Die anhaltende Krise in der Europäischen Union (EU) wirkt auf den ersten Blick für manche eher befremdlich, für andere ist sie schlicht Ausdruck des Immergleichen. So werden die ehemals geltenden politischen Koordinaten, die Einteilung in rechts und links, zunehmend für ungültig erklärt.Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015. Die alte totalitarismustheoretische Formel, dass rechts und links sich sowieso berühren beziehungsweise ab einem bestimmten Punkt identisch werden, scheint sich durch verschiedene Querfront-Praxen zu bestätigen, die selbst betonen, jenseits von rechts und links zu sein. Am deutlichsten wurde diese Tendenz an den »Mahnwachen für den Frieden«, die im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine entstanden und dabei den Startpunkt für eine Normalisierung völkischer und verschwörungsideologischer Motive in öffentlichen Debatten setzten. Dort gelang es, verschiedene vormals eher unzusammenhängende Verschwörungsideologien mit autoritären und antiwestlichen Vorstellungen zumindest temporär zu integrieren und in ein relativ einheitliches Motiv zu transformieren: gegen die US-Amerikanische Notenbank, gegen die NATO, gegen die EU, für Putin und für Russland. In der Folge fanden sich auf den Mahnwachen autoritäre Linke, Friedensbewegte, explizite Rechte, Esoteriker_innen und Chemtrail-Paranoiker_innen. Die Zusammenkünfte im Rahmen der Mahnwachen können als eine Art Findungsprozess begriffen werden, an dessen Ende eine Verdichtung von Ideologemen steht, die im Kern alle in der Setzung eines mythischen Volksverständnisses bestehen. Das Volk erscheint hier als natürliche Einheit, die von den beschleunigten globalen Verhältnissen permanent angegriffen gewähnt wird. Hinzu kommen Antisemitismus und Antiamerikanismus als die gemeinsamen Nenner, auf die sich Rechte und autoritäre Linke einigen. Das ist nun eigentlich nichts Neues; haben doch auch Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht einen stetig »wachsamen« Blick auf die USA. Bei aller Tradition national-linker bis national-bolschewistischerNationalbolschewismus ist ein schillernder Begriff, der historisch vor allem auf Ränder der sogenannten konservativen Revolution zurückgeht. Dass Nationalbolschewisten wie Ernst Niekisch von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, und er später in der frühen DDR Mitglied der SED und Abgeordneter der Volkskammer wurde, könnte darauf hindeuten, dass es sich um nationalistische Linke gehandelt habe. Stattdessen ist der Nationalbolschewismus als »radikal revolutionäre[r] Nationalismus« zu verstehen, der »in gewisser Hinsicht den äußersten Grad der ›Konservativen Revolution‹ vertritt«. Siehe dazu die Studie: Louis Dupeux: Nationalbolschewismus in Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, 18. Strömungen und angesichts althergebrachter Querfront-Versuche von Eichberg über Kühnen bis hin zum Kampfbund deutscher Sozialisten, ist es hingegen neu, dass sich völkische Welterklärungen vermeintlich schlagartig in großen Teilen der Bevölkerung durchzusetzen vermögen. Verständlich wird dies nur, wenn die gesellschaftliche Situation, in der die EU sich gegenwärtig befindet, in den Fokus gerückt wird.
Im Zuge der Krise hat die EU zunächst an Legitimationskraft eingebüßt – nicht zuletzt dadurch, dass die Formen der Transnationalisierung in den EU-Institutionen diese maßgeblich negativ beeinflussten. Die Komplexität der daraus resultierenden Institutionalität ist eine, zu deren Verständnis viele bisherige Theorieansätze nicht mehr adäquat beitragen können. Daraus haben sich konsequenterweise europaweit neue Formen des EU-Skeptizismus, gar der EU-Ablehnung, entwickelt. Hier treffen sich (neu)rechte und vermeintlich linke Positionen – insbesondere diejenigen aus einer alten antiimperialistischen Theoriebildung, die den Kapitalismus nur als Machtverhältnis zwischen Nationalstaaten denken kann –, da als Fluchtpunkt für beide wieder der Nationalstaat, die Nation und damit die vermeintlich heimelige Gemeinschaft des Volkes fungiert. Meine These ist, dass die gegenwärtige Krise der EU als eine politische Krise verstanden werden muss, und dass sie den Erfolg der Querfront-Aktivitäten begründet. Des Weiteren ebnet diese politische Krise einer Gesellschaftsbetrachtung den Weg, die ich die »Logik der Identität« nennen möchte, und die insbesondere auf linker Seite dazu führt, dass die Kämpfe rechter Gruppen gestärkt statt bekämpft werden.
Politische Krise und Faschisierungsprozesse
Die permanente Krise Europas lässt sich nicht mehr wie noch im Jahr 2008 nur auf die Ökonomie reduzieren. Vielmehr ist das gesamte Projekt Europa, das in der institutionellen Form der EU erscheint, in Frage gestellt. Es ist bezeichnend, dass selbst Wissenschaftler wie Wolfgang Streeck, der sonst des Antikapitalismus eher unverdächtig ist, den Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie zerbrechen sehen. Die ökonomische Misere hat sich in mehreren Etappen zu einer politischen Krise ausgeweitet und es stellt sich die Frage, ob es wie in den 1920er Jahren zur Faschisierung europäischer Gesellschaften kommt. Die Krise ist dabei gekennzeichnet durch eine Situation, in der einerseits alte verfestigte Strukturen fluide werden, in der eine gewisse soziale Öffnung stattfindet. Andererseits aber ist nach Antonio Gramsci zu beobachten, dass »das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann«, dass also mit der Verflüssigung alter Gewissheiten, Strukturen und Bündnisse eine Negativspirale einsetzt, in der der Weg zu einem vernünftigen Neuen sich immer mehr versperrt. Allgemein spitzen sich in dieser krisenhaften Situation gesellschaftliche Widersprüche solchermaßen zu, dass deren Prozessierbarkeit in Frage gestellt ist.Vgl. zum Folgenden Nicos Poulantzas, Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische Internationale und der Faschismus, München 1973. Klassentheoretisch gesprochen bedeutet das: Die Widersprüche zwischen den herrschenden KlassenfraktionenKlassenfraktion bedeutet, dass die ökonomisch Herrschenden, d.h. einfach gesagt, die Produktionsmittelbesitzer_innen, auch in Konkurrenz zueinander stehen. Fraktionen bilden sich um ähnliche Interessen, die wiederum in Konflikten mit den anderen stehen. Können diese Konflikte nicht gelöst werden, dann bleibt die Durchsetzung der Interessen wiederum eine Frage der Macht. lösen sich nicht mehr dadurch, dass eine Fraktion die Hegemonie erlangt, sondern dass ein Zustand der Dominanz besteht, und der Nicht-Prozessierbarkeit nur noch Zwang entgegengesetzt wird. Sichtbar wurde dies beispielsweise in der Griechenlandkrise, in der Deutschland innerhalb der EU ausschließlich mit Zwang agiert hat. Hier wurde außerdem ein zweites Merkmal evident: Die Kapitalfraktionen haben sich teilweise von der politischen Repräsentation entfernt, und insbesondere in der Frage nach einem Euro-Ausstieg offenbarten sich starke Widersprüche zwischen den verschiedenen Unternehmerverbänden.Frederic Heine/Thomas Sablowski, Die Europapolitik des deutschen Machtblocks und ihre Widersprüche. Eine Untersuchung der Positionen deutscher Wirtschaftsverbände zur Eurokrise, STUDIEN der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2013. Ein weiteres Indiz für die Misere der Politik zeigte sich in der sogenannten Flüchtlingskrise, die eher ein Rassismusproblem ist, und in den Debatten um das Asylrecht. Dort wurde die Instabilität der politischen Führung durch offen ausgetragene Widersprüche in der deutschen Regierungskoalition ebenso deutlich wie in der sehr schnellen Durchsetzung des Asylpakets I und der unmittelbar folgenden Debatte um weitere Verschärfungen. Parallel haben sich die Konflikte auf der Ebene der EU verschärft, so dass ihre Legitimität mehr und mehr in Frage gestellt ist. Die EU in ihrer Wettbewerbskonstitution zeigt sich in ihrer spezifischen politischen Form als zunehmend autoritär in der Bearbeitung der Krise, was ein Zeichen der »Krise der politischen Herrschaft über die Gesamtheit der gesellschaftlichen Formation«Poulantzas, Faschismus und Diktatur, 72. ist. Im Zuge dessen verschärfen sich auch die gesellschaftlichen Konflikte und Kämpfe um (vermeintliche) Krisenbearbeitungen und -lösungen. Die Situation der Aufhebung von vormals festen Strukturen und die zunehmend autoritäre politische Form wird auf der Ebene der EU gespiegelt durch die Durchsetzung von »Rettungspakten« jenseits der eigenen Gesetze mittels Quasi-Notverordnungen und durch die zunehmende »Bearbeitung« von Konflikten mit repressiver Gewalt; dies ist die Basis, auf der sich europaweit völkische Bewegungen etablieren und ausweiten können. All diesen Bewegungen ist eigen, dass sie jene gesellschaftlichen Widersprüche in Identitätskonflikte übersetzen. So schaffen sie es, die Logik der Identität zu einer universalen Interpretation für sämtliche Missstände zu machen. Insofern wird der Prozess der Autoritarisierung der politischen Form von zunehmend postdemokratisch agierenden Bevölkerungen begleitet.
Momente regressiver EU-Kritik
Zentral in der Erfolgsgeschichte der Identitätslogik ist die Entwicklung eines umfassenden Motivs, das die tatsächlich autoritäre Struktur der EU uminterpretiert in eine völkisch-nationale Formel, die die nationale Gemeinschaft einerseits als durch die EU angegriffen und andererseits als einziges Bollwerk im Kampf gegen die EU setzt. Darin steckt eine Vorstellung, die die EU als Externes begreift, das mit der Stärkung des Nationalstaates und seiner Souveränität abgewehrt werden müsse. In dieser Vorstellung gleichen sich rechte und autoritäre linke Positionen aneinander an. Sei es die Koalition der griechischen Syriza mit ANEL oder die Aussage des ehemaligen Chefs der italienischen Lega Nord, Roberto Maroni, der die EU-Kritik als internationales, verbindendes Element von Lega Nord und Syriza sieht»Lega Nord: ›Die Kritik an der EU verbindet uns mit Syriza‹«, Die Presse.com, 17. Februar 2015, http://bit.ly/29o2UMs.. Aber auch auf nationaler Ebene gibt es durchaus starke Strömungen in der Linken, die die Nation als Ort des Widerstands gegen die EU propagieren. Abgesehen von offensichtlichen national-bolschewistischen Publikationen wie rotefahne.eu fungiert hier der Autor und ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke des Europäischen Parlaments in Brüssel, Andreas Wehr, schon seit Jahren als Stichwortgeber für eine Nationalisierung der Linken. Das Argument, das Wehr führt, ist folgendes: Die Parole »no border – no nation« sei »der Slogan der Freihändler«, und wer diesem folge, »trägt dazu bei, den historischen Fortschritt rückgängig zu machen, den die Herausbildung der nationalstaatlichen Ordnung in den letzten 200 Jahren darstellt. Der unterstützt die neoliberalen Globalisierer, die nationalstaatliche Souveränitätsrechte schwächen und schließlich beseitigen wollen.«Andreas Wehr, Die Nation und die Linke. Newsletter November 2015, http://bit.ly/29JloYA; Andreas Wehr, No border – No Nation? Die Linken und die Nation, Vortrag von Andreas Wehr im Marx-Engels-Zentrum Berlin am 15. Januar 2016, http://bit.ly/29tIbYO.. Dies speist sich aus einem leninistischen Imperialismusbegriff, der zwei Nationalismen entwirft: einen reaktionären, den der unterdrückenden Länder, und einen progressiven, den der unterdrückten Länder. Um dies kompatibel zu machen zur Forderung, die Linke müsse national werden, bedarf es dann einer Wendung, die angesichts der Dominanz Deutschlands in der EU den deutschen Nationalismus zu den Unterdrückenden zählen müsste, was aber dann seinem Ansinnen, selbst in der eigenen Theoriewelt, widerspräche. Die Wendung besteht in der Behauptung, dass aus Unterdrückern »innerhalb kürzester Zeit unterdrückte Nationen werden können«Andreas Wehr, Falscher Internationalismus, AG Friedensforschung, http://bit.ly/29DNncs.. So kann denn auch die deutsche Nation als vom Imperialismus unterdrückte gedeutet werden, was exemplarisch in der DDR-Verfassung von 1968 festgehalten wurde, in der »die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands« (Artikel 8, Abs. 2) gefordert wurde. Zum Unterdrücker wird auch das »Brüsseler Diktat«, so dass schließlich ein Gegensatz zwischen Europa und den Völkern aufgemacht wird; deshalb solle die klassenkämpferische Linke sich den Kampf um nationale Souveränität zu Eigen machen. Ähnliches findet sich bei einem Beitrag des ehemaligen Vize-Finanzministers Italiens Stefano Fassina auf dem Blog von Varoufakis, in dem er eine kontrollierte Desintegration des Euro propagiert und zur Erreichung dessen eine breite Allianz nationaler Befreiungsfronten von progressiven bis zu rechten Parteien vorschlägt.Stefano Fassina, For an alliance of national liberation fronts, Yanis Varoufakis – thoughts for the post-2008 world, http://bit.ly/29wrlXN. Das Zentrum dieser Anti-EU-Motive ist die Vorstellung souveräner Nationen. Der Souveränitätsbegriff ist dabei der Knoten, an den sich rechte wie linke Nationalismen knüpfen.Holger Oppenhäuser/Ingo Stützle, Das Volk als Wille und Vorstellung. Die Forderung nach »Souveränität« ist für politische Emanzipationsprozesse mehr Irrlicht als Orientierungspunkt, in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis 595 (2014). Hier verbinden sich die Vorstellungen, die sich vor allem aus antiamerikanischen Versatzstücken speisen, und die, wie bereits erläutert, in der Konstitution der Mahnwachen und in dem Querfront-offenen Teil der Friedensbewegung eine maßgebliche Rolle spielen. Spätestens mit dem Nachfolge- oder Abspaltungsprojekt Endgame, Engagierte Demokraten gegen die Amerikanisierung Europas, ist das explizit geworden. Hier wird die NATO zu einem reinen US-Projekt erklärt, die CIA führe »manchem deutschen Journalisten die Feder« (Oskar Lafontaine) und die Panama-Papers seien gezielte Meinungsmache, denn es tauche kein »einziger veröffentlichter Name aus den USA« auf (Sahra Wagenknecht). Gekrönt wird dieser Antiamerikanismus von der Behauptung, die USA würden Migration als Waffe einsetzen, um Europa zu destabilisieren und seine Völker zu zerstören – so als prominentester Vertreter Peter Sloterdijk in der Zeitschrift Cicero. Die darin liegende Identifizierung der EU mit den Interessen der USA beziehungsweise der »Finanzmafia« (Sahra Wagenknecht) verkennt die transnationalen Strukturen der politischen Ökonomie des Kapitals und setzt an die Stelle der Kritik die alte dualistische Vorstellung der unterdrückten, durch die abstrakt-kosmopolitisch flottierende Kapitalinteressen ihrer Souveränität beraubten Völker.
Mit den Mahnwachen für den Frieden hat sich eine solche souveränistisch-dualistische Sicht auch auf weltpolitischer Ebene konkretisiert, indem Russland als Gegenmodell propagiert wird. Diese Hinwendung zu Russland, von den Mahnwachen über Pegida, von Gauland bis zu Teilen der Linken, von Teilen der Friedensbewegung bis Jürgen Elsässer, speist sich aus der realen Stellung von Putins Russland gegen die NATO, die USA und die EU. »Putin erscheint so als eine Führungsfigur, die rigoros gegen die konspirativen Machenschaften der Finanzoligarchie vorgeht, die vor allem aus den USA über die FED agiert und versucht, die ganze Welt ins Chaos zu stürzen und so die Einheit Russlands wahrt.«Philipp Berg, Thesen zur Putin-Idealisierung der Montagsmahnwachen für den Frieden, in: Freie Assoziation 18/2 (2015) 107–110, 108. Zum einen findet sich in Putin eine Führerfigur, die als Projektionsfläche für völkische Träume sehr geeignet ist, zum zweiten tradiert sich hier ein völkisches Motiv des Nationalbolschewismus, das in Russland vor allem das Gegenteil der westlichen Moderne erkannt hat. Die militärische Auseinandersetzung in der Ukraine wird vor dieser Folie so gedeutet, dass Russland noch ein souveränes Land sei und deswegen auch militärisch vorgehen darf, um die Einheit zu gewahren, dass Russland sich im Gegensatz zur nicht-souveränen Regierung in Deutschland gegen den Westen, der als undurchsichtiges Netz aus den USA und der EU gedacht wird, wehren könne.Daniel Keil, Die Erweiterung des Resonanzraums. Pegida, die Aktualisierung des Völkischen und die Neuordnung des Konservatismus, in: Prokla 180 (2015), 371–385. Schließlich folgt aus einer solchen souveränistischen Auffassung nicht zufällig eine für Linke bemerkenswerte Positionierung in der Flüchtlingsdebatte; exemplarisch hat Sahra Wagenknecht nach den Übergriffen zur Jahreswende 2015/2016 in Köln vom Gastrecht gesprochen, das auch durch Missbrauch verwirkt werden könne. Auch wenn sie damit in der Fraktion der Linken relativ isoliert war, so hatte sie doch Unterstützer, die tatsächlich nur Männer waren und aus den Reihen derer kamen, die wie Dieter Dehm und Wolfgang Gehrke auch für eine Zusammenarbeit mit den Mahnwachen für den Frieden stehen. Lob kam dafür, wenig überraschend, ebenfalls aus der AfD. Dass gerade diejenigen Linken, die sich immer selbst am radikalsten wähnen, dabei dem Ausschluss des transnationalen Surplus-Proletariats aus der Menschheit das Wort reden, resultiert letztlich aus dem Wunsch nach dem homogenen Nationalstaat.
Es lässt sich also zusammenfassen, dass sich solche Positionierungen als anschlussfähig zu völkischen Positionen zeigen, die in ihrem Antimodernismus das Volk gegen die EU setzen. Die Behauptung, die Unterscheidung von rechts und links sei veraltet, wird dabei zu einem wesentlichen Motiv von Querfront-Verbindungen in der EU-Ablehnung. Das solchermaßen von inneren Antagonismen befreite »Volk« kann als von außen unterdrücktes konstruiert werden, welches endlich seine Souveränität wieder erlangen müsse. Dieses Motiv liegt daher dem völkischen Projekt Europa – dem Europa der Vaterländer – zugrunde, dem auch Linke mit einer EU-Kritik, die die EU nur als Handlanger der USA und des Imperialismus begreift, zuarbeiten, ob sie wollen oder nicht. Es ist eben eine Interpretation der Verhältnisse in der Logik der Identität, die nur dazu führen kann, dass der Resonanzraum für identitäre Politikformen erweitert wird.
Emanzipatorische EU-Kritik?
Der Komplexität der EU ist daher nicht mit solchen Vereinfachungen und schon gar nicht mit einer Rückkehr zum Nationalstaat beizukommen. Auch wenn es sicherlich stimmt, dass die EU in ihrer Wettbewerbskonstitution eine autoritäre Institutionalität aufweist, die selbst den Ideen der parlamentarischen Demokratie nicht genügt, so ist es dennoch falsch, den Nationalstaat als Gegenbild zu setzen. Denn das verkennt die tatsächliche Europäisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, deren Ausdruck die EU eben auch ist. Die institutionelle Struktur erschöpft sich nicht in ein paar multilateralen Institutionen auf europäischer Ebene neben den nationalstaatlichen, sondern vielmehr hat sich eine Form von Staatlichkeit entwickelt, die aus einem komplexen Zusammenwirken von subnationalen, nationalen, supranationalen und europäischen Apparaten besteht, und die nicht in einem dualistischen Modell aufgeht. Die Nation ist keine natürliche Gemeinschaft, sondern konstituiert sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen und ist dabei auch ein Teil der zu überwindenden Zustände. Die Vorstellung, dass souveräne Nationen und Nationalstaaten die politische Krise überwinden könnten, reproduziert damit genau jene gewaltförmigen Verhältnisse. Einerseits wird durch die grundsätzliche Annahme, Grenzen seien notwendig – so beispielsweise Andreas Wehrs These, die Forderung »no border« wäre identisch mit den Interessen bestimmter Kapitalfraktionen – von der räumlichen Struktur kapitalistischer Vergesellschaftung abgesehen. Anderseits verstellt eine solche Perspektive die Analyse der spezifischen Territorialität der EU und die durchaus differenzierte Ordnung ihrer Grenzen. Stattdessen nimmt sie den Begriff der Souveränität nur dualistisch wahr: Grenze = Souveränität, keine Grenze = Kapitalinteressen. Ebenfalls unbegriffen bleibt dabei die mit der Entwicklung der EU-Territorialität zusammenhängende Bildung europäischer Identität, die ebenfalls nicht, wie sich Habermas das noch vorgestellt hat, einen Schritt zur Freiheit bedeutet, sondern die Rekonfiguration des Nationalen und seiner Exklusivität. Es ist daher kein Wunder, dass Linke, die sich innerhalb der Identitätslogik positionieren und die Nation als Ort des Widerstands begreifen, auch in der Auseinandersetzung mit Migrationsprozessen in Abgrenzung und strukturellem Rassismus landen. Anstatt als Gegenmodell muss daher das völkisch-nationale Projekt Europa als Teil der gegenwärtigen EU-Strukturen analysiert werden, in dem sich in regressiver Form die Autoritarisierung der polit-ökonomischen Verhältnisse radikalisiert. Eine Linke die sich in die Logik der Identität begibt und an einem nationalen Projekt Europa mitarbeitet dementiert sich selbst.
Daniel Keil
Der Autor ist Mitglied des Arbeitskreises kritische Europaforschung (AkE), pendelt zwischen Job und Jobcenter in Frankfurt, und spielt in einer sehr lauten Doom-Noise-Band.