Mit den Kampagnen für die U.S.-Präsident-schaftswahlen 2016, vor allem jenen der Establishment-Herausforderer Donald Trump und Bernie Sanders, kehren die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Am auffälligsten ist, dass die Sanders-Kampagne das Wort »Sozialismus« wieder in den politischen Mainstreamdiskurs eingeführt hat. Es ist allerdings klar, dass Sozialismus in Sanders Sinne einfach New-Deal-Sozialdemokratie bedeutet – trotz des Posters des Sozialisten Eugene V. Debs, das in Sanders Büro hängt.Andrew Prokop, Read Bernie Sanders‘s speech on democratic socialism in the United States, vox.com, 19. November 2015, http://0cn.de/301d ; Dylan Matthew, A leading socialist explains what Bernie Sanders’s socialism gets right – and wrong: An interview with Jacobin magazine editor Bhaskar Sunkara, Vox.com, 20. November 2015, http://0cn.de/7zi2. Dieses aktuelle Gespenst des Sozialismus ist genau das, was die AnhängerInnen der Tea Party sich darunter vorstellen. Wie Marx vor über 150 Jahren schrieb: »Jede Forderung der einfachsten bürgerlichen Finanzreform, des ordinärsten Liberalismus, des formalsten Republikanertums, der plattesten Demokratie, wird gleichzeitig als ›Attentat auf die Gesellschaft‹ bestraft und als ›Sozialismus‹ gebrandmarkt.«Karl, Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 8, Berlin/DDR, 1960, 123.
Aber nur, weil Sanders die Verwünschung, die jedem Vorschlag der Reform des Kapitalismus entgegen geschleudert wird, begrüßt statt ablehnt, wird Marx‘ Vorwurf nicht weniger wahr: Sanders geht es um bloße Reformen, um Ethik. Aber er macht nichtsdestotrotz Eindruck.Ben Geier, Bernie Sanders is a socialist, but he’s not a Socialist, Fortune, 19. September 2015, http://0cn.de/88q8; Ben Geier, Bernie Sanders just addressed the biggest question of his campaign, Fortune, 19. November 2015, http://0cn.de/i2ht. Sanders‘ Kandidatur scheint die in der Krise und dem Abschwung von 2008 aufgekommenen Forderungen und die Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus aufzugreifen und sich somit zum Vehikel für die Generation der nach 2012 von Obama und den DemokratInnen desillusionierten Occupy-Wallstreet-AktivistInnen zu machen.Walker Bragman, More like Reagan than FDR: I’m a Millennial and will never vote for Hillary Clinton, salon.com, 30. November 2015, http://0cn.de/esjv. Sie sind unzufrieden mit dem Neoliberalismus, der selbst aus der 1973 beginnenden Krise und der anschließenden antikommunistischen »Reagan Revolution« hervorging.
Wie die Occupy-Generation die Leiche der Sozialdemokratie fleddert, indem sie Sanders als Vorkämpfer für Reformen unterstützt, erinnert an den Achtzigerjahre-Film Immer Ärger mit Bernie (1989). Im Film verstecken sich die Protagonisten hinter der Leiche des gleichnamigen Mannes, um ihre eigenen Untaten zu verbergen – im gegenwärtigen Fall eine schwerlich naiv zu nennende, regressive Anbiederung an die Demokratische Partei. Wie Sanders in »linke« Opposition gegen den Zentrismus der demokratischen Partei geht – nicht, indem er sich ihm entgegenstellt, sondern indem er den Zentrismus inhaltlich zu dominieren versucht – ähnelt der Kampagne des Bürgerrechtlers Jesse Jacksons, der sich in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts um eine Präsidentschaft für die Demokratische Partei bewarb.
Seit ihrem Beginn im Mai 2015 war Sanders‘ Kampagne überraschend und zunehmend erfolgreich, erreichte dann aber bald ein Plateau. Zwar sah es für einen Moment so aus, als wäre Hillary Clintons Kandidatur durch die Bengasi-Vernehmungen (zum Anschlag auf das libysche US-Konsulat am 11. September 2012; Anm. d. Red.) in Gefahr. Sogar Obama stellte die demokratische Favoritin bloß, als er in einem Interview für 60 Minutes anerkannte, dass Clinton ihren Mailverkehr als Außenministerin falsch gehandhabt hatte. Im gleichen Interview behauptete Obama, dass er eine dritte Wahl gewinnen würde und dass – was das gleiche bedeutet – Joe Bidens Erfahrung als Vizepräsident diesen hervorragend zum Präsidenten qualifiziere. Doch Clinton überlebte die Bengasi-Affäre und Joe Biden zog sich aus dem Präsidentschaftswahlkampf zurück.
Linke und Rechte DemokratInnen vereinen
Die DemokratInnen stehen seit den Zwischenwahlen 2014 vor der Herausforderung, die sogenannte Obama-Mehrheit zu reproduzieren, die ihnen bei den Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012 zum Sieg verhalf.Jonathan Martin, After losses, liberal and centrist Democrats square off on strategy, New York Times, 14. November 2014, http://0cn.de/4ag8. Die Lösung sehen viele darin, die AnhängerInnen des demokratischen Zentrums und der Linken zu vereinen: Mit der Linken sind die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft und andere mit sozio-ökonomischen Themen Beschäftigte gemeint, das Zentrum – in Wahrheit die Rechte – sind die in Identitätspolitik, vor allem für Frauen, Schwarze und Schwule Engagierten. Diese vielleicht fatale Spaltung der DemokratInnen wurde in der Chicagoer Bürgermeisterwahl 2015 sichtbar, in der Obamas früherer Stabschef, Bürgermeister Rahm Emanuel, von seinem Parteikollegen, Jésus »Chuy« García herausgefordert wurde. García hatte die Unterstützung der Chicagoer Lehrergewerkschaft, die 2012 gegen Emanuel und seine neoliberalen Reformen ankämpfte und versuchte, den aus Chicago stammenden Obama ausgerechnet während seiner Kampagne für die Wiederwahl bloßzustellen.
In dieser Chicagoer Bürgermeisterwahl unterstützten schwarze DemokratInnen den neoliberalen Emanuel gegen den »linken« García. Das war nicht nur eine Spaltung zwischen Schwarzen und Latinos, sondern noch vielmehr eine Spaltung innerhalb der gewerkschaftlichen Basis der DemokratInnen und gleichzeitig eine Abspaltung dieser Basis von der neoliberalen Politik der demokratischen Parteiführung, die auf ethnische Wählergruppen und »Communities« abstellt. Der frühere Black Panther und heutige U.S. Kongressabgeordnete Bobby Rush prangerte etwa Garcìas Kampagne als den Versuch an, sich den Anschein eines neuen »Harold Washington« zu geben. Harold Washington war der erste schwarze Bürgermeister Chicagos, er setzte sich mit großer Mehrheit gegen den zuvor beherrschenden politischen Apparat des autoritären Richard J. Daley durch. Rush implizierte, eine solche Mehrheit könne, wenn überhaupt, nur unter einer schwarzen, nicht unter einer Latino-Führung wieder erreicht werden. Das heißt aber tatsächlich: durch eine neoliberale Rechts-/Zentrums-Mehrheit, nicht durch Gewerkschafts-orientierte Politik. Harold Washington wurde damals durch die Linke unterstützt, sein Kampagnenchef war ein früherer Maoist. Für Rush und andere schwarze DemokratInnen in Chicago ist Emanuel der Kandidat, der die »Washington-Mehrheit« erobern kann. Wie Obama es war und wie Clinton es sein wird. Tatsächlich gab erst Garcías Herausforderung Emanuel die Chance auf einen Wählerauftrag, die er zuvor nicht hatte: Nun stimmte eine Mehrheit für seine neoliberalen Politiken. Der Neoliberalismus wurde, von einer Krise weit entfernt, weiter gegen jede Infragestellung konsolidiert. Das ist eine Lektion für Sanders-UnterstützerInnen: Wenn Clinton in den Vorwahlen als demokratische Präsidentschaftsbewerberin bestimmt wird, werden sie dem Neoliberalismus unfreiwillig ein Mandat gegeben haben.
Es ist ungewiss, ob Clinton es vermag, die Linke und die Rechte der DemokratInnen zu vereinen. Und selbst wenn, wird sie keinen ähnlichen Enthusiasmus erzeugen können wie Obama noch 2008. Am wenigsten unter den ArbeiterInnen. So versprach Obamas Kampagne 2008 der organisierten Arbeiterschaft noch, im Falle einer demokratischen Mehrheit im Kongress den Employee Free Choice Act zu verabschieden. Dieser hätte vor allem die Bildung von Betriebsräten deutlich erleichtert und ihre Rechte gestärkt, wurde allerdings nach der Wahl sang- und klanglos fallen gelassen. Obamas Kampagne forderte und erreichte hingegen eine Wiedervereinigung der Arbeiterschaft im US-Kanadischen Gewerkschafts-Dachverband AFL-CIO, nachdem sich die Change to Win-Dachorganisation 2005 von diesem abgespalten hatte. Ziel war es, nur mit einer, statt mit mehreren Gewerkschaftsorganisationen verhandeln zu müssen. Vor allem in der potentiell explosiven ökonomischen Krise im Jahr 2008 wollte Obama die Gewerkschaften so unter Kontrolle bringen. Die DemokratInnen erlebten damals keinen Aufstand der ArbeiterInnen, ebenso wenig steht heute einer zu erwarten. Dieses bittere Erbe tritt Sanders an, der seine »politische Revolution« explizit als eine Strategie bezeichnet hat, durch Steigerung der Wahlbeteiligung, vor allem unter neuen, jungen WählerInnen, mit den DemokratInnen wieder die Mehrheit im Kongress zu erobern. Eine Mehrheit, die sie von Obamas Wahl bis zum Tea-Party-Aufstand 2010 bereits hatten. Sanders hat sich selbst für die Wahl 2016 als den besseren Anführer der DemokratInnen dargestellt. Das Problem lag in der demokratischen Rechten: Sanders‘ angebliches »Problem mit Frauen und Schwarzen«. Clinton habe angeblich ihre Anziehungskraft auf die identitätspolitischen Bewegungen erhalten können, trotz einiger Probleme mit der »Black Lives Matter«-Bewegung und der Erinnerung vieler Schwuler, dass beide Clintons zur Gleichstellung der homosexuellen Ehe wenig beigetragen haben. Der vorhersehbare Charakter von Clintons Nominierung, gerade als weibliche Kandidatin, hat eine Selbstgefälligkeit erzeugt, die sich bei der Wählermobilisierung nicht unbedingt auszahlen muss.Michael Eric Dyson, Yes she can: Why Hillary Clinton will do more for black people than Obama: A skeptic’s journey, The New Republic, 29. November 2015, http://0cn.de/aceb.
Die Antwort auf die Tea-Party-Bewegung
Die »linke« Unterstützung für Sanders besteht vor allem in den angeblichen »brocialists« – also heterosexuellen, weißen Männern, die den Feminismus für eine Nebensache halten. Sanders‘ »Sozialismus« bedeutet einen Rückschlag gegen den identitätspolitischen Flügel der DemokratInnen, ist also der Versuch, zur historischen Rolle der Partei als ökonomische Reformerin zurückzukehren. Sie reicht zurück bis auf Franklin D. Roosevelts New Deal und Lyndon B. Johnsons Great Society-Reformprogramm (großangelegte wirtschafts- und sozialpolitische Reformprojekte in den dreißiger und sechziger Jahren; Anm. d. Red.), die die RepublikanerInnen so unter Druck setzten, dass selbst die ökonomischen Politiken Eisenhowers und Nixons »links« derjenigen der Clintons stehen. Es besteht auch vielerorts der Eindruck, dass Sanders in der Stimmung nach 2008 eine ältere, desillusionierte Generation von WählerInnen ansprechen und zurückgewinnen könnte. Gemeint sind die sogenannten »Reagan-DemokratInnen«, also weiße, eigentlich demokratisch geneigte MittelständlerInnen, deren wechselhafte politische Haltung den RepublikanerInnen seit den achtziger Jahren Triumphe ermöglichte, die sich aber nun, nach 30 Jahren Neoliberalismus, um die Aufstiegschancen sorgen, die sie ihren Kindern und EnkelInnen hinterlassen.Christopher C. Schons, From Reagan to Bernie Sanders: My political odyssey, Counterpunch, 4. November 2015, http://0cn.de/gk4a.
Sanders bietet also den DemokratInnen eine Antwort auf die Tea-Party-Bewegung an, die seit 2010 fehlte. Das wurde in der überkochenden Frustration der Occupy-Wallstreet-Proteste im Jahr 2011 deutlich. Eine neue Generation von AktivistInnen konnte unter dem Slogan »Holt das Geld aus der Politik!« versammelt werden. Besonders in Opposition zu der Entscheidung des Supreme Courts 2010 gegen Citizen United, die Präsidentschaftskampagnen unbegrenzte Ausgaben gestattete. Sanders bedient die Kernthemen dieser Generation, vor allem die Themen soziale Gerechtigkeit und Erosion der Demokratie. Die Frage ist nur, ob die Sanders-Kampagne ernst gemeint ist oder nur eine Protest-Taktik, um die Clinton-Maschine, wie geringfügig auch immer, zu verlang-samen und umzulenken.Bruce A. Dixon, Presidential candidate Bernie Sanders: Sheepdogging for Hillary and the Democrats in 2016, Black Agenda Report, 6. Mai 2015, http://0cn.de/rwtp. Sanders‘ Behauptung, dass eine höhere Wahlbeteiligung auch ein Stimmengewinn für die DemokratInnen bedeutet, ignoriert, dass nicht nur die RepublikanerInnen sondern auch die DemokratInnen selbst vom Ausschluss bestimmter Wählergruppen profitieren – vor allem vom Ausschluss junger Schwarzer, besonders in den demokratischen urbanen Hochburgen. Die DemokratInnen haben kein Interesse an einer breiten Wahlmobilisierung, nicht einmal an den harmlosesten und kraftlosesten symbolischen Gesten in diese Richtung – siehe ihr Verhalten gegenüber Black Lives Matter – und versuchen sie deshalb einzudämmen.Glen Ford, Blacks will transform America, and free themselves, but not at the ballot box in 2016, Black Agenda Report, 21. Oktober 2015, http://0cn.de/zf8s.
Nicht zuletzt weil die DemokratInnen die politische Verantwortung nicht wollen, die mit großen Mehrheiten einherginge. Das wurde von 2008 bis 2010 klar, als sie ihre absolute Mehrheit im Kongress angestrengt dafür einsetzten, die völlig unterlegenen RepublikanerInnen zu besänftigen. Jede substanzielle Steigerung der Wahlbeteiligung würde die politische Integration vor Schwierigkeiten stellen. Man denke nur an die Kampfansage der Tea Party an das republikanische Establishment, das sehr gern auf solche Berserker in den eigenen Reihen verzichten würde. Sogar schon vor der Tea-Party-Bewegung, während der Rettungsaktionen für Banken im Jahr 2008, war es unklar, ob republikanische Kongressabgeordnete nicht letztlich ihrer eigenen neoliberalen Rhetorik zum Opfer fallen würden, statt die notwendigen Schritte zu unternehmen, um einen vollständigen Finanzkollaps zu verhindern. Die internationalen Finanzmärkte sorgen sich ständig um die Folgen der »politischen Paralyse« in den USA, die sich aus der Geiselnahme der Republikanischen Partei durch die Tea Party ergab. Die DemokratInnen wären mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar mehr, mit solcherart renitenten WählerInnen konfrontiert, vor allem auf der lokalen Ebene der Stadt- und Bundesstaatenverwaltungen.
Der Neoliberalismus muss als eine Gewöhnung an und als eine Verstärkung von der sozialen und politischen Demobilisierung nach den sechziger Jahren begriffen werden. Das ist zum Beispiel im Schrumpfen der Gewerkschaften und anderer zivilgesellschaftlicher Institutionen sichtbar, das einsetzte, als diese ihre ursprüngliche, linke raison d’être aufgaben und sich in die von der Frankfurter Schule als »verwaltete Welt« bezeichnete Formation integrierten. Schon der amerikanische Soziologe C. Wright Mills und andere PolitikwissenschaftlerInnen konnten diese Formation nach dem Verschwinden der politischen Radikalisierung der dreißiger Jahre im Zweiten Weltkrieg beobachten. Was blieb, war eine von den politischen Parteien getragene »Machtelite«. Aber selbst diese Struktur ist seit den sechziger Jahren verkümmert. Ihre Privatisierung durch NGOs bedeutete kein Wiedererstarken der Zivilgesellschaft, sondern ließ das politische Feld seit den achtziger Jahren ohne eine substanzielle Reformmacht zurück. Selbst das, was Eisenhower im Kalten Krieg als »militärisch-industriellen Komplex« anprangerte, wurde nach dem Irakkrieg als zwar schwer korrupte und regellose Veranstaltung kenntlich, nicht aber als eine politische Kraft, mit der man rechnen muss. Zwar verschleudern korrupte Staatsbedienstete enorme Summen an Subunternehmen, aber daraus entsteht kaum einmal politische Kontrolle dieser Wirtschaft über die Politik. Donald Rumsfeld etwa zog nicht nur gegen Feinde in Afghanistan und im Irak in den Krieg, sondern ebenso gegen das Pentagon selbst: Zur Verbitterung der Offiziere setzte er seine neoliberale Privatisierungskampagne zur »Gesundschrumpfung« des Militärs selbst während insgesamt steigender Staatsausgaben fort. Seit den sechziger Jahren grassiert die »politische Unverantwortlichkeit«, die C. Wright Mills in der Kombination von »linker Rhetorik und konservativer Fahrlässigkeit« sah, noch ungehinderter. Tatsächlich scheint Mills immer noch zu optimistisch gewesen zu sein, angesichts der noch düsteren Gegenwart. Das politische Establishment ist wirklich ziemlich fadenscheinig geworden und offensichtlich schwer verwirrt, nicht gerade eine überzeugende »Machtelite«. Aber wir wissen ja: »Es gibt keine Alternative«.
Die Festigung des Neoliberalismus in der Krise
Die Frage ist, ob die 2008 einsetzende Krise eine Gelegenheit war, den Neoliberalismus zurückzudrängen und die Politik der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts rückgängig zu machen oder ob sie den Neoliberalismus vielmehr weiter gefestigt hat. Doch die Voraussetzung für die Überwindung des Neoliberalismus ist, dass überhaupt eine organisierte politische Kraft existiert. Die DemokratInnen sind eindeutig eine solche Kraft. Die Krise in Europa hat sich als Anlass zur Festigung des Neoliberalismus herausgestellt, nicht als Rückkehr der Sozialdemokratie – trotz Syriza, Podemos und trotz Jeremy Corbyns Versuch, die britische Labour Party dem Blair-Nachfolger aus den Händen zu reißen und deren spektakulär nicht-überzeugenden Kurs des Dritten Wegs zugunsten eines abgelagerten achtziger Jahre Stils à la Tony Benn zu korrigieren.
Sanders besitzt offensichtlich mehr politische Haltung als Clinton jemals haben wird. Das erinnert an die heroische linke Opposition während der Reagan-Zeit, weshalb Sanders‘ AnhängerInnen liebevoll nach den nicaraguanischen SandinistInnen benannt wurden, die gegen den Somoza-Clan kämpften. Ein Kernthema der Sanderistas ist die Anti-Kriegs-Bewegung der Bush-Ära in den Jahren um 2000. Wie Corbyn war Sanders gegen den Irakkrieg, was ihn für die Linke zugänglich macht. Eröffnet die Sanders-Kampag ne die Möglichkeit eines politischen Wandels, oder ist sie das letzte Zucken der Occupy-Bewegung, bevor sie erwachsen wird und in die Gemeinde der Demokratischen Partei eintritt? Indem er seine bisherige altmodische Sechziger-Jahre-»Unabhängigkeit« von den DemokratInnen aufgab, wies Sanders einer jungen Generation von Aktivist-Innen den Weg.
Die Linke mag sich Sanders‘ Kampagne gern als eine potentielle Gefahr für die Demokratische Partei vorstellen, so wie Corbyns Vorsitz in der Labour Party als Krise und Möglichkeit für die Linke verstanden werden könnte. Es ist aber wahrscheinlicher, dass Sanders der Clinton-Kampagne 2016 eher zuarbeiten wird, statt sie zu untergraben. Genau wie Corbyn die Labour Party retten und nicht zerstören wird. Zumindest ist das sein erklärtes Ziel.
Welche politische Bewegung, wenn überhaupt, kann aus der Sanders-Kampagne entstehen? Die Sanderistas begreifen ihre Kampagne sicherlich nicht als Anbiederung an die Demokratische Partei, sondern hoffen, sie zu verändern. Wie bei García in Chicago ist die Hoffnung, dass sich neue Kräfte mobilisieren lassen, die auch nach der Wahl erhalten bleiben. Aber wird das innerhalb oder außerhalb der Demokratischen Partei sein? Vielleicht beides. In den achtziger Jahren wurden die Democratic Socialists of America (DSA) gegründet, 2004 entstanden die Progressive Democrats of America (PDA) aus Howard Deans und Dennis Kucinichs Präsidentschaftskampagnen. Die DSA waren, in den Worten ihres Gründers Michael Harrington, »der Rest eines Rests« der Neuen Linken, die PDA war in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung der DSA. Das sind nicht gerade vielversprechende Möglichkeiten für die Sanderistas nach 2016. Die DSA unterstützten Jesse Jacksons demokratische Präsidentschaftskandidatur, die Sanders als Protest gegen den Reaganismus ebenso befürwortete. Die Präzedenzfälle der achtziger Jahre legen nahe, dass die Linke sich der Demokratischen Partei stetig annähern wird, indem sie gegen deren Rechtsentwicklung protestiert.
Sanders demonstriert ebenso wie Trump die Leere der beiden US-amerikanischen Parteien, und sei es nur durch die Unfähigkeit des Establishments, beide Kandidaturen aufzuhalten. Die Parteien sind nicht mehr die gut geschmierten Maschinen, die sich im 20. Jahrhundert im Konflikt mit der Linken behaupten konnten. Sie sind kaum mehr als Marken, in die sich jeder einkaufen kann – ob im großen Stil wie der Milliardär Trump oder die Koch Brüder, oder durch die vielen kleinen Spenden, die Sanders und Obamas Kampagnen trugen. Clinton ist immerhin noch darauf angewiesen, die Unterstützung der Gewerkschaften und bestimmter Kapitalfraktionen einzuwerben. Doch in jedem Fall steht kein politischer Prozess hinter einer Kandidatur, sondern nur die Ästhetisierung der Politik als Konsumartikel.Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1980, 431–469. Als solcher erhält sie den typisch postmodernen Anstrich eines unparteiischen Eklektizismus: »Politik« ist, was jede und jeder selbst draus macht. Das wird sogar als eine Tugend des lähmenden Konflikts behauptet, der auftritt, wenn sich Präsidentschaft und Kongressmehrheit in den Händen unterschiedlicher Parteien befinden.
Stabil im Stillstand
Der wahrscheinlichste Ausgang ist der, dass Clinton Präsidentin wird, die RepublikanerInnen jedoch die Mehrheit im Kongress behalten und sich so das Patt und der Stillstand reproduzieren, die die US-Politik um einen neoliberalen Konsens herum stabilisieren. Der Stillstand ist stabil, weil in ihm bestimmte soziale Themen zwar obligatorische Erwähnung und Anerkennung finden, ohne jedoch debattiert oder gar angegangen zu werden. Seit die DemokratInnen unter Obamas neoliberaler Führung den »Kulturkrieg« gewonnen haben, hat sich eine neue Arbeitsteilung mit der Republikanischen Partei etabliert. Die Republikaner repräsentieren heterosexuelle weiße Männer, vor allem in ländlichen oder ehemals urbanen Gebieten, die DemokratInnen, unter der Führung der neoliberalen Mitte/Rechten, repräsentieren Frauen, Schwarze und Schwule und ihre kleinbürgerlichen, ethnisch definierten Communities im urbanen und suburbanen Raum. Willkommen in der neuen Normalität. Sie begann schon in den achtziger Jahren mit Reagans Präsidentschaft, unter der die DemokratInnen die Kontrolle über den Kongress erhielten.
In den Achtzigern galten Yuppies, also erwachsene Kinder der Sechziger, als modern, aber konservativ. Heute werden sie Hipster genannt und gelten als links und völlig normal. Sie umfassen alle, vom College bis ins mittlere Alter, und werden in Wahlanalysen als »Wähler unter 50« bezeichnet, das heißt, sie sind die Generation, die nach den achtziger Jahren erwachsen wurde. Sanders schneidet (wie Trump) unter ihnen am besten ab, während Clinton die meisten Stimmen bei den über 50-jährigen holt. In den Achtzigern konsolidierten die Identitätspolitiken die Normalität des Neoliberalismus in der Reagan-Revolution. Das wird exemplarisch an dem, was Adolph Reed das Jesse-Jackson-Phänomen nannte. Es hat sich bis in die Gegenwart gehalten, durch so anerkennenswürdige wie konservative Maßnahmen wie die Gleichberechtigung der homosexuellen Ehe. Obama hat keinerlei sozialen Wandel selbst angestoßen, er hat ihn lediglich rechtlich legitimiert. Doch wo Obama zumindest Change symbolisierte, bedeutet die neue Post-sechziger-Jahre-Generation von Sanders und Clinton einen Rückschritt: abgeschwächte Erwartungen. Sanders‘ Versuch, das politische Erbe der in den achtziger Jahren gescheiterten, ehrwürdigen New-Deal-Politik der »alten Linken« der dreißiger bis sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts anzutreten, wird diese Linke nicht wiederbeleben, sondern endgültig begraben.
Es wird keine politische Revolution geben, außer die, die sich seit den achtzigern schon längst vollzieht. Die letzten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden vom selben »Ende der Geschichte« in Beschlag genommen, zu dem auch das 21. Jahrhundert bislang und auf unabsehbare Zeit gehört. Daniel Ortegas Rückkehr an die Macht als Teil der größeren lateinamerikanischen »rosa Flut« (d.i. die Linksentwicklung in Lateinamerika um die Jahrtausendwende; Anm. d. Red.) war die finale Niederlage – oder war es doch der ultimative Triumph? – der SandinistInnen und setzte aller linken Nostalgie nach den achtziger Jahren ein Ende, die Ortega vielleicht gesetzt hatte. Das gleiche gilt für Sanders: Als Überbleibsel der Reagan-Ära kann er heute nur in der Funktion den linken Geist aufzugeben ein Mainstream-Phänomen werden. Die sechziger Jahre wurden in den achtziger Jahren nicht besiegt, sondern institutionalisiert. Schon heute ist dieser gerade erst vergangene Prozess vollständig naturalisiert, die sechziger Jahre sind in Fernsehformaten als historische Kuriosität domestiziert. Heute müssen – im Unterschied zu 2008 – nicht die sechziger sondern die achtziger Jahre integriert werden. Nicht das Gespenst des früher radikalen Weather Underground–Terroristen Bill Ayers wird 2016 heimsuchen, sondern Sanders, der 80er-Jahre-Bürgermeister von Burlington, Vermont.
Die Linke der sechziger Jahre, an der Sanders und Clinton – und Corbyn – sich beteiligten, konnte und wird den Sozialismus nicht wiederbeleben. Sie konnte das Ableben des Great Society-Projekts nicht nur nicht verhindern, sondern wirkte selbst tatkräftig daran mit. Doch wie sehr auch immer sie das heute bedauern mag, dieses Bedauern ist kein Blick nach vorne, sondern nur der auf die eigene Pensionierung.
Genau wie die Wahl Clintons 1992 nicht den Reagan’schen Neoliberalismus umkehren konnte, könnte Sanders‘ später Protest heute den Sieg des Neoliberalismus auf ganzer Linie besiegeln. Margaret Thatcher beanspruchte Tony Blair als ihre ultimative Errungenschaft. Sanders‘ Versuch, sich von Hillary vor ihrer Wahl zu Clinton II zu unterscheiden, wird so der endgültige Sieg der achtziger Jahre sein.
Postskript über die Vorwahlen vom 15. März 2016
Die Vorwahlen zur Nominierung der Demokratischen und Republikanischen KandidatInnen haben das Ausmaß der Verwirrung in beiden Parteien demonstriert. Sanders hat Clinton erfolgreich herausgefordert und ist von einem bloßen Boten des Protests zu einem echten Herausforderer geworden. Aber die Wahlbeteiligung beschränkte sich weitgehend auf die etablierte Wählerschaft der DemokratInnen, was Sanders‘ Wirkung begrenzte. Die Wahlbeteiligung ist nicht in dem Ausmaß gestiegen, wie Sanders es erhofft hat. Die Vorwahlen der RepublikanerInnen hingegen haben in dieser Hinsicht neue Größenordnungen erreicht.
Donald Trump ist 2016 das eigentliche Phänomen der Krise, da er viel stärker als Sanders das Parteiestablishment der RepublikanerInnen herausfordert. Die signifikante Überschneidung zwischen Trump- und Sanders-UnterstützerInnen ist, wie klein in absoluten Zahlen auch immer, sehr bezeichnend für die Krise. Trump hat unter etablierten DemokratInnen wie RepublikanerInnen Hysterie ausgelöst. Ihre Hysterie dokumentiert allerdings eher ihre Angst vor der Parteibasis als Trumps tatsächliche Fähigkeiten. Sanders hat versucht, die Teile der demokratischen Parteibasis, die in der Tradition des New Deals der dreißiger und vierziger Jahre, des Great-Society-Programms der sechziger und siebziger Jahre und der Neuen Linken stehen, gegen die seit 1980 dominierende neoliberale Parteiführung in Stellung zu bringen. Trump tut etwas ähnliches, indem er die »Reagan-DemokratInnen« von Obama zurückzugewinnt. Doch der irrlichterne Opportunismus seiner Demagogie ermöglicht es ihm, die Grenzen dieser Botschaft zu überschreiten.
Trump ist für Clinton genau deswegen eine Herausforderung, weil sie sehr ähnliche zentristische Positionen vertreten, wie groß auch immer ihre taktischen Differenzen sein mögen. Sanders könnte Trump vielleicht bezwingen, aber nur auf der Basis einer viel größeren Mobilisierung für eine substanziell andere Politik, als sie im Rahmen der DemokratInnen überhaupt möglich ist. Die größte »Partei« besteht aus denjenigen, die nicht wählen.
Chris Cutrone
Der Autor ist Medienkünstler und Hochschullehrer in Chicago und Gründungsmitglied der Platypus Affiliated Society. Der Text wurde ursprünglich im Dezember 2015 in der Platypus-Review #82 veröffentlicht: 0cn.de/dsxq
Aus dem Amerikanischen von Felix Breuning