Der Teufel steckt vielmehr im Detail: Die bundesdeutsche Justiz etwa präsentiert sich gerade in Einzelfallbetrachtungen als »Aufreihung des Widerlichen« – etwa, wenn einerseits der formale Rechtsgrundsatz In dubio pro reo aus moralischen Bedenken (und nicht etwa aus rechtlichen) nicht zur Anwendung kommt, andererseits hanebüchene ›formalrechtliche‹ Akrobatik betrieben wird, um die Entschädigungsforderungen eines Überlebenden der Shoah zurückzuweisen. Statt Rechtsstaatlichkeit also juristische Fortsetzung der Herrschaft des Vorurteils und rechtlich verbrämte Geschichtsverdrängung. Eine Öffentlichkeit, die an solchen und anderen Zuständen Anstoß nehmen könnte, kann Sonnemann nicht ausmachen. Dazu ist man viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, in schlechter alter Tradition der Innerlichkeit. Statt sich mit der Absurdität der Welt auseinanderzusetzen, um die Gesellschaft zu einer vernünftigeren zu verändern, begibt man sich lieber auf Sinnsuche ins Innere, wo sich jedoch angesichts der Sinnlosigkeit der jüngeren Geschichte ein Abgrund auftut. »Von diesem Punkte an wuchert das Ressentiment, gedeiht an der Stelle des Denkens, vor dem man sich drückt, der Welt, deren Druck man gerne auswiche,
jener milchglasartige und trübe Ersatz, der seiner selbst spottend Welt-anschauung heißt«. Diesem unkritischen Bewusstsein korrespondiert die Forderung des tatkräftigen Anpackens, des Mitmachens also, als erste Bürgerpflicht im Wirtschaftswunderland, in welchem »die Arbeitswut und
Arbeitswelt […] absolut regiert«. Um solche Ideologie von der schaffenden Arbeit zu zersetzen, bedürfe es einer »Diskreditierung der Tüchtigkeit in deutschen Landen«. Entgegen so mancher apokalyptischer Technik-Kritik der 1960er Jahre beschreibt Sonnemann daher auch die zunehmende Automation der Arbeitsprozesse keineswegs als bloß verdammenswerte Entwicklung, sieht in ihr vielmehr das ungenutzte Potenzial der Entlastung vom Arbeitsdruck, in der auch ein Freiheitsversprechen liegt. Während Sonnemann in seiner Kritik des Arbeitsfetischs eine scharfe Analyse der »psycho-historischen« Befindlichkeiten der deutschen Gesellschaft vornimmt, bleibt die Untersuchung auf der Ebene der politischen Ökonomie allerdings zuweilen etwas fragwürdig; gerade auf die Marx‘schen Einsichten (etwa im Hinblick auf die Funktionsweisen der Lohnarbeit) wird in diesem Zusammenhang nur verhalten (oder gar abweisend) rekurriert. Diese Distanz mag wohl auch an dem im Ostblock gepredigten Marxismus liegen. Im Deutschland der ›Zone‹ jedenfalls ist für Sonnemann kein größeres Freiheitspotenzial auszumachen als in der miefigen und autoritären Bundesrepublik, der seine beißende Polemik gilt.
Die Sprachgewalt der Sonnemann’schen Texte, ihre Komplexität zumal, dürfte ein Grund dafür sein, dass sein Werk heute kaum ein Publikum hat. Auf den Einwand eines Lesers von 1963, der Inhalt des Buches sei ja durchaus zutreffend, nur ließe es sich denn nicht einfacher sagen?, antwortet Sonnemann bestechend: ›Einfache‹ Texte »pflegen dem Wunsch des Lesers zu schmeicheln, nicht denken zu müssen, oder, nach seinem eigenen Verständnis dieses Wunsches: sich das, was er liest, ohnehin schon gedacht zu haben«. Diesem Wunsch kommt die Edition nicht entgegen. Zwar machen zahlreiche durch den Herausgeber ergänzte Verweise zur Zeitgeschichte die versammelten Texte, zumindest für Nachgeborene, zugänglicher. Zugleich jedoch vermeidet die Edition den Gestus der akademischen Aufbereitung so mancher Werkausgabe, die dann die Texte und das Denken eher stilllegen als einen kritischen Geist wachzuhalten, worüber das Prädikat einer ›kritischen Ausgabe‹ oft genug hinwegtäuscht.
Mathilde Clemens
Ulrich Sonnemann: Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen (1), Schriften, Bd. 4, hg. von Paul Fiebig, Zu Klampen, Springe 2014, 580 S., € 40,00.