Marcelo Lopes de Souza
Welches Recht auf welche Stadt?
Ein Plädoyer für politisch-strategische Klarheit
Mit einer bedeutenden Verspätung im Vergleich zu anderen Ländern läuft seit ein paar Jahren auch in Deutschland eine Debatte (und es gibt in gewissem Maße auch eine Mobilisierung), die als Inspirationsquelle die vom französischen Philosophen Henri Lefebvre (1901-1991) stammende These des »Rechts auf die Stadt« hat. Lefebvre war 1968, als er Le droit à la ville Henri Lefebvre, O direito à cidade, São Paulo 1991. publizierte, bereits ein unabhängiger Kopf unter den französischen Marxisten. Zehn Jahre zuvor, als er bereits von der Parti Communiste Français ausgeschlossen worden ist, beschäftigte er sich schon ernsthaft mit Autogestion. Ders., Theoretical problems of autogestion, in: Neil Brenner/ Stuart Elden (Hrsg.), State, Space, World, Minneapolis 2009, 138-152. Gewiss war er in mancher Hinsicht nicht der originellste oder gar tiefste radikale Denker seiner Zeit. Was bestimmte Fragen angeht, war z.B. die Socialisme ou Barbarie-Gruppe um Cornelius Castoriadis und Claude Lefort bereits in den fünfziger und in der ersten Hälfte der sechziger Jahre z.T. weiter vorne. Bei der Anerkennung der Bedeutung des Raumes als ein zentraler sozialer Faktor jedoch, war Lefebvre (zusammen mit Michel Foucault ? allerdings auf eine ganz andere Art und Weise) Ende der sechziger und in der ersten Hälfte der siebziger Jahre unübertrefflich. Die Bücher Le droit à la ville, La vie quotidienne dans le monde moderne (1968)abcd Ders., La vida cotidiana en el mundo moderno, Madrid 1972. und La revolution urbaine (1970)abcd Ders., La revolución urbana, 4. Aufl., Madrid 1983. markierten jedenfalls einen regelrechten Wendepunkt in seiner intellektuellen Laufbahn. Sie lösten anfangs auch von Seiten akademischer marxistischer Kreise in der Regel negative Reaktionen aus, welche von der relativen Skepsis bis hin zur offenen Ablehnung reichten. Vor allem in Le droit à la ville und in La revolution urbaine – aber auch in La vie quotidienne dans le monde moderne und in La production de l'espace (1974)abcd Ders., La production de l'espace, Paris 1981. – entwickelte Lefebvre eine neuartige, für orthodoxe Augen ziemlich »ketzerische« Kritik des Kapitalismus: 1.) der Sozialraum, der von der Gesellschaft geformt wird, welche wiederum auf unterschiedliche Weise den Sozialraum beeinflusst, würde ihm zufolge zunehmend zu einem zentralen wirtschaftlichen und politischen Faktor. Eine äußerst ungewöhnliche These im Rahmen einer Denktradition die (wie die Hegelsche-Marxsche) eindeutig »zeitorientiert« war und den Raum als eine Art Epiphänomen betrachtete. Nach seiner Überzeugung gelang es dem Kapitalismus genau durch die zunehmende Relevanz der Produktion von Raum zu überleben. Ein Gedanke, der später u.a. von David Harvey in seinen theoretischen Überlegungen zum »sekundären Kreislauf« der Kapitalakkumulation weiterentwickelt wurde; 2.) das klassische Proletariat war in seinen Augen durch und durch in dem Status quo integriert und deswegen politisch gebändigt, sodass die Revolutionierung der Gesellschaft nun von verschiedenen sozialen Bewegungen getragen werden müsste. Entfremdete und Unterdrückte müssten miteinander kooperieren, um nicht nur die Ausbeutung und die Klassengesellschaft, sondern auch die unterschiedlichsten Missstände und Unterdrückungsformen im Rahmen des in der »bürokratischen Gesellschaft gelenkten Konsums« überwinden zu können; 3.) die alte Industriegesellschaft war bereits in den sechziger Jahren dabei, von einer »urbanen Gesellschaft« überwunden zu werden. Was bedeutete, dass die klassische Abgrenzung zwischen Stadt und Land nicht mehr gültig sei, aber nicht etwa, weil man mit echten Städten im kritischen politischen Sinne (= Orte der Begegnung mit dem Anderen, der offenen politischen Diskussionen, der Konzentration von Schönheit und Kultur) überall zu tun habe, sondern weil das Land wirtschaftlich, politisch und kulturell zunehmend von den städtischen Kräften und Einflüssen geprägt würde. Gleichzeitig seien die Städte zunehmend eigentlich »Anti-Städte«, d.h. im Grunde Orte der Entfremdung und der Entpolitisierung; 4.) nur eine »revolution urbaine«, die die Revolutionierung des Lebens und der Gesellschaft als Ganze darstellen würde, könnte das »Recht auf die Stadt« gewährleisten – verstanden als das Recht aller auf den Genuss städtischer Infrastruktur, Kultur und Schönheit, dies alles auf der Basis der autogestion. Ders., L'irruption: de Nanterre au sommet, Paris 1998.
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