Es ist noch nicht so lange her, da konnten sich linke Kleinstzusammenschlüsse »Theoriegruppen« nennen und wer auch immer dies hörte, wusste was gemeint war. Statt die nächste Demonstration zu planen, Delegierte auf Bündnistreffen zu entsenden oder minutiös zusammengeklaubte Nazi-Rechercheergebnisse auszuwerten, brütete man über Hegels Phänomenologie des Geistes, exzerpierte Marx’ Grundrisse, referierte Adornos Negative Dialektik und studierte Gerhard Scheits Suicide Attack. Wen es nicht aufgrund alltäglicher Fascho-Bedrohungen oder des Nervenkitzels im Schwarzen Block in die Linke zog, der kam und blieb wegen der Faszination der großen Worte, starken Thesen und dem Versprechen einer Erkenntnis des falschen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, aus der irgendwann in ferner Zukunft vielleicht einmal wieder eine verändernde Praxis entstehen möge (wenngleich die Ergebnisse der mühsamen Lektüre zunächst hauptsächlich in Artikel, Hausarbeiten und öffentlichen Vorträge flossen).
Dass dieses auratisch aufgeladene Verständnis von Theorie ein Produkt der Zeit um 1968 war, wie Lese- und Lebensverhältnisse miteinander verschmolzen und wie letztlich die Theorie Eingang in den akademischen Betrieb fand, wo sie heute verwaltet und verwertet wird, all das zeigt Philipp Felschs Studie Der lange Sommer der Theorie. Gegenstand des ausnehmend lebendig und unprätentiös geschriebenen Buches sind allerdings nicht die Adorniten, die Suhrkamp-SammlerInnen und Marx-ExegetInnen, sondern Figuren wie der 2014 verstorbene Peter Gente, dem das Kapital und die Minima Moralia lediglich Durchgangsstationen waren, bevor sich seine Aufmerksamkeit permanent auf die Westseite des Rheins, nach Frankreich verlagerte. Gemeinsam mit Heide Paris gründete Gente 1970 den Merve-Verlag, in dessen charakteristisch formatierten Broschüren bald die großen AutorInnen der französischen Diskussion veröffentlichten – von Michel Foucault über Roland Barthes und Jacques Derrida bis hin zu Gilles Deleuze und Félix Guattari. Auch deutsche DenkerInnen, für die aus verschiedenen Gründen kein Platz im nach und nach von Jürgen Habermas dominierten Wissenschafts- und Feuilletonbetrieb war – wie Jacob Taubes, Friedrich Kittler oder der frühe Niklas Luhmann – waren Teil des Merve-Programms, wie auch die frühe Pop-Literatur eines Rainald Goetz. Das Milieu, das Felsch mit präzisem Blick für die kleinsten Details beschreibt (und nur selten kritisch bewertet), konstituierte sich gerade im Gegensatz zu der als staubig und bieder wahrgenommenen »Suhrkamp-Kultur« (George Steiner). Es inszenierte und erlebte Theorie nicht als Gang durch die »Eiswüste der Abstraktion« (Walter Benjamin), sondern als lustvolles, ästhetisches Ereignis, das sich vom Kneipengespräch, dem Drogenrausch oder dem Disco-besuch lediglich in der Lokalität, nicht in der Qualität unterschied. Kein Wunder, dass es eher im Kunstbetrieb als im politischen Aktivismus heimisch wurde; noch heute findet man die Bändchen mit hohem Wiedererkennungswert vor allem in den Shops von Galerien und Museen.
Sowohl bei der Theorie-Emphase in der Zeit der StudentInnenbewegung als auch bei der frankophilen Lesebegeisterung der 1970er Jahre handelte es sich recht eigentlich um Krisenphänomene. »Berge von Theorie, was ich nie wollte«, das schrieb Andreas Baader 1968 aus dem Gefängnis, wo er lernte, dass die Antwort auf die Gretchenfrage »Was tun?« zunächst hieß: »Lesen!«. Gut zehn Jahre später hieß ein kurzlebiges Magazin aus dem Hause des Merve-Verlages Schlau sein – dabei sein. Theorie tritt als Anrufungsinstanz immer dann auf den Plan, wenn Praxis versperrt ist. Aufmerksame LeserInnen werden Spuren dessen, was Philipp Felschs Studie elegant Revue passieren lässt auch im heutigen, sich wie auch immer als links begreifenden Milieu wiederentdecken; minus des affektiven Überschusses freilich, der der Lektüre der Suhrkamp- und Merve-Büchlein einmal eigen war. Die Bestände beider Verlage sind inzwischen sorgsam archiviert und legitimes Forschungsthema; ein Auskommen als professioneller Theorie-arbeiter ist ebenfalls keine Seltenheit mehr. Ohne Zweifel gibt es noch immer Lesekreise, die nicht selten das außeruniversitäre Substitut für dröge Seminarveranstaltungen darstellen. Ob allerdings der Theorie noch ein Versprechen auf die gelingende Praxis innewohnt, ist fraglich. Wenn der »lange Sommer der Theorie« wirklich vorbei ist, was bringt dann ihr Herbst?
Robert Zwarg
Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, C.H. Beck, München 2015, 327 S., € 24,95.