Dialektik der Abweichung, ein schmaler Band mit teils nicht leicht verständlichen Aufsätzen und Vorträgen der letzten Jahre, widmet sich dem aktuellen Stand der homosexuellen Emanzipation – im »antifaschistischen Erkenntnisinteresse«, wie Tjark Kunstreich sehr schön schreibt. Dabei untersucht er vor allem die gegenläufigen Ideologien, die die westliche Gesellschaft diesbezüglich durchziehen: Auf der einen Seite der Barrikade stehen das zunehmende Bekenntnis zu sexueller Vielfalt und die scheinbare Normalität gleichgeschlechtlichen Begehrens; auf der anderen Seite die sexualrepressive und reaktionäre Hetze christlich-wutbürgerlicher oder islamistischer Couleur.
Laut Kunstreich kämpfen hier nicht einfach die Guten gegen die Bösen. Er konstatiert eine Dialektik in der Emanzipation des homosexuellen Subjekts, die beiden politischen Bündnissen entgeht: Der innere Widerspruch des homosexuellen Subjekts liegt darin, dass es eben nur als Subjekt möglich ist. Dass abweichendes Begehren in der Moderne nicht mehr als sündhafte, prinzipiell jedem mögliche Ausschweifung auftritt, sondern als identitätsstiftendes Merkmal – Kunstreich wendet diese bekannte Foucault’sche These subjekttheoretisch: Die Subjektform konstituiert das ausschließlich heterosexuelle Begehren und gleichzeitig sein Anderes, die homosexuelle Minderheit. Damit setzt sich eine Dialektik in Gang, die der der Judenemanzipation in Deutschland ähnelt: Im Streben des Abweichenden, als Subjekt anerkannt zu werden, muss die Abweichung aufgegeben werden.
Mit dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer erklärt Kunstreich, dass die Liebe des bürgerlichen Subjekts nur legitim ist, sofern sie sich auf die Ehefrau, die Kinder oder den Souverän bezieht. Im Stereotyp des bindungslosen Schwulen, der obendrein ökonomisch erfolgreich ist und über eine politische wie publizistische Stimme verfügt, lebt diese Verbannung bis heute fort: Auf ihn richtet sich der Hass der Besorgten wie der »Vielfältigen«. In einer etwas kühnen Analogie wird diese Schwulenfeindlichkeit mit dem Hass verglichen, der Israel als einem gelungenen Emanzipationsprojekt gilt: Der Judenstaat wie der westliche Mittelstandsschwule, »in völliger Verfügungsgewalt über sich selbst; ebenso […] wie das Kapital selbst«, haben sich vom Opferstatus emanzipiert und werden für ihr Bündnis mit der Mehrheit von anderen, weniger erfolgreichen Minderheiten beneidet und verachtet.
Beide, Vielfältige wie Besorgte, sind laut Kunstreich getrieben vom Verlangen nach der Auflösung des subjektiven Begehrens in ein Kollektiv, das sich entweder homogen heterosexuell oder aber homogen different erträumt wird. Besonders scharf kritisiert Kunstreich den Diversity-Ansatz, der die schwule Objektwahl mit geschlechtlichen, kulturellen, religiösen und ökonomischen Identitäten zusammenwirft und alles unterschiedslos anerkannt haben will – homosexuelles Begehren ebenso wie kulturell
begründete Homophobie. Dem gegenüber verteidigt er einen nüchternen Antidiskriminierungsansatz, der aus der Erfahrung des Leidens heraus Menschen- und Bürgerrechte für die Benachteiligten anstrebt.
Für ihren Kurswechsel von Antidiskriminierungsarbeit hin zu emphatischer Identitätspolitik wird auch die gegenwärtige queere Politik gerügt. Entstanden im Zuge der AIDS-Krise, war es das bittere Erleben einer »Gesellschaft, die Leute dahinsiechen ließ, weil sie anders waren«, das verschiedene Randgruppen Anfang der 1980er unter dem Sammelbegriff queer zusammenbrachte. Was ihre Solidarität und ihren Kampfesmut ausmachte, war nicht ihr je spezifisches Begehren, sondern die Erfahrung, dieser Gesellschaft keinen Pfifferling wert zu sein; ihr Ziel war nicht der Beifall der Heteros, sondern deren bürgerliche Rechte auch für sich zu beanspruchen. Und trotz des Erfolgs der queeren Act-Up-Aktivist_innen konnte sich die homosexuelle Liebe bis heute nur punktuell emanzipieren und hat auch in der queer nation kein sicheres »Vaterland« (Hans Mayer) gefunden.
In allen Essays operiert Kunstreich mit der alten Ineinssetzung von homosexuell und schwul. Das lässt sich insofern verteidigen, dass Schwule historisch eher als Lesben als Homosexuelle in Erscheinung getreten sind, sei es als Verfolgte oder als Philosophen, Künstler, Politiker etc. Das liegt nahe, denn das weibliche Subjekt ist im bürgerlichen Patriarchat stets ähnlich widersprüchlich gewesen wie das homosexuelle – wie wäre es dann erst um die Emanzipation der Lesbe bestellt, deren Existenz der Subjektform gleich doppelt widerspricht? Ist ihr Begehren nicht noch viel mehr das »ganzandere« (Hans Mayer) als das schwule? Oder hat die Lesbe vielmehr einen genialen Triebkompromiss gefunden, der ihr erlaubt, innerhalb der weiblichen Geschlechtsidentität subjekthaft zu begehren und zugleich unauffällig zu bleiben? Wie dem auch wäre: Kunstreichs traditionsreiche Gleichsetzung schreibt die Ignoranz gegenüber den zahlreichen literarischen, politischen und psychoanalytischen Beiträgen zur weiblichen Homosexualität fort. Gern lese ich ein Buch über die gesellschaftliche Situation schwulen Begehrens – aber bitte nicht mit falschem Beipackzettel. Begriffliche Aktualität gehört zu einem antifaschistischen Erkenntnisinteresse dazu, das »die Möglichkeit [bedeutet], darüber nachzudenken, was das Verhältnis von Sexus und Gesellschaft im Individuum heute anrichtet.«
Korinna Linkerhand
Tjark Kunstreich: Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation, konkret texte 67, Hamburg 2015, 135 S., € 15,00.