Auf aktuelle Unkenrufe, Deutschland isoliere sich zusehends in der EU oder habe Probleme, sich in Verhandlungen über die Art der Verteilung von ankommenden Geflüchteten in Europa durchzusetzen, reagiert die deutsche Regierung relativ gelassen. Vorwürfen seitens der deutschen Öffentlichkeit, Angela Merkel würde deren Interessen durch ihre Politik vernachlässigen, begegnet sie mit der schon fast mantra-artig wiederholten Bitte, die Deutschen mögen sich doch »gedulden«. Diese demonstrative Gelassenheit ist nicht nur dem Wunsch geschuldet den deutschen Mob im Zaum zu halten, sondern resultiert auch aus der bequemen dominanten Position, die die Wirtschaftsmacht Deutschland in Europa innehat. Die Bundesrepublik ist schon seit Jahren unangefochtenes Machtzentrum der EU und nutzt dies immer wieder, um die anderen Mitgliedstaaten an die Vorgaben der europäischen Politik zu erinnern. Doch wie ist es möglich, dass Deutschland in Anbetracht seiner nationalen Vergangenheit diese Rolle einnehmen konnte? Die Gründe hierfür sind divers, doch lässt sich ein wesentlicher Faktor identifizieren: Neben Konstruktionsfehlern der EU, die die Entwicklung einer deutschen Vormachtstellung strukturell begünstigten, verdankt diese sich vor allem einer nationalen Erfolgsstrategie.
Im öffentlichen Diskurs wird propagiert, die herausragende Position Deutschlands liege in dem wirtschaftlichen Geschick begründet, dass das Land bei der Bewältigung der Eurokrise bewiesen habe. Der ehemals »kranke Mann Europas« habe sich in eine »schwäbische Hausfrau« verwandelt, die durch ihre Sparsamkeit, Haushaltsdisziplin und Umsicht der Staatsverschuldung entgehen konnte und darüber hinaus noch alle anderen Staaten der Eurozone an die Wand gerechnet hat. Tatsächlich konnte Deutschland im Zuge der europäischen Wirtschaftskrise seine immense wirtschaftliche Stärke vergrößern und in politische Macht ummünzen. Bis zu diesem Kristallisationspunkt mussten auf dem Weg zu einer deutschen Vormachtstellung in der EU jedoch weitere bedeutsame Phasen, beginnend mit dem Ende des 2. Weltkrieges und des Prozesses der europäischen Einigung, durchlaufen werden.
Game over Krauts?
Das kollektive Gedächtnis der Deutschen bedient sich der Erzählung des so genannten »Wirtschaftswunders«, um die Prosperität der deutschen Wirtschaft nach Gründung der BRD zu erklären. Demnach hätten sie sich selbst durch harte Arbeit »an den eigenen Haaren aus dem Dreck gezogen«. Dass es in den 1950er und 1960er Jahren zu einem beachtlichen ökonomischen Aufschwung kam, hatte jedoch weder mit dem fleißigen Anpacken der deutschen VolksgenossInnen beim Enttrümmern und Wiederaufbau, noch mit den materiellen Opfern für die deutsche Nation, etwa in Form der 45-Stunden Woche, wirklich etwas zu tun.
Vielmehr konnte Deutschlands Industrie, darunter der Stahl- und Maschinenbau, relativ schnell nach Ende des Krieges ihre Produktion wieder aufnehmen, da die Anlagen dieser Industriezweige im Gegensatz zur Infrastruktur kaum durch die Bomben der Alliierten zerstört worden waren. Die Kapazität der deutschen Industrie überstieg tatsächlich noch die der Vorkriegszeit. Daneben basierte der deutsche Wohlstand nach 1945 vor allem »auf der kontinuierlichen Verwertung von Profiten aus dem Nationalsozialismus«Jörg Rensmann, Anmerkungen zur Geschichte der deutschen Nichtentschädigung, in: gruppe offene rechnungen (Hrsg.), The Final Insult. Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit, Münster 2003, 55., und damit auch aus der systematischen Ausbeutung von Millionen ZwangsarbeiterInnen. Ohne die rund 8,3 Mio. ZwangsarbeiterInnen, die Ende 1944 in Industrie, Landwirtschaft und anderen Wirtschaftszweigen arbeiteten, hätte Deutschland den Krieg aus ökonomischen Gründen kaum so lang führen können. Und ohne die erbrachte Arbeitsleistung dieser hohen Anzahl von ZwangsarbeiterInnen wäre auch der ökonomische Wiederaufbau Westdeutschlands nach Kriegsende nur deutlich langsamer vorangegangen.Vgl. Herbert Schui, Zwangsarbeit und Wirtschaftswunder, in: Blätter fu?r deutsche und internationale Politik, 45 (2/2000), 199-203, http://0cn.de/omox.
Ein weiterer Faktor, der den Deutschen und ihrer Wirtschaft zugutekam, war der massive Schuldenerlass, den ihnen die Siegermächte gewährten. Auf der Londoner Schuldenkonferenz konnte sich die deutsche DelegationDie Verhandlungen wurden von Herman Josef Abs geführt, der während des Nationalsozialismus im Vorstand der Deutschen Bank für die »Arisierung« von jüdischen Unternehmen und Banken zuständig war. mit ihren weitreichenden Forderungen durchsetzen. Die gesamten Verbindlichkeiten wurden um etwa 50 Prozent reduziert, die Zinslast drastisch gesenkt und die Rückzahlung der Schulden bis 1988 gestreckt.Vgl. Alex Feuerherdt, Deutsche Geschichtsvergessenheit, lizaswelt.net, 7. Juli 2015, http://bit.ly/29JqYcC. Von dem Londoner Schuldenabkommen, das 1953 ratifiziert wurde, waren die Reparationsforderungen der von Deutschland besetzten Länder ausgenommen. Diese sollten bis zum Zeitpunkt einer endgültigen Regelung (z.B. durch Abschluss eines förmlichen Friedensvertrages) zurückgestellt werden. Durch das Unterzeichnen des »Zwei-Plus-Vier-Vertrages« entfiel diese Lösung und auf eine rechtliche Regelung der Reparationsforderung wurde ab diesem Zeitpunkt verzichtet. So war es den Zugeständnissen der Siegermächte zu verdanken, dass die deutsche Wirtschaft nur wenige Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs wieder zu prosperieren begann: »Der Ursprung der eigenen Privilegien [...] war historisch die schier unfassbare Bereitschaft der Alliierten, den Deutschen nach Nationalsozialismus und Massenvernichtung der europäischen Juden nochmal eine Chance zu geben. In einem viel tieferen Sinn, als dies die Migrationsforschung betont, liegt der Ursprung des deutschen Wohlstandes also im Ausland«.Samuel Salzborn, Die Mitte, ganz rechts, Der Erfolg der AfD und der Wunsch, rechtsextreme Positionen zu artikulieren, ohne Nazi genannt zu werden, Jungle World, 17. März 2016, http://bit.ly/29yJhht .
Die europäische Integration mit den in der Montanunion (1951) und später im Vertrag von Maastricht formulierten Zielen der Europäischen Union (1992) war ursprünglich eine Konsequenz der zwei von Deutschland verschuldeten und verlorenen Weltkriege. Ein wesentliches Motiv des europäischen Einigungsprozesses stellte entsprechend die Lösung der deutschen Frage durch die Einbindung Westdeutschlands dar. Darüber hinaus sollte das militärische und ökonomische Potential der europäischen Staaten für den Kampf gegen die Sowjetunion für den Westen nutzbar gemacht werden.Vgl. Brendan Simms/Lukas Schmelter, Die deutsche Frage. Mit ihrer Größe und ihrem Wohlstand hat die Bundesrepublik Deutschland die Europäische Union destabilisiert. Wo soll das noch hinführen?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. März 2016. Die Stärkung Westdeutschlands – im Gegensatz zur DDR – wurde folglich von den USA unterstützt. Ein wichtiges Instrument, das im Zuge dessen zum Einsatz kam, war das European Recovery Program (ERP), besser als »Marshallplan« bekannt. Zum einen sollte damit die Krise der europäischen Ökonomien behoben werden, zum anderen war es Teil der US-amerikanischen Containment-Politik, die darauf abzielte, den sowjetischen Machtbereich einzudämmen. Besonders den Wiederaufbau Westdeutschlands begünstigten nicht zuletzt Befürchtungen der amerikanischen Regierung, der deutsche Faschismus könnte inmitten des chaotischen Nachkriegsszenarios erneut erstarken.
Diese umfangreiche finanzielle und infrastrukturelle Unterstützung ermöglichte es der BRD, in den Prozess der europäischen Integration bereits mit großen Wettbewerbsvorteilen einzusteigen. Die Blockkonfrontation trieb die Westbindung der BRD, auch in Form des NATO-Beitritts im Laufe der folgenden Jahrzehnte, weiter voran.
Für die BRD selbst war die Integration in das westliche Bündnissystem wiederum mehr als lohnend, da es so weitgehend der Bestrafung durch die Siegermächte entgehen, sich zu der antisowjetischen Sicherheitspartnerschaft zählen und den europäischen Wirtschaftsraum für sich öffnen konnte. Mit ihrer dezidiert antikommunistischen Haltung erkaufte sie sich bei den Westmächten zudem Ruhe vor der Erinnerung an ihre nationalsozialistische Vergangenheit.
Die Einflussnahme der deutschen Regierung auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion schuf eine weitere wichtige Vorbedingung für die Entwicklung einer deutschen Vormachtstellung in Europa: »Das Projekt Europa und schließlich der Euro waren somit die Form, in der Deutschland wieder Dominanzmacht wurde«.Ingo Stützle, Man spricht Deutsch. Trotz seiner NS-Vergangenheit ist Deutschland in Europa dominant, analyse und kritik, 16. Juni 2015, http://bit.ly/29F0Hh4. Zentral für diese Entwicklung war die Epoche nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der deutschen »Wiedervereinigung«. Die politische Elite der BRD bemühte sich zu dieser Zeit um eine besonders proeuropäische Rhetorik. Sie hatte verstanden, dass nur ein »europäisches Deutschland« nicht in Verdacht geraten würde, den bekannten gewaltsamen Neigungen nachzugehen. Die Betonung der bundesdeutschen Einbindung in europäische Strukturen sollte die militärische Unfähigkeit und den kulturellen Unwillen der Deutschen zur Aggression demonstrieren und so die Widerstände anderer europäischer Regierungen, wie beispielsweise der britischen unter Margaret Thatcher oder der französischen unter François Mitterand, gegen eine Vergrößerung des deutschen Staats- und Machtgebiets brechen.
Die europäische Gemeinschaftswährung, die eigentlich gegründet worden war, um die mächtige D-Mark abzulösen, zwängte den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf innerhalb Europas in ein fiskalisches Korsett und war von Anfang an durch Deutschlands Einfluss geprägt. Die Einführung des europäischen Zentralbanksystems 1994 institutionalisierte auch die »deutsche Stabilitätskultur«Ebd.. Dabei war eine Bedingungen der deutschen Regierung für den Euro, dass Frankfurt der Standpunkt der Europäischen Zentralbank (EZB) und die Banque de France bereits 1993 unabhängig werde. Darüber hinaus drängte Deutschland in den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag auf die Implementierung von fiskalpolitischen Disziplinierungsmaßnahmen in das strenge Regelsystem für die beteiligten Länder, vor allem in Form des so genannten »Stabilitäts- und Wachstumspakts«. Mehr noch: Es blockierte auch Initiativen, die sich in der Währungsunion um einen Ausgleichsmechanismus bemühten, wie etwa ursprünglich dafür erdachte Einrichtungen in der Regionalpolitik.Ebd.
Von dem größeren Markt, den die EWG und später die EU boten, profitierten alle europäischen Staaten, besonders aber die Bundesrepublik. Der Euro verschaffte der deutschen Exportwalze durch seine tendenzielle Schwäche gegenüber der D-Mark und seinem Ausräumen von innereuropäischen Handelsschranken einen bedeuteten Vorsprung vor der in- und außereuropäischen Konkurrenz. Europäische Volkswirtschaften, die der deutschen unterlegen waren, konnten durch den Euro nicht mehr auf das Mittel der Währungsabwertung zurückgreifen, um mit ihren Waren gegenüber den deutschen Exportprodukten konkurrenzfähig zu bleiben, und mussten sich stattdessen mit der Aufnahme von Schulden behelfen.
Deutschlands große Exporterfolge wurden allerdings ebenso wesentlich durch die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik ermöglicht.Die massiven deutschen Exportüberschüsse sind also ein relativ neues Phänomen und haben mitnichten historische Kontinuität. In den 1990er Jahren wies die BRD sogar eine negative Leistungsbilanz auf. Die mit der Agenda 2010 verabschiedeten Reformpakete, inklusive der Hartz-Arbeitsgesetze, sollten Deutschland strategisch »großhungern«. Die Arbeitsmarktreformen zielten insgesamt auf die »Absenkung des Preises der Ware Arbeitskraft, die Verschärfung des Arbeitsregimes, die umfassende Prekarisierung des Arbeitslebens sowie die Entrechtung und Entmachtung der Lohnabhängigen in Deutschland«.Thomasz Konicz, Der Aufstieg des deutschen Europa. Über die erdrückende Dominanz Berlins in der Eurozone – Teil 1, 23. März 2015, http://bit.ly/29QoF7f. Der Niedriglohnsektor der Bundesrepublik wurde mit Hilfe der Hartz-Arbeitsgesetze und den damit verbundenen Repressionsmaßnahmen wie der Herabsetzung der Zumutbarkeitsschwelle für Beschäftigung oder der permanenten Drohung von Leistungskürzungen, deutlich ausgebaut: »Der preisbereinigte durchschnittliche Nettolohn sank dank Hartz IV von rund 1.540 Euro Anfang 2004 auf rund 1.430 Euro im ersten Quartal 2009. [...] In diesem Jahrhundert haben Deutschlands Lohnabhängige im Endeffekt einen Einkommensschwund hinnehmen müssen.«Ebd. Von der Einführung des Euro bis zum Ausbruch der so genannten Eurokrise stiegen die Lohnstückkosten in Deutschland deutlich schwächer als in allen anderen europäischen Ländern zu dieser Zeit. Dazu kam ein massiver Anstieg der Zeit- und Leiharbeitsverhältnisse. Der Motor der deutschen Exportwirtschaft wurde und wird also mit Hilfe der so deutlich verbilligten Ware Arbeitskraft am Laufen gehalten, auf ihr beruht die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportindustrie.Die deutsche Wirtschaft war zwar stark von der Rezession der Jahre 2008 und 2009 betroffen, konnte sich aber schnell wieder erholen. Die Auswirkungen der Krise wurden in Deutschland durch umfangreiche Konjunkturprogramme, darunter Maßnahmen wie Kurzarbeit oder massive Entlassungen von LeiharbeiterInnen weitestgehend abgefedert. Als die Auslandsnachfrage in der zweiten Jahreshälfte 2009 wieder anzog, standen die qualifizierten Stammbelegschaften weiterhin zur Verfügung, die Arbeitszeitkonten waren wieder aufgefüllt, und viele entlassene LeiharbeiterInnen konnten wieder zurückgeholt werden. Vgl. Steffen Lehndorff, Man spricht deutsch: Eine trügerische Erfolgsgeschichte, in: PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 42 (2012), 22f.)
Den Absatz seiner Produkte konzentrierte Deutschland bis zum Ausbruch der Eurokrise auf die Eurozone.Mittlerweile orientiert sich der Export verstärkt auch auf Südostasien und den angelsächsischen Raum. Die Öffnung dieses neuen Absatzmarktes ermöglichte einen massiven Anstieg der deutschen Leistungs- und Exportüberschüsse und eine sukzessive Deindustrialisierung in anderen europäischen Ländern, die mit den deutschen Exportgütern nicht mithalten konnten. Insgesamt führte der EU-Prozess entgegen der Idee, Deutschland strukturell, politisch und kulturell zu bändigen, schließlich zu dessen Vormachtstellung in Europa.: »Die freie Konkurrenz, das von Zöllen, Normen und anderen Handelsbarrieren befreite Spiel der Kräfte, der freie Kapitalverkehr, die Flexibilisierung der Arbeit und der Ausschluss von Währungsabwertungen, lief auf die Herrschaft der Nation mit der stärksten Wettbewerbskraft zu«.Trampert, Europa zwischen Weltmacht und Zerfall, 36.
Immer wieder Deutschland
Im öffentlichen Diskurs wurde und wird versucht, das erreichte Ziel deutscher Interessen verschleiernd als eine Art Bürde der Verantwortung zu interpretieren, die von deutscher Seite nur widerwillig übernommen würde. Dabei wird einerseits auf den Topos der deutschen Zurückhaltung rekurriert, andererseits aber das nationale Machtstreben vor der eigenen Bevölkerung als Opfer für die europäische Sache legitimiert. In Wirklichkeit verfolgte Deutschland während der Eurokrise äußerst zielgerichtet seine nationalen Interessen und profitierte in außerordentlichem Maße. Die öffentlichen Haushalte verzeichneten steigende Steuereinnahmen während der Exportwirtschaft die Niedrigzinspolitik der EZB zugutekam. Die Haushaltslage in Deutschland entspannte sich auch dadurch, dass die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen sanken, während sie in anderen europäischen Ländern stiegen. Das dort abgezogene Kapital flüchtete sich massenhaft in den »sicheren Hafen« deutscher Staatsanleihen und sparte Deutschland Milliarden durch die geringere Zinsbelastung: »Ein ungleicher Kreislauf etablierte sich: Während von Deutschland aus die Warenströme in den Süden der Eurozone flossen, strömten in der Gegenrichtung griechische, spanische und portugiesische Wertpapiere in die Banktresore deutscher und französischer Finanzinstitute«.Konicz, Der Aufstieg des deutschen Europa.
Schließlich konnte sich die deutsche Regierung auch bei der Bewältigung der Krise mit ihrer Sparpolitik in der EU durchsetzen. So trat 2013 beispielsweise der von Berlin forcierte Fiskalpakt in Kraft, der Austerität auf europäischer Ebene festschrieb. Mittlerweile zeigt sich, dass die von Berlin vehement geforderten Sparmaßnahmen den sozioökonomischen Graben zwischen Deutschland und den krisengeplagten Ländern Europas vergrößerten und noch immer vergrößern. Gerade die Länder, die die sparpolitischen Reformen (etwa im arbeitsrechtlichen oder gesundheitspolitischen Bereich) besonders gewissenhaft umgesetzt hatten, gerieten immer tiefer in die Rezession.
Begleitet wurde diese Entwicklung von einer auf den ersten Blick absurd wirkendenden Selbstimagination der Deutschen als »Zahlmeister Europas«. Darin fanden die deutschen »Überlegenheitsgefühle« gegenüber den Ländern der europäischen Peripherie eine diskursive Entsprechung. Dass die deutsche Wirtschaft nicht von der Krise betroffen war, stärkte die allgemeine Vorstellung eines nationalen Kollektivs: Die Anderen stehen außerhalb der deutsch-nationalen Gemeinschaft. Schon mit der öffentlichen Interpretation der Krise als einer Staatsschuldenkrise war sie als ein selbstverantwortetes Dilemma gesetzt, als deren Ursache die vermeintlich maßlose Lebensweise der BewohnerInnen der hoch verschuldeten Länder ausgemacht wurde. Folgerichtig kam es dabei zu einer Kulturalisierung ökonomischer Zusammenhänge und einer Wiederauffrischung deutscher Ressentiments gegenüber dem europäischen »Süden«Die Verwendung dieses Begriffes geht über die geographische Einordnung hinaus und beschreibt eher einen imaginären Ort deutscher Fremdzuschreibungen. So wurde beispielsweise Irland zu Beginn der Krise im öffentlichen Diskurs Deutschlands für längere Zeit noch in diesem Raum verortet. und seiner BewohnerInnen – Projektionsfläche für deutsche Sehnsüchte und Ängste.
Im Zuge der Eurokrise »prügelte« die deutsche Regierung mit aller Macht auf andere Staaten ein und erpresste diejenigen, die sich dem deutschen »Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit«Stützle, Man spricht Deutsch. entziehen wollten. Es ging ihr dabei auch um die Implementierung deutscher Werte in die europäischen Gesellschaften. Zu diesem Zweck wird bis heute aus der wirtschaftlichen bzw. politischen Vormachtstellung Deutschlands eine moralische abgeleitet: Der »Exportweltmeister«, dessen Austeritätspolitik ganze Gesellschaften in die Knie zwingt, möchte so gern Vorbild für diejenigen sein, die er dominiert.
In ihrer gegenüber den peripheren europäischen Staaten durchgesetzten Politik zeigte die deutsche Regierung eine Härte und Unnachgiebigkeit, die nicht nur die griechische Regierung, sondern selbst Deutschlands partners in crime vom IWF verblüffte. Dass es trotz aller laut gewordenen Kritik an der heiligen Austeritätspolitik weiterhin an seinem wirtschaftspolitischen Kurs festhalten konnte, verdeutlicht, wie selbstbewusst Deutschland in der EU den Takt vorgibt.Vgl. ebd. Mit derselben Rigorosität wurden auch alle griechischen Forderungen nach Reparations- und Entschädigungszahlungen als dreister Versuch zurückgewiesen, so die eigenen Gläubiger zu bedienen.
Nationale Reflexe
Der Aufstieg Deutschlands in der Hierarchie der europäischen Nationalstaaten wäre nicht möglich gewesen ohne ein deutsches Selbstbewusstsein, das seine Nation an die Spitze dieser Rangordnung platziert. Deutschland und das deutsche Nationalbewusstsein haben sich seit 1945 neu erfunden. Es kam zu einer »zweiten Nationenbildung«.Alfred Schobert, Endlich ganz normal. Auschwitz und Krieg »sittlich begraben« oder »Lust an der Demokratie« in der »Berliner Republik«, in: Siegfried Jäger/Franz Januschek (Hg.), Gefühlte Geschichte und Kämpfe um Identität, Münster 2004, 47. Dabei handelte es sich um einen vielschichtigen Prozess kollektiver Identifizierung, der keineswegs linear verlief und der von Kontroversen geprägt war.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die Bezugnahme auf die Nation die Deutschen zur Volksgemeinschaft zusammengeschweißt, sie für den totalen Krieg mobilisiert, und zu der Vernichtung der von ihr Ausgeschlossenen geführt. Da jeder Vorstellung von Nation die Konstruktion einer nationalen Geschichte inhärent ist, stand die nationale Identität der Deutschen angesichts der Schuld am Vernichtungskrieg sowie am bürokratisch organisierten und industriell durchgeführten Massenmord vor erheblichen Problemen:Vgl. Projektgruppe Nationalismuskritik, Irrsinn der Normalität. Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus, Münster 2009,11. »Die Inkommensurabilität von Auschwitz verbaute dem postnazistischen Wir […] den Status einer ›normalen Nation‹«.Ebd. Jede Identifikation mit der deutschen Nation »war gebunden an und begrenzt durch die NS-Vergangenheit«.Johannes Klotz/Gerd Wiegel (Hrsg.), Geistige Brandstiftung. Die neue Sprache der Berliner Republik, Berlin 2001, 17. Den Zustand der nationalen Normalität, den die Deutschen seit Gründung der BRD so dringend zu erreichen versuchten, war ihnen jahrelang durch ihre Barbarei verbaut. Lange versuchten sie die als Bürde empfundene Vergangenheit erst durch Verdrängung bzw. Schuldabwehr und später durch Aneignung abzuschütteln. Bis dass das dominant auftretende Nationalbewusstsein der Deutschen wieder massentauglich werden konnte, war es allerdings ein langer Weg mit vielen Stationen (vom Historikerstreit über die Wiedervereinigung, die Goldhagendebatte, den Kosovokrieg mit Außenminister Joseph Fischers öffentlicher Interpretation der deutschen Lehre aus dem Nationalsozialismus als Zwang zur militärischen Intervention wegen Auschwitz, etc. pp.). Sukzessive etablierte sich in zivilgesellschaftlichen Verhandlungsprozessen eine nationale Geschichtskonstruktion, die einen positiven Bezug auf die eigene Geschichte und die neue deutsche Nation erlaubte. Dies ging einher mit der Distanzierung von einer »Geschichtskonstruktion, die den NS ins Zentrum stellte«Johanna Caborn, Die »selbstbewusste Leichtigkeit« des neuen deutschen Seins, in: Projektgruppe Nationalismuskritik, Irrsinn der Normalität. Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus, Münster 2009, 89..
Als die Nation sich bei der Fußball-WM der Männer 2006 öffentlich in den Armen lag und sich das neue Deutschlandgefühl in einen einzigen Fahnenstrom ergoss, verlieh das sehr bildhaft der Erleichterung darüber Ausdruck, dass der Weg zu einem normalisierten Deutschland endlich abgeschlossen schien. Dieser so lange ersehnte Status der innen- und außenpolitischen »Normalität« ist jedoch bereits wieder überwunden: Eine Nation in solch exponierter Stellung wie aktuell Deutschland in Europa, hat das Attribut ›normal‹ nicht mehr nötig.
Die Festigung deutscher Vormachtstellung vollzog sich im Kontext allgemeiner Renationalisierungstendenzen seit Beginn der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise. Die nationalistische Ideologieproduktion aktualisierte die Charakteristika der Nation. Entlang von ökonomischer Verwertbarkeit verschärften sich dadurch die Auseinandersetzungen von Staat und Gesellschaft um nationale Homogenisierungen. Beispiele hierfür sind die vielen Geflüchteten, denen buchstäblich der Zugang zum nationalen Kollektiv verwehrt wird.Andere Zustände ermöglichen, »In Europa wird deutsch gesprochen«, http://bit.ly/29RWvui. In Deutschland profitiert die aktuell stärker werdende autoritäre Bewegung von dem virulent gewordenen Diskurs über (nationalökonomische) »Stärke« und »Ordnung«, was als Sehnsucht nach Autorität und als Versuch, die als Chaos wahrgenommene Realität abzuwehren, zu verstehen ist. Für die wirtschaftliche und politische Elite wird das sozialchauvinistische Einüben der Credos »Die wollen nur unser hart erarbeitetes Geld« und »Deutsche Interessen zuerst« allerdings problematisch, wenn sie dem an die Affirmation des nationalen Zeichens gewohnten Individuum verständlich machen muss, warum Deutschland Geflüchtete und offene Grenzen braucht.
Der Versuch der deutschen Regierung, auch in der so genannten Flüchtlingskrise die moralische Vormachtstellung zu halten (»Wir schaffen das«), droht am nationalen Reflex zu scheitern. Das regressive Bewusstsein geht auf Konfrontation zur Idee eines europäischen Humanismus und zu den Interessen des modernen Kapitals, das auf offene Grenzen und die Zufuhr billiger Arbeitskräfte angewiesen ist.Nicht zuletzt wird auch die deutsche »Willkommenskultur« zum Zwecke eines moralischen Führungsanspruchs in der Frage einer gesamteuropäischen Quotenregelung für Geflüchtete, die nach deutschen Vorstellungen gestaltet werden soll, geltend gemacht. Vgl. Lukas Egger, Willkommen, billige Arbeitskräfte, in: Jungle World, 1. Oktober.2015, http://bit.ly/29GrWFm. Da jedoch momentan die meisten europäischen Länder mit ähnlichen politischen Kräften zu kämpfen haben, bedeutet das Erstarken völkischer oder autoritärer Bewegungen noch nicht einmal einen Wettbewerbsnachteil für Deutschland.
Im Zuge der jüngsten Migrationsdebatte aktualisierte sich auch die (Selbst-)Wahrnehmung Deutschlands in Europa, was sich besonders an der Person Angela Merkels manifestierte. War sie in der Eurokrise noch »als eiserne Kanzlerin« die Symbolfigur des Kasernengeistes deutscher Europapolitik, bescherte ihr die Ablehnung einer Abschottungspolitik, wie sie andere europäische Staaten derzeit betreiben, eine diskursive Weichzeichnung ihres Images. Verhilft der Umstand, dass sie Abschottung als unökonomisch und irrational abtut, der »heiligen Angela« im (in- und außereuropäischen) Ausland zu völlig neuer Popularität, muss sich Merkel innenpolitisch immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, in Verhandlungen auf EU-Ebene durch fehlende Härte die deutschen Interessen zu verraten.
Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet, wie auch der jüngst ausgehandelte »Deal« mit der türkischen Regierung zur Umverteilung von Geflüchteten illustriert. Obwohl es vereinzelt so erscheint, als hätte die deutsche Regierung derzeit Probleme, ihre europapolitischen Vorstellungen gegenüber den anderen EU-Staaten durchzusetzen, ist ein Ende der deutschen Vormacht in Europa nicht in Sicht. Aus ökonomischer Perspektive ist Deutschland bis heute unangefochten führend in Europa – und damit auch politisch. Voraussetzung dafür ist jedoch das Fortbestehen der EU, und dass sich Deutschland nicht durch seine ökonomische Übermacht selbst die Grundlage seines Erfolges entzieht: »Das Ziel, zu einer Weltmacht aufzusteigen, lässt sich nur realisieren, wenn es Deutschland gelingt, Europa in ein Profitcenter zu verwandeln, um realen Mehrwert abzuziehen und seine Wirtschaftskraft nicht durch Haftungsverluste und Transfers zu schwächen«.Rainer Trampert, Fanal des Hegemons - Über die deutsche Griechenland- und Europapolitik, jungle world, 23. Juli 2015, http://bit.ly/29Aked5.
Was wird die deutsche Dominanz in der EU für die Zukunft Europas bringen? Die letzten Male, als Deutschland das Machtzentrums Europas bildete, »zerstörte es das gesamte europäische und schließlich auch globale Machtgleichgewicht. Es bedurfte einer Koalition der stärksten Weltmächte, um das kaiserliche Deutschland und Hitlers Drittes Reich in zwei Weltkriegen zu zerschlagen«.Brendan Simms/Lukas Schmelter, Die deutsche Frage.
Nur kurze Zeit danach durfte die BRD sich schrittweise wieder in die Weltgemeinschaft integrieren und konnte ihren langen Aufstieg im europäischen Machtgefüge beginnen. Die deutsche Teilung, ursprünglich der Versuch der Alliierten, eine erneute deutsche Aggression zu verhindern, wurde letztlich überwunden. Die Europäische Einigung, aus der Motivation heraus begonnen, Deutschland einzuhegen und zu zivilisieren, hat tatsächlich wesentlich dazu beigetragen, deutsches Expansionsstreben auf militärischer Ebene bis heute, zu einzuhegen. Dafür ist sie jedoch mit ihrem Vorhaben gescheitert, den deutschen Nationalismus zugunsten einer europäischen Solidarität einzudämmen. Vielmehr wurde zugelassen, dass Deutschland grundlegende Aspekte der europäischen Integration vereinnahmte und zu seinem nationalen Vorteil nutzte. Deutschland wurde also durch die EU nicht gebändigt, sondern entwickelte sich im Laufe der Jahre zu ihrem Machtzentrum.
Neben dem strategischen Vorgehen der politischen Eliten war es auch das deutsche Bewusstsein, das diesen Prozess ermöglichte. Nachdem sie Europa wiederholt mit Barbarei und Verwüstung überzogen und die Shoah geplant und ausgeführt hatte, sieht sich die deutsche Nation nichtsdestotrotz zur »Führung« in der EU berechtigt.
Anika Noetigenfalls
Die Autorin ist Redakteurin der Phase 2 in Berlin.