Die Ermordung satirischer JournalistInnen von Charlie Hebdo durch islamistische Schützen unlängst in Paris wurde in der Linken kontrovers kommentiert. Auf der einen Seite verurteilten Liberale, AtheistInnen und ein paar einzelne »klassische« Linke sowohl den Angriff als auch den politischen Islam aufs Schärfste, verteidigten die Redefreiheit und erklärten ihre Solidarität mit den Opfern: »Je suis Charlie«. Auf der anderen Seite verurteilte die postkoloniale und antiimperialistische Linke nicht den Angriff, sondern das Magazin für dessen satirische Darstellungen des Islam als rassistisch und islamophob, womit die Hauptschuld vorherrschendem Rassismus und imperialistischen Militärinterventionen zugeschrieben wurde. Für Redefreiheit Stellung zu beziehen und sich mit den ermordeten JournalistInnen solidarisch zu erklären, bedeutete für sie impliziten Rassismus und die Bejahung des Status quo. Ähnliche Debatten fanden bereits rund um das Erstarken des Islamischen Staats und die Frage der militärischen Unterstützung kurdischer VerteidigungskämpferInnen von Kobane statt: war dies ein modernes Mein Katalonien, angewiesen auf internationale linke Unterstützung, oder lediglich eine weitere Entschuldigung für westliche Militärintervention im mittleren Osten? Die noch jüngeren Attentate in Paris provozierten ähnliche Argumente – die Hauptschuld wurde dem westlichen Imperialismus zugeschrieben und Gesten der Solidarität als heuchlerisch und rassistisch kritisiert.
Die Linke ist also im Hinblick auf Fragen des Universalismus oder Partikularismus politischer Kritik, der Berechtigung von Religionskritiken und der Rolle internationaler Solidarität scharf gespalten. Bedenken über die zynische Manipulation von Solidarität und falsche Universalität haben sich in tiefes Misstrauen gegenüber diesen einst grundlegenden linken Konzepten verwandelt, wie die Twitter-Kriege rund um #bringbackourgirls oder #solidarityisforwhitepeople belegen. Eine Reihe scheinbar linker Selbstverpflichtungen – Anti-Rassismus, Anti-Imperialismus und Anti-Militarismus – werden zunehmend in Stellung gebracht gegen die Werte des Universalismus, der Redefreiheit und der Solidarität. Handelt es sich hierbei lediglich um strategische Differenzen oder ist dies Ausdruck einer fundamentalen politischen Uneinigkeit, welche die Grundzüge linker Politik neu formen?
Dieser Artikel optiert für Letzteres: dass nämlich eine politische Konstellation, die sich des Postkolonialismus, der white-privilege- und critical-whiteness-Theorien, des Poststrukturalismus und der queer theory bedient, eine neue und charakteristische Tradition innerhalb linker Politik umfasst. Diese Perspektiven eint üblicherweise ein tiefes Misstrauen gegenüber, wenn nicht gar die gänzliche Ablehnung von Universalismus, Säkularismus und Liberalismus, welche als hoffnungslos falsche Allgemeinbegriffe verstanden werden, die immer nur rassistische, imperialistische und heteronormative Annahmen und Machtverhältnisse verdeckten. Da das Ganze stets kleinteilig ist und gegenwärtige Machtverhältnisse widerspiegelt, bestehen diese Diskurse darauf, dass man immer nur für sich selbst sprechen kann, für das Besondere. Der Begriff »wir«, einst die Basis linker Politik, wird heute mit Argwohn betrachtet.
L’Affaire Charlie Hebdo
Diese neue Perspektive kam während der Affäre um Charlie Hebdo deutlich ins Blickfeld. Unmittelbar zeigte sich eine scheinbar unüberbrückbare Kluft innerhalb der Linken. Bemerkenswerterweise zögerten weite Teile der Linken, ihre Solidarität mit den zwölf ermordeten linke JournalistInnen auszudrücken, oder weigerten sich gänzlich, dies zu tun. Da es sich bei den Schützen um Islamisten handelte, setzte sich die linke Aufmerksamkeit über den tatsächlichen Mord an Linken hinweg und richtete sich stattdessen auf einen möglichen (wenn auch wahrscheinlichen) anti-muslimischen Backlash. Richard Seymours Artikel »On Charlie Hebdo«Richard Seymour, On Charlie Hebdo, 7. Januar 2015, Jacobin, http://0cn.de/x1r8. in Jacobin ist typisch, insofern er »banale Argumente« für den Schutz der Redefreiheit auslässt, um auf das wahre Verbrechen zu fokussieren – Islamophobie. Seymour beginnt damit, das Wort »Terrorismus« – ein verdächtiges Wort, das unbedingt Anführungszeichen braucht – neu zu definieren, nicht als den kalkulierten politischen Mord an ZivilistInnen, sondern vielmehr als »narratives Mittel«. Er behauptet, dieses Ausspielen liberaler Rechte gegen islamischen Terror sei nicht nur dubios, sondern durch die Mächtigen mobilisiert, um einen »fetischisierten, rassifizierten ›Säkularismus‹« zu verteidigen. Das würde auf eine Form der Erpressung hinauslaufen, »die uns in die Solidarität mit einer rassistischen Institution zwingt«. Drei Monate später kündigten 204 prominente SchriftstellerInnen – unter ihnen Junot Diaz, Eve Ensler und Michael Ondaatje – einen Boykott der jährlichen PEN Redefreiheit-Zeremonie in New York mit dem Argument an, dass ihre Ehrerweisung gegenüber Charlie Hebdo darauf hinauslaufen würde, »nicht einfach eine Stellungnahme für Redefreiheit zu übermitteln, sondern gezielt beleidigendes Material aufzuwerten: Material das die ohnehin in der westlichen Welt vorherrschenden anti-islamischen, anti-maghrebinischen, anti-arabischen Stimmungen verstärken würde.« Nach dieser Auffassung ist Redefreiheit abhängig von dem eigenen Verhältnis zur Macht, so dass für »eine Gruppe, die ohnehin marginalisiert, bedrängt und viktimisiert ist, eine Population, die geformt ist vom französischen Erbe diverser kolonialer Unternehmungen, und die einen großen Anteil gläubiger Muslime beinhaltet« Hebdos Cartoons »als bewusste Erniedrigung und als Quelle von Leid betrachtet werden müssen«.PEN America, PEN Receives Letter from Members About Charlie Hebdo Award, 5. Mai 2015, PEN.org, http://0cn.de/auyu.
Indem sie eine Veranstaltung zu Ehren getöteter JournalistInnen boykottierten – abgehalten von einer Organisation, die gegründet wurde, um für ihre Sichtweise verhaftete und getötete AutorInnen zu unterstützen –, vollzogen diese intellektuellen liberalen SchriftstellerInnen eine seltsame Täter-Opfer-Umkehr, welche lediglich die Argumente der Islamisten wiedergab, die den Anschlag verübten: dass Hebdo eine nicht zu tolerierende Beleidigung der muslimischen Welt darstelle. Tatsächlich begaben sie sich auf eine Linie mit der katholischen Kirche und konservativen islamischen Gruppen: Indem Charlie Hebdo religiöse Gefühle verletzte, hätten sie es nicht anders gewollt, they asked for it. Innerhalb dieses geschlossenen Weltbildes wurde Hebdos Rassismus allerdings nicht aufgezeigt sondern bloß behauptet. In Seymours Fall geschah dies in herablassender Form, unter Bezugnahme auf den heiligsten Text postkolonialer Autorität: »Wer hiervon überzeugt werden muss, dem schlage ich vor, zunächst seine Hausaufgaben zu machen, angefangen bei der Lektüre von Edward Saids Orientalismus sowie einigen Einführungstexten über Islamophobie, und erst dann wieder zur Diskussion zu stoßen«. Dennoch war dies ein sonderbarer und einseitiger Antirassismus; linke Aufmerksamkeit fokussierte sich gänzlich auf die vermeintliche Islamophobie und durch Cartoons dargestellte symbolische »Gewalt« (eine Behauptung, die in einer Untersuchung von Le Monde Diplomatique analysiert und widerlegt wurde) Vgl. dazu auch http://www.understandingcharliehebdo.com. während kaum etwas über die tatsächlich vorgefallene Gewalt gesagt und ihre explizit rassistische Dimension komplett ignoriert wurde – der gezielte Mord an vier Juden in der anschließenden Konfrontation. Tatsächlich scheint dies ein Muster in der Folge von Terroranschlägen geworden zu sein; einen Tag nach den jüngsten Schießereien in Paris stachen IS-Unterstützer in Marseille einen als Juden erkennbaren Lehrer nieder.
Diese Positionen sind schwerlich der Effekt eines einfachen Missverständnisses der ehrfurchtslosen anarchischen Agenda der Zeitschrift oder der französischen politischen Kultur. Sie spiegeln vielmehr die explizite Politik einer postkolonialen Linken wieder, die die Werte der Aufklärung – Universalismus, Säkularismus und Redefreiheit – als bloße Masken für Rassismus und Imperialismus verwirft. Wenn man zudem das totale Beschweigen oder die explizite Rationalisierung einer Form des Rassismus – des Antisemitismus – bedenkt, fällt es schwer, diese Konstellation und die daraus entstehenden seltsamen Liaisons für zufällig oder in irgendeinem brauchbaren Sinne für links zu halten.
Dekoloniale Politik versus die Linke:
Le Parti des indigènes de la République
Dies wird besonders deutlich im Fall der französischen Organisation Le Parti des indigènes de la République (Partei der Indigenen der Republik, PIR), die außerhalb Frankreichs erstmals infolge des Hebdo-Attentats mit Statements bekannt wurde wie: »›Meinungsfreiheit‹ wird ins Gegenteil verkehrt – und dazu genutzt, eine Herrschaft von Einschüchterung und Angst zu erzwingen«, oder: Solidarität mit den Opfern diene lediglich dazu, »white power zu vereinen«.Houria Bouteldja/Malik Tahar Chaouch, The Unity Trap, Jacobin, 2. April 2015, http://0cn.de/2hxi. 2005 als Reaktion auf die Ausgrenzung und den Rassismus in Frankreich gegründet, die den Ausbruch immigrantischer Wut in den Banlieus nährten, wurde PIR zu einer prominenten politischen Stimme, die von einem breiten Spektrum linker Gruppen und DenkerInnen begrüßt wurde. Allerdings erklären sie offen, ihre Politik sei weder links noch rechts, sondern »dekolonial«. Jedoch geben sie an, ihr primärer Gegenspieler sei die französische Linke, deren »eurozentrische Fokussierung auf Probleme von Klasse und Beschäftigung« als primäres Hemmnis gegenüber PIRs Prioritäten »Rassismus, Polizeigewalt, Islamophobie und Zionismus« dargestellt wird. Ahmed Hassan, Decolonising France, Islamic Human Rights Commission, 19. Oktober 2013, http://0cn.de/vj7q. PIR behauptet, diese Politik wäre verankert in den »wahren und authentischen Erfahrungen« postkolonialer Subjekte, deren Perspektive »Aufklärung, Marxismus, westlichem Rationalismus, Universalismus und Republikanismus« explizit »entgegenwirkt und gegenübersteht«. Diese Ideen würden zu einer »linearen Geschichtlichkeit« beitragen, »die dem Konzept der white supremacy zuträglich« sei. Ebd. Die daraus resultierende Politik ähnelt allen, die beanspruchen weder »links noch rechts« zu sein:
»[PIR] ist ein Mittelfinger, ein großes ›Fuck you‹ an die Linke. Oder ein Quenelle [umgekehrter Hitlergruß], wenn euch das lieber ist. Auch wenn es anders aussieht, aber bei diesen Schwenk nach rechts geht es um Befreiung. Wir sollten uns als Verbündete betrachten [...]. Damit das möglich ist, müssen wir als das akzeptiert werden, was wir sind, nämlich eine rassisch und gesellschaftlich unterdrückte Gruppe, die sich in vielen Dingen uneinig ist: uneinig bezüglich des Kapitalismus, uneinig bezüglich des Klassenkampfes, uneinig bezüglich der Frauen, uneinig bezüglich der Homosexuellen, uneinig bezüglich der Juden.« Houria Bouteldja, Dieudonné through the prism of the white Left, or conceptualizing a domestic internationalism, Lenin’s Tomb, 02. März 2014, http://0cn.de/s2dr.
Es ist aber nicht so, dass sich PIR nicht deutlich genug zu diesen Themen positioniert, sondern eher so, dass sie dies allzu eindeutig tun. Obwohl PIR oft dafür gefeiert wird, eine radikalere antirassistische Gruppe als traditionell »integrationistische« Organisationen wie SOS Racisme zu sein, weigert sich gerade dieser Artikel mit dem Titel »Dieudonné through the prism of the white Left« nicht nur, den Antisemitismus des Komikers zu verurteilen, sondern begrüßt ihn im Endeffekt. Trotz der Versicherung, dass das »uns vereinende Projekt ein Projekt radikaler Gerechtigkeit für alle« sein müsse, geht die Aussage weiter mit der ernüchternden Bedingung, hierfür müsse man sich »notwendigerweise die Hände schmutzig machen, wie es uns C. L. R. James rät«. Das folgende James-Zitat ist beunruhigend und unmissverständlich:
»Die Bewegungen, die versuchen, ›den Juden aus Harlem und der South Side zu vertreiben‹, haben eine solide Klassenbasis. Sie sind Reaktionen auf das Resentiment des Schwarzen, der ökonomische Erleichterung und etwas Balsam für seinen gedemütigten Rassenstolz sucht. Dass diese Gefühle von fanatischen Idioten, schwarzen Antisemiten oder selbstsüchtigen schwarzen Geschäftsmännern ausgenutzt werden können ändert nichts an ihrem grundsätzlich progressiven Charakter.« Ebd.
Solch offener Rassismus existiert neben offener Homophobie. So bemerkte Parteichefin Houria Bouteldja: »Die homosexuelle Lebensweise existiert in den Banlieues nicht und das ist keine gänzlich schlechte Sache«, und Queers wurden bereits aufgefordert, die Gruppe zu verlassen. Robin D’Angelo, Plus forts que Frigide Barjot, les Indigènes de la République dénoncent l’«impérialisme gay», Street Press, 6. Februar 2013, 0cn.de/ie0c.
Angesichts PIRs offener Homophobie, Antisemitismus, kulturellem Chauvinismus und ihrer Zweideutigkeit hinsichtlich grundlegender linker Konzepte wie Antikapitalismus und Universalismus ist die feindselige Rezeption bei Teilen der französischen Linken nicht verwunderlich. Überraschend und womöglich neuartig ist aber, dass derartige Ideen innerhalb der Linken überhaupt Zuspruch bekommen haben. Merkwürdigerweise hört man derartige »dekoloniale« Positionen jedoch gerade innerhalb jener Gruppen am ehesten, die durch diese Diskurse dämonisiert werden – Queers, (antizionistische) Juden und Jüdinnen, »westliche«, und weiße Linke.Umkehrung des Orientalismus, Invertierung des Eurozentrismus
Diese Probleme sind nicht spezifisch für PIR, sondern reflektieren weitaus geläufigere theoretische und politische Annahmen innerhalb postkolonialer Diskurse. Statt Rassismus, Kolonialismus und Orientalismus zurückzuweisen, kehren postkoloniale Argumente diese um, indem sie verschiedene Eigenschaften und Positionen als »indigen« essentialisieren und diese gegenüber ebenso essentialisierten »weißen« oder »westlichen« Bevölkerungen abgrenzen. Indem er Universalismus als westlich aufgibt, findet der Postkolonialismus häufig Gefallen an reaktionären traditionellen, nationalistischen und religiösen Ideen. Es dürfte kaum überraschen, dass NationalistInnen und Reaktionäre an vielen Orten – Polen, Indonesien, Nigeria – begonnen haben, die Sprache des Postkolonialismus zu sprechen, um ihre rechten, aber »anti-westlichen« Sichtweisen zu rechtfertigen, in denen Feminismus, die Rechte Homosexueller, Liberalismus, Toleranz und Säkularismus allesamt als »westlich« und »kolonial« verdammt, und als nicht authentisch und die lokale Kultur unterdrückend wahrgenommen werden. Stanley Bill, Seeking the Authentic: Polish Culture and the Nature of Postcolonial Theory, Nonsite.org, 12. August 2014, http://0cn.de/8vh7. Deutschland präsentierte Nordafrika und der arabischen Welt den Nazismus mit einigem Erfolg als anti-imperialistische Ideologie gegen die Franzosen und Briten. Folglich ist politisch unklar, was »Dekolonisation« in der Praxis bedeutet. Viele scheinen das Verb wörtlich zu nehmen – »dekolonisieren« bedeutet demnach, jegliche »Kontamination« durch das, was als »westlich« konstruiert wird, zu beseitigen und die KolonisatorInnen sowie deren Nachfahren dorthin zurück zu schicken, wo sie herkamen.
Diese Argumente sind zutiefst ahistorisch. Mobilität und Migration sind ein Faktum der Menschheitsgeschichte, besonders heutzutage. Sie sind außerdem zutiefst eurozentristisch; EuropäerInnen besitzen kein Monopol auf Rassismus oder Imperialismus. Tatsächlich stießen sie relativ spät zum Spiel hinzu, den blutigen Fußspuren der mongolischen, persischen, umayyadischen, osmanischen und japanischen Imperien folgend. Nicht-westliche und indigene Gesellschaften waren und sind keine emanzipatorischen Utopien, sondern haben ihre eigenen unterdrückenden Hierarchien und Machtverhältnisse; Sklaverei war üblich unter nordwest-pazifischen Völkern, während die mächtigen Irokesen die Huronen auf geradezu imperiale Weise beherrschten. Im heutigen Nigeria machen sich sowohl Bewegungen des muslimischen Nordens wie auch des animistischen/christlichen Südens Rassismus zunutze, um für die »Befreiung« von den jeweils anderen zu argumentieren.
Postkolonialismus bietet oftmals krude und reduktive Analysen von Macht- und Sozialbeziehungen. Viele linke Analysen der Hebdo-Attentate folgten einem generellen Erklärungsmuster hinsichtlich des islamistischen Terrorismus, indem sie ausschließlich Ausgrenzung, Islamophobie, Armut und einen imperialistischen Krieg gegen den Terror in den Blick nahmen.In ihrem Eifer, Islamophobie und dem Empire die Schuld zuzuschieben, ignorieren solche Erklärungen meist auf paternalistische Weise die erklärten Motivationen dieser islamistischen Akteure: den Wunsch, mit Gewalt ein globales Kalifat zu errichten. Wie PIR nach den Attentaten proklamierte: »Tief in ihrem Inneren sind sie sich dieser Wahrheit bewusst: dass sie es sind, die durch ihre Exzesse und Anstiftung zur Islamophobie seit vielen Jahren dieses ungesunde Klima angefeuert haben, während wir nicht aufhörten, vor derartigen fatalen Folgen zu warnen.« Für diese Denkweise wird und kann islamistischer Terror immer nur eine bedauerliche und verwirrte Form des Widerstands der Machtlosen gegenüber einem durch den Westen verursachten größeren und schlimmeren Problem sein. Wenngleich historischer Kontext sicherlich wichtig ist, schlägt er doch leicht in Rationalisierung um. Zum Vergleich: man hört Linke kaum jemals argumentieren: »Die Gewalt des KKK ist bedauerlich, aber muss als direktes Resultat von Jahrzehnten von ausgelagerten Arbeitsplätzen, schlecht finanzierter Schulen und der Erosion des Sozialstaats gesehen werden«, obwohl die Argumente strukturell ähnlich sind, indem sie politische Gewalt als rationale, wenn auch verwirrte Antwort auf realpolitische Probleme betrachtet.
Derartige Darstellungen sind nicht nur gefährlich naiv, indem sie die Schirmherrschaft machtvoller, gut abgesicherter Staaten wie Saudi Arabien und Iran vergessen, sondern sie übersehen auch die signifikante Anziehung, die der politische Islam sogar auf die Mittelklasse und Wohlhabendere ausübt. Besonders innerhalb der anglo-amerikanischen Linken fordert diese verbreitete Stimmung Eurozentrismus nicht heraus, sondern untermauert ihn geradezu, indem die Welt auf narzisstische Art und Weise ausschließlich in Relation zu den Verbrechen der imperialen Metropolen gesehen wird. Die normative Polarität des Kolonialismus wird schlichtweg umgekehrt. Dies lässt auch häufig die Beschränktheit erkennen, mit der die eigene Geschichte generalisiert wird, und die Blindheit gegenüber – vergangenen wie auch aktuellen – kolonialen und imperialen Ambitionen nichtwestlicher Nationen wie der Türkei, Chinas, Russlands, des Iran und Japans. Gewiss ist das lautstarke Schweigen der Linken gegenüber Syrien bezeichnend; da die USA und Israel durch konfessionelle Kämpfe um regionale Vorherrschaft zwischen dem sunnitischem Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran in den Hintergrund gedrängt wurden, weiß sie nicht mehr, wen sie beschuldigen oder wessen Seite sie einnehmen soll, und hat infolgedessen nichts mehr zu sagen. Solche Narrative beruhen auf einer mechanistischen Sicht auf soziale Realität, die falsch ist. Wie David Bell anmerkt, ist es »tatsächlich zutiefst herablassend, anzunehmen, Muslime würden nichts tun, als auf die Verbrechen und Fehler des Westens zu reagieren.« David A. Bell, The French Dilemma, Dissent, Frühling 2015, http://0cn.de/ocqk. Es wird davon ausgegangen, dass der Westen – oder, im Fall von Charlie Hebdo, kleine linke Journale – agiert, während IslamistInnen (und im Allgemeinen der Nicht-Westen) immer nur reagieren. Diese Wahrnehmung ist nicht nur falsch, sondern zutiefst rassistisch, da sie die Handlungsmacht eben dieser Akteure leugnet. Es gibt keine direkte Kausalität, die soziale Ausgrenzung und Armut mit politischer Radikalisierung verbindet, weder zur Linken noch zur Rechten. Während solche Verelendungstheorien über soziale Veränderung für den Marxismus und die Arbeiterklasse weitestgehend diskreditiert wurden, leben sie im postkolonialen Diskurs weiter. Das Ergebnis ist ein umgekehrter Orientalismus, bei dem essentialistische Kategorien beibehalten werden, aber die normativen Gegensätze ins Gegenteil verkehrt werden – postkoloniale Subjekte, Muslime und people of color sind grundsätzlich gut und progressiv; während der Westen immer böse oder schlimmer ist – unabhängig vom jeweiligen Fall oder der erklärten Politik der Akteure. Wie Vivek Chibber argumentiert: »Es sollte offensichtlich sein, dass postkoloniale Theorie darauf hinausläuft, im Namen der Verdrängung des Eurozentrismus eben diesen mit grausamer Intensität wiederauferstehen zu lassen.« Vivek Chibber, Postcolonial Theory and the Specter of Capital. London 2013, 291.
Wenn Links und Rechts die Plätze tauschen
Die binäre Politik des Postkolonialismus, die auf den »Westen gegen den Rest« abzielt, resultiert in einer affirmativen, nicht in einer kritischen Sicht auf Gesellschaft. Statt der von Marx geforderten »rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden«, wird sie zur rücksichtslosen Apologie alles Bestehenden. In historischer Ironie haben die Linke und die Rechte hinsichtlich vieler Schlüsselthemen Positionen getauscht – hinsichtlich der Bedeutung kultureller Differenz, des Kulturrelativismus, des Säkularismus, der Redefreiheit, der Menschenrechte und sogar der Notwendigkeit des revolutionären Regimewechsels. Dies ist besonders eindeutig bezüglich Fragen der Aufklärung, der Universalität und der Partikularität. In diesem Sinne ist es kein bloßer Zufall, dass Postkolonialismus bedeutende Überschneidungen mit konservativer Politik aufweist, sondern ein Widerhall geteilter philosophischer Annahmen. Dies hilft bei der Erklärung ansonsten seltsam erscheinender politischer Allianzen von IslamistInnen und marxistischen LeninistInnen, religiöser Theokraten mit Queer-AktivistInnen, AnarchistInnen und reaktionären NationalistInnen.
Diese Entwicklung spiegelt die Wichtigkeit der Linken in einer Zeit wieder, in der die Hoffnung auf soziale Veränderung verdunkelt ist. Als Antwort auf die frustrierend langsame Geschwindigkeit sozialer Veränderung und das Fehlen progressiver Massenbewegungen haben weite Teile der gegenwärtigen Linken jene Kombination aus Partikularismus und kaum verdecktem Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit sozialer Veränderung angenommen, die einst exklusive Domäne der Rechten war. Dies mündet in einer zugleich konservativen wie auch defensiven Haltung, die statisch endogene Bevölkerungsgruppen idealisiert und Politik auf widerständige »AußenseiterInnen« herunterbricht. Wie früher beim Anti-Imperialismus, entsteht so Raum, in dem machtlose Linke reaktionäre Bewegungen als Vehikel nutzen können, um ihre Wünsche und ihren Unmut auf diese zu projizieren – ungeachtet der selbsterklärten Ziele derartiger Bewegungen. Aber dies ist »Radikalismus« im schlechtesten Sinne – auf Andere gerichtet, rückwärtsgewandt und oft gewalttätig – im Kern nicht-utopisch. Das Ergebnis ist eine Politik des Misstrauens, die mangels ernstzunehmender Optionen auf soziale Veränderung dazu neigt, moralisch und hochgradig symbolisch zu sein. Diese aus Machtlosigkeit geborene Realpolitik funktioniert in beide Richtungen und erzeugt oft einen gleichgroßen, entgegengesetzten Impuls, auf unkritische Weise Liberalismus, Interventionismus oder die progressiven Aspekte des Kapitalismus zu verteidigen. Daher spiegelten sich die eben genannten Allianzen auf der anderen Seite zu manchen Zeiten in gleichermaßen unwahrscheinlichen Koalitionen wieder: Klassenkämpferische Linke, gewisse FeministInnen und marxistische Intellektuelle fanden sich in Übereinstimmung mit Liberalen, bürgerlichen Libertären und einigen rechten KritikerInnen wider.
Ich behaupte, diese Trennung zwischen einer auf Partikularismus und Kultur basierenden Politik auf der einen Seite und einer für Universalismus und Verstand eintretenden auf der anderen, entwickelt sich immer mehr zur zentralen Bruchlinie, die die Linke tiefgreifend umgestaltet. Während dieser Prozess des Überdenkens und der Neuorientierung innerhalb der deutschen Linken schon lange im Gange ist, provoziert der Exzess dieser neuen linken Hegemonie nun ähnliche Gespräche innerhalb der anglo-amerikanischen Linken. Aber im Gegensatz zum antideutschen Zerwürfnis fokussiert die aufkommende Spaltung darauf, wie sich die Kultur der Linken in Bezug auf Intoleranz gegenüber Redefreiheit verändert hat; in Bezug auf das Bedürfnis nach »safe spaces«; auf eine gegenüber jeglichem »wir« feindselige Politik und ein generelles Gefühl, dass die Durchsetzung von »politisch korrektem« Sprechen und Verhalten autoritär und essentialistisch geworden ist.
Die Vermächtnisse des Kolonialismus und Rassismus sind nicht weniger real als die Islamophobie, die das Wiederaufleben rechter xenophober Bewegungen befeuert. Nichtsdestotrotz muss die Linke im Kampf gegen diese Kräfte verschiedene Fallgruben vermeiden. Etwa: die tatsächliche Bedrohung des islamistischen Fundamentalismus stillschweigend zu ignorieren oder herunterzuspielen; postkoloniale Positionen zu übernehmen, die essentialistische und monolithische Kategorien reproduzieren; oder in die Rationalisierung indigener Formen der Herrschaft zu verfallen, die mit dieser »inside/outside«-Dichotomie zwangsläufig einhergeht. Es ist möglich und notwendig, die offensichtliche und andauernde Realität der Ungleichheit, die auf erfundenen und restriktiven Kategorien von Rasse und Nation basiert, zu benennen, ohne die selben irrationalen sozialen Trennungen zu verfestigen. »Westen«, »Nicht-Westen«, »white people« und »people of color« sind keine statischen oder einheitlichen Kategorien, sondern bezeichnen Machtverhältnisse, die nicht bestätigt, sondern herausgefordert werden müssen. Es muss auch betont werden, dass diese Gruppen nicht monolithisch sind, sondern intern geteilt durch Klasse, Gender und, am wichtigsten, durch subjektive politische Haltungen, die nicht direkt mit der Subjektposition korrespondieren. Indem Subjektivität, Kultur und Politik an die soziale Verortung gebunden werden, führen postkoloniale Argumente oftmals in einer invertierten Form eben die beschränkte Weltanschauung wieder ein, die die Aufklärung abzuschaffen suchte.
Der Kulturrelativismus, der solche Argumente untermauert, macht Politik unmöglich, da er keinen Raum für Urteile über andere »Kulturen« zulässt, die als statisch, autonom, einheitlich und authentisch aufgefasst werden. Solche Argumente entleeren nicht nur Politik, sie können auch leicht nach hinten losgehen. So, wie einst die Behauptung essentieller Unterschiede die Sklaverei stützte, wird nun die Konföderiertenflagge als Symbol einer kulturell einzigartigen Südstaatenherkunft verteidigt, die geschützt werden müsse. Es fehlt an jeglichem universalistischen Maß, nach dem beurteilt werden könnte, welche »Kultur« es wert wäre, unterstützt und verteidigt zu werden. Politik bedeutet ihrem Wesen nach Beurteilung und Positionierung, wobei revolutionäre Politik eine Transformation des Status quo anstrebt, nicht dessen Verteidigung. Dies bezieht sich auf die Ideen, Lebensweisen und Institutionen sowohl der Eliten wie auch der Massen, seien das nun Märkte, patriarchale Männlichkeiten oder religiöse Verschleierungen der sozialen Welt. Die heutige Linke scheint vergessen zu haben, was einst offensichtlich war: dass soziale Veränderung des Konflikts und der Kritik überlieferten Wissens bedarf, nicht seiner höflichen Affirmation. Wie Kenan Malik schreibt:
»Heute, da die Ideen der Aufklärung oft als rassistisch oder reaktionär angesehen werden, weil sie Produkte der europäischen Kultur sind und da die Grenze zwischen antiimperialistischer und antiwestlicher Haltung allzu verwischt ist, wird das Insistieren von James, Fanon – und L’Ouverture –, dass das Ziel des Antiimerialismus nicht die Ablehnung der Aufklärung, sondern ihre Aneignung für die ganze Menschheit ist, umso wichtiger.« Kenan Malik, From the Vaults: CLR James and the Black Jacobins, Pandaemonium, 07. März 2013, http://0cn.de/rjqx.
Die Antwort auf den unvollständigen und partialen Charakter des Universalismus ist nicht dessen vollständige Ablehnung. Ein Blick auf Beispiele der Geschichte und der Gegenwart verrät, dass die Ableitung politischer Forderungen aus Partikularität, fixen kulturellen Unterschieden und Traditionen bedeutet, sich der philosophischen und politischen Projekte der Rechten anzunehmen. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, kann es ohne die Kernprinzipien der Aufklärung – Universalismus und vernunftbegründete Argumentation – in der Tat keine linke Politik geben. Während sich die Machtverhältnisse auf der Welt verschieben und die Macht und Dominanz der USA und Europas weiter schwinden, muss sich die Linke über ihre Grundprinzipien im Klaren sein und darf sich nicht im Namen des Prinzips »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« reaktionärer Ideologien annehmen.
Blair Taylor
Der Autor lebt in Berlin und ist Co-Herausgeber von The Next Revolution (Verso 2014), ein Sammelband mit Essays von Murray Bookchin.
Übersetzung aus dem Englischen:
Lisa Frey