Daniel Keil
Antimodern und Identitär
Über die regressive Bearbeitung der politischen Krise in Europa
Die anhaltende Krise in der Europäischen Union (EU) wirkt auf den ersten Blick für manche eher befremdlich, für andere ist sie schlicht Ausdruck des Immergleichen. So werden die ehemals geltenden politischen Koordinaten, die Einteilung in rechts und links, zunehmend für ungültig erklärt.Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015. Die alte totalitarismustheoretische Formel, dass rechts und links sich sowieso berühren beziehungsweise ab einem bestimmten Punkt identisch werden, scheint sich durch verschiedene Querfront-Praxen zu bestätigen, die selbst betonen, jenseits von rechts und links zu sein. Am deutlichsten wurde diese Tendenz an den »Mahnwachen für den Frieden«, die im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine entstanden und dabei den Startpunkt für eine Normalisierung völkischer und verschwörungsideologischer Motive in öffentlichen Debatten setzten. Dort gelang es, verschiedene vormals eher unzusammenhängende Verschwörungsideologien mit autoritären und antiwestlichen Vorstellungen zumindest temporär zu integrieren und in ein relativ einheitliches Motiv zu transformieren: gegen die US-Amerikanische Notenbank, gegen die NATO, gegen die EU, für Putin und für Russland. In der Folge fanden sich auf den Mahnwachen autoritäre Linke, Friedensbewegte, explizite Rechte, Esoteriker_innen und Chemtrail-Paranoiker_innen. Die Zusammenkünfte im Rahmen der Mahnwachen können als eine Art Findungsprozess begriffen werden, an dessen Ende eine Verdichtung von Ideologemen steht, die im Kern alle in der Setzung eines mythischen Volksverständnisses bestehen. Das Volk erscheint hier als natürliche Einheit, die von den beschleunigten globalen Verhältnissen permanent angegriffen gewähnt wird. Hinzu kommen Antisemitismus und Antiamerikanismus als die gemeinsamen Nenner, auf die sich Rechte und autoritäre Linke einigen. Das ist nun eigentlich nichts Neues; haben doch auch Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht einen stetig »wachsamen« Blick auf die USA. Bei aller Tradition national-linker bis national-bolschewistischerNationalbolschewismus ist ein schillernder Begriff, der historisch vor allem auf Ränder der sogenannten konservativen Revolution zurückgeht. Dass Nationalbolschewisten wie Ernst Niekisch von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, und er später in der frühen DDR Mitglied der SED und Abgeordneter der Volkskammer wurde, könnte darauf hindeuten, dass es sich um nationalistische Linke gehandelt habe. Stattdessen ist der Nationalbolschewismus als »radikal revolutionäre[r] Nationalismus« zu verstehen, der »in gewisser Hinsicht den äußersten Grad der ›Konservativen Revolution‹ vertritt«. Siehe dazu die Studie: Louis Dupeux: Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, 18. Strömungen und angesichts althergebrachter Querfront-Versuche von Eichberg über Kühnen bis hin zum Kampfbund deutscher Sozialisten, ist es hingegen neu, dass sich völkische Welterklärungen vermeintlich schlagartig in großen Teilen der Bevölkerung durchzusetzen vermögen. Verständlich wird dies nur, wenn die gesellschaftliche Situation, in der die EU sich gegenwärtig befindet, in den Fokus gerückt wird.
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