Die moderne Stadt ist Produkt gesellschaftlicher Prozesse, die der Logik kapitalistischer Akkumulation unterliegen. Um eine Fetischisierung des Objekts »Stadt« als gegebenes »Ding« zu umgehen, sollte zunächst, wie bei der Analyse der Warenform und ihrer Genese, den historischen Ursachen ihrer Produktion auf den Grund gegangen werden.
Die Entstehung der modernen Stadt als Folge der (zunächst gewaltförmigen) Trennung von ProduzentInnen und Produktionsmitteln fällt mit der Zuspitzung von Entfremdung und Ausbeutung zeitlich und räumlich zusammen. Als »Sitz« der doppelt freien Arbeit verweist sie aber auch auf Potentiale der Überwindung alter Abhängigkeitsverhältnisse und Ausbeutung und die Möglichkeiten einer Emanzipation im Rahmen bürgerlicher Gesellschaft. Der städtische Raum internalisiert damit den dialektischen Charakter kapitalistischer Entwicklung. Ideologisch findet die Fetischisierung der Stadt als Gegebenes ihren Ausdruck in der Reduktion auf jeweils eine Seite der Medaille: Entweder als Ort der Entwurzelung, der Dekadenz und des Elends oder aber als Synonym für die Befreiung von den Zumutungen personaler Abhängigkeitsverhältnisse und dem »Idiotismus des Landlebens« sowie der Möglichkeit bürgerlicher Freiheit.
Ursprünge der modernen Stadt
In seinen Analysen der Entstehungsbedingungen kapitalistischer Verkehrsformen suchte Marx nach den Ursprüngen der Aufspaltung in Lohnarbeit und Kapital. Diese Ursprünge behandelt Marx vor allem im Kapital im Kapitel über die »sog. Ursprüngliche Akkumulation«, es finden sich aber auch in anderen Arbeiten, etwa in den »Grundrissen«, Gedanken dazu. Die Ursache sieht Marx in der Freisetzung und damit Setzung der »freien Arbeit« als Prozess der Enteignung weiter Teile der Landbevölkerung – insbesondere des kleinen Grundeigentums und der kleinen Pachtbauernschaft. Dieser Prozess der »Trennung der Arbeit von ihren eigenen objektiven Voraussetzungen«, der die vorkapitalistischen Eigentumsverhältnisse umwarf und letztlich dazu führte, dass erstmals eine große Anzahl «doppelt freier« ArbeiterInnen und eine große Menge akkumulierten Kapitals einander gegenüber standen, interessiert in diesem Zusammenhang in seiner Rolle für die Entwicklung der modernen Industrie und der modernen Stadt. Die in der nunmehr kapitalistisch organisierten Landwirtschaft überflüssig Gewordenen wanderten in bis dahin unbekanntem Ausmaß in die Städte ab, wo mit dem entsprechenden, in Agrikultur und Handel generierten Kapital, der Prozess der Industrialisierung in Gang gesetzt wurde.
Die Trennung der Menschen von den Bedingungen ihrer Reproduktion, also der Produktionsmittel von den ProduzentInnen, konnte räumlich keine Absolute sein. Sie mussten für den Arbeitstag an einem bestimmten Ort wieder aufeinander treffen: in der Fabrik und damit der modernen Stadt. Die Migration der Reservearmee ist eine Anhäufung von »freier« Arbeitskraft in den Städten. Die räumliche Konzentration und Verdichtung von Kapital und Arbeit in den Städten – ein wiederkehrender Topos in den Arbeiten von Marx und insbesondere Engels, sollte die Widersprüche der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft drastisch vor Augen führen und darüber hinaus auch auf das revolutionäre Potential dieser Konzentration verweisen.
Die neu entstehenden Fabriken in den größeren und kleineren Städten konnten zunächst nur einen Teil der Menschen absorbieren, die ihrer ländlichen Lebensgrundlage verlustig gegangen als moderne ArbeiterInnen freigesetzt wurden. Ihre neu gewonnene Freiheit von den vorkapitalistischen Formen personaler Abhängigkeit und Ausbeutung – aber auch von der Kontrolle über die Mittel ihrer eigenen materiellen Reproduktion konnten die Überflüssigen nicht schätzen, die moderne Lohnarbeit musste ihnen erst beigebracht werden. Das Elend der modernen Lohnarbeit in den wachsenden Städten zu konzentrieren, bedurfte also des staatlichen Zwangs. Der Prozess der ursprünglichen Akkumulation verlief daher in jener Phase mitunter noch gewaltförmig, wo heute der »stumme Zwang der Verhältnisse« weitgehend ausreicht. Vermittels strikter Repression mussten Vagabundage, Bettelei, Raub und Diebstahl, die Überflüssigen, erst dem städtischen Leben in freier Lohnarbeit zugeführt werden.
Der Staat hatte in dieser Periode nicht nur die neuen Bedingungen des freien Tauschs und der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu garantieren, sondern musste die wirtschaftliche Basis der alten Ordnung zerstören oder zumindest der kapitalistischen Produktionsweise unterordnen. Marx sieht den Schlüssel dafür in der wachsenden Bedeutung des Großgrundbesitzes bei gleichzeitiger Abschaffung der alten Formen des Gemeindelandes. MEW 25, 790ff.
Eine weitere Funktion des Staates in diesem Prozess lag darin, zu gewährleisten, dass die vom Land Vertriebenen wieder neu »verortet« wurden. Neben der Unterbindung von Formen der Aneignung (Diebstahl, Bettelei, Raub) gehörte die Kasernierung der englischen ArbeiterInnen in den »workhouses« zu den ersten Methoden der Ansammlung und Kontrolle der freigesetzten Landbevölkerung in den Städten.
Die Zuwanderung von Proletariat und »industrieller Reservearmee« wurde jedoch sehr schnell zu einem politischen Problem, die Fabrik, die überfüllten ArbeiterInnenvierteln und Slums Der Begriff Slum wird in England erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachgewiesen. Er leitet sich wohl aus dem irischen ‚S Lom ab, das einen kargen, ungeschützten Ort bzw. Ort der Armut bezeichnet. Die irischen MigrantInnen standen in jener Zeit am unteren Ende der städtischen sozialen Rangordnung in England und waren in diesen Vierteln dementsprechend überrepräsentiert. zum Brennpunkt sozialer Auseinandersetzungen. Auch Marx sah gerade an diesen Orten das Potential einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus: »In der Agrikultur wie in der Manufaktur erscheint die kapitalistische Umwandlung des Produktionsprozesses zugleich als Martyrologie der Produzenten, das Arbeitsmittel als Unterjochungsmittel, Exploitationsmittel und Verarmungsmittel des Arbeiters, die gesellschaftliche Kombination der Arbeitsprozesse als organisierte Unterdrückung seiner individuellen Lebendigkeit, Freiheit und Selbständigkeit. Die Zerstreuung der Landarbeiter über größre Flächen bricht zugleich ihre Widerstandskraft, während Konzentration die der städtischen Arbeiter steigert.« MEW 23: 528f.
Die Angst vor der Zusammenballung der ArbeiterInnen und ihrer einsetzenden revolutionären Organisation in der Stadt fiel in der industriell-kapitalistischen Welt des späten 19. Jahrhunderts mit den Forderungen humanistischer, eugenischer oder religiös motivierten sozialer Reform zusammen. Letztlich setzten sich daher Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage des industriellen Proletariats, vor allem Bildung, Gesundheit und embryonale soziale Sicherungssysteme für das Proletariat durch. Flankiert wurden diese Reformen von einer Erneuerung der gebauten Infrastruktur in den ArbeiterInnenquartieren und der ganzen Stadt. Dazu diente ein neues Instrument, die Stadtplanung, die den modernen Städtebau seither reguliert.
Die Stadt als Transformator der Akkumulation
Die Geschichte des Kapitalismus ist also zugleich eine Geschichte der modernen Stadt. Die städtische Entwicklung und Urbanisierung als notwendiges Beiprodukt kapitalistischer Vergesellschaftung muss den wechselnden Reproduktionsbedürfnissen kapitalistischer Akkumulation im städtischen Kontext folgen. Das bedeutet auch eine permanente Revolutionierung des urbanen Raums in Abhängigkeit von sich ändernden Akkumulationsbedingungen. Diese an der sozialen und auch morphologischen Struktur der Stadt ablesbaren Transformationen werden durch das wechselnde Verhältnis zwischen den Erfordernissen produktiver Kapitalverwertung und der jeweils gegebenen sozialen Struktur bestimmt.
Die größeren und kleineren Krisen der Akkumulation geben dafür, zumindest in der marxistischen Theorie urbaner Entwicklung, eine passende Erklärung ab. Zu einem Zeitpunkt, als das fordistische Akkumulationsmodells bereits in die Krise geraten war, legte der Geograph David Harvey eine marxistische Interpretation der Urbanisierungsprozesse und der städtischen Transformationen vor, die zumindest in der angelsächsischen Sozialgeografie einen gewissen Einfluss erlangen konnte. Er knüpfte an die Theorie der Krise bei Marx an, um ein erweitertes Modell kapitalistischer Akkumulation zu entwickeln, das »herkömmliche« Warenproduktion von so genannten sekundären und tertiären Kreisläufen des Kapitals unterscheidet. Die Tendenz zur Überakkumulation, so die Argumentation, führe in wiederkehrenden Zyklen dazu, dass das Kapital sich andere Verwertungsmöglichkeiten als Produktion »gewöhnlicher« Waren suche. Die Lösung der Überakkumulationskrise fände sich zumindest temporär im Ausweichen der Investitionen in den sekundären und tertiären Kapitalkreislauf. Obwohl das Modell relativ funktionalistisch erscheint, erleichtert es doch das Verständnis der Produktion und Transformation von Städten in einer kapitalistischen Gesellschaft und trägt zur Erklärung ihres Ablaufs in Zyklen bei. David Harvey (Limits to Capital, 1982; ders. The Urbanization of Capital, 1985) spricht hier von einem »spatial fix« der kapitalistischen Produktion. Der Begriff »fix« deutet auf eine Fixierung/Festsetzung räumlicher Strukturen hin und zugleich auf die Überwindung der Krise durch temporäre Verschiebung in andere Kreisläufe des Kapitals, die im Folgenden kurz beschrieben wird.
Im Falle einer Akkumulationskrise kommt es zu einer Verlagerung überschüssigen Kapitals in andere Bereiche: Die Schaffung eines Produktionsfonds, sowie die Schaffung eines Konsumtionsfonds. Die Produktion von Produktionsmitteln, die erhöhte Arbeitsproduktivität in der Zukunft ermöglichen sollen, wird ergänzt durch die Infrastruktur der Produktion und der Konsumtion in Form von Transportmitteln, Fabriken, Büros und Wohnungen. Durch ihre lange Haltbarkeit sind diese Investitionen in Krisenzeiten besonders attraktiv, da sie in Erwartung zukünftiger Akkumulation einen Profit versprechen. Die mangelnde Mobilität der Immobilie und die Begrenztheit des städtischen physischen Raums, daher die Gebäude vorangegangener Perioden kapitalistischer Urbanisierung, stehen neuen Projekten im Wege. In diesem Bereich, ebenso wie im »tertiären Kapitalkreislauf«, zählt eher die mittelbare Produktivität der Investition als die unmittelbare Profitabilität. Daraus erklärt sich auch die besonders aktive Rolle des Staates auf diesem Terrain, auf dem viele Investitionen keine unmittelbaren Profite versprechen oder aufgrund ihres Umfangs vom Kapital nicht geleistet werden können. In unserem Zusammenhang ist der »tertiäre Kapitalkreislauf«, also Investitionen in den Bereichen von Forschung und Entwicklung, aber auch Bereiche wie Bildung, Gesundheitsvorsorge, Militär, Sozialarbeit und Polizei, von geringerer Bedeutung.
Historisch ist die Korrelation von Akkumulationskrisen und Investitionen im Immobiliensektor sowie öffentlicher Infrastruktur, der auf der Erwartung künftiger Realisierung der Grundrente respektive eine erhöhte Profitabilität künftiger Produktion beruht, einfach nachzuweisen. Dass die meisten Finanzkrisen zumeist auch Immobilienkrisen sind und in diesem Sektor ihren Ausgang nehmen, stützt diese Interpretation von Stadterneuerung und Herleitung des Immobilienmarkts.
Für die städtische Entwicklung ist die Immobilienwirtschaft deshalb von immenser Bedeutung, da sie nicht nur neue Möglichkeiten der Investition eröffnet, sondern auch die urbane Struktur immer wieder neu ordnet. Im Gegensatz zur Produktion von Staubsaugern ist die Produktion von Städten auf der Ebene formaler Politik offen konfliktiv, ihre Regulation erfordert ein direktes Eingreifen des Staates und einen politischen Diskurs. Der Raum für neue Gebäude und Infrastrukturprojekte muss erst geschaffen werden, also kommt zumeist der Bulldozer zum Einsatz, um die Produkte vorangegangener Phasen der kapitalistischen Stadtentwicklung aus dem Weg zu räumen. Damit ist die Geschichte der urbanen Entwicklung stets eine Geschichte von Zerstörungs- und Verdrängungsprozessen, deren Ausgang jedoch stets von den lokalen ökonomischen Bedingungen und politischen Konstellationen abhängt. Die Brisanz von Debatten um große Infrastrukturprojekte, Stadterneuerungsoffensiven, intensivierten Stadtumbau als Folge von boomenden Immobilienmärkten ist Ausdruck dieser Problematik.
Reproduktion im Hühnerstall
Die Stadt ist nicht nur Ort der Produktion, sondern auch der gesellschaftlichen Reproduktion. Um diese und damit wiederum die erweiterte Reproduktion des Kapitals zu gewährleisten, haben sich vielfältige gesellschaftliche Mechanismen entwickelt, welche die Reproduktionsbedingungen der Arbeitenden garantieren. Wohnen gehört zu diesen Reproduktionsbedingungen und ist wie andere Waren damit nicht nur Tauschwert, sondern auch Gebrauchswert. Die Arbeitshäuser des frühen industriellen Kapitalismus wurden nach und nach vom Fin de Siècle - Zinshaus, später dem Plattenbau der Vorstadt und zuletzt der Reihenhaussiedlung und Einfamilienhäuser an den Rändern der Stadt abgelöst. Wohnraum dient hier als spezifischer Arbeitskraftcontainer: als geschützter Behälter der Reproduktion von Arbeit, der Arbeitenden als Kleinfamilie, aber auch als Instrument ihrer Einhegung und Beherrschung.
Im Fordismus, der eine umfassende bürokratische Regulation des Kapitalverhältnisses und eine gewisse Redistribution ermöglicht, kommt der Wohnung als Grundlage der proletarischen und kleinbürgerlichen Familie eine enorme ideologische Bedeutung zu. Die Versorgung der ArbeiterInnen mit Wohnraum als neue Aufgabe fiel in der postliberalen Phase des Kapitalismus im 20. Jahrhunderts in den Aufgabenbereich der Staatsapparate beziehungsweise wurde von diesen in den Aufgabenbereich von KapitalistInnen delegiert. Henry Ford, der antisemitische Träger des »Großkreuzes des Deutschen Adlerordens« sorgte beispielgebend für die angemessene Behausung »seiner« ArbeiterInnen in Staff Quarters. Das Modell der paternalistischen Einhegung der ArbeiterInnenaristokratie vermittels Zugang zu subventioniertem Wohnraum wurde ebenfalls zum kleinen Privileg loyaler StaatsbürokratInnen. Anderswo sah sich der Staat bemüßigt, Wohnraum und ein Angebot an Erholung und Unterhaltung zur Verfügung zu stellen, zumindest für jene, die ansonsten nicht in der Lage wären, in der Stadt zu wohnen – das Proletariat und die Staatsbeamten aller Ränge, die für ihre Loyalität und ihr Engagement in der Durchsetzung staatlicher Herrschaft einige kleine Vorteile genießen sollten.
Die Imagination der Stadt zwischen Ort der Freiheit und Moloch
Die Stadt ist also zugleich Schauplatz von Entfremdungsprozessen und Ausbeutung in bis dahin unbekanntem Ausmaß, zugleich aber auch Fluchtpunkt vor personalen Abhängigkeitsbeziehungen und Ausgang aus dem »Idiotismus des Landlebens« (so Marx und Engels im Manifest der Kommmunistischen Partei).
Die Subjekte erfahren in der modernen Stadt Entfremdung und Anonymität, Beschleunigung und Austauschbarkeit in freier Konkurrenz, die Metropole wird mehr und mehr mit dem Kapitalismus gleichgesetzt. Dem gegenüber erschienen die alte Ordnung der personalen Abhängigkeitsverhältnisse, der Stabilität, Sicherheit am Land, der »Scholle«, und die Familienbande ex post plötzlich als verlorenes Paradies. Nicht zufällig ist der Bezug Marx` auf die biblische Genesis in seiner Erzählung der Ursprünglichen Akkumulation. MEW 23, 741ff., MEW 25, 790ff. dazu etwa Jörn Etzold, »Die Arbeit der Spekulation«, in Recherche Nr. 2/2009 (April/Mai), 15-18. Bei Marx sind die Ursprünge des Kapitalismus als Urschuld angelegt. Der fehlende Begriff der kapitalistischen Ordnung verdrängt diese Geschichte und evoziert als Folge den regressiven Wunsch nach einer »Rückkehr« in einen embryonalen Zustand, die vermeintliche Geborgenheit der vorkapitalistischen Gemeinschaft. Auch wenn dieser Wunsch uneinlösbar ist, bleibt er in psychologischer und letztlich in politischer Hinsicht wirksam. Dieser Reflex führte zur Repräsentation der Stadt in Kunst, Politik und Alltag als Ort der Dekadenz, der »Entwurzelung« und des Verfalls. Diese Symbolik der Stadt als Moloch geht einher mit der Tendenz zur Personifikation der gesellschaftlichen Verhältnisse in Personengruppen.
Diese beiden Gesichter der Stadt – als Ort der Befreiung und der Möglichkeiten auf der einen, der Entwurzelung und der Dekadenz auf der anderen Seite, sind ein wiederkehrender Topos der Moderne, der Versuch, die widersprüchliche Erfahrung der Stadt im Kapitalismus zu begreifen. Diese symbolischen und ideologischen Bilder »der Stadt« als geschlossener Einheit, kohärentes Ganzes, Sinnbild für eine Lebensweise essentialisieren die Erfahrung der Stadt. »Die Stadt«, die es als geschlossene Einheit nicht gibt, wird in der Metapher der (Groß-)Stadt zum Inbegriff der Dekadenz oder automatisch zum Hort der Freiheit und Emanzipation. Ein historisch informierter Blick auf die Entstehung, Möglichkeiten und Zumutungen städtischen Lebens mag ermöglichen, das Urbane weder als Synonym für Fortschritt und Freiheit noch als ihr Gegenbild, als reine »Entfremdung« und »Moloch« zu begreifen, denn sie ist beides und nichts davon zugleich.
Politisch knüpften all jene an das positive Bild der modernen Stadt an, die sich sehr wohl bewusst waren, dass die Befreiung von feudalen, personalen Herrschaftsbeziehungen unumkehrbar ist und die Freiheiten des modernen urbanen Lebens zumindest partiell einen Fortschritt verheißen. So waren die Liberalen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fast durchweg von den neuen Tendenzen begeistert. Sie bezogen sich zumeist positiv auf den Fortschritt und die moderne Stadt, wo sich dessen neueste Errungenschaften in gesellschaftlicher und technologischer Hinsicht zeigten. Dies war freilich nur für jene eine Option, die in der Freiheit von den alten Produktionsbedingungen einen Fortschritt erkannten und sind daher eng mit bürgerlichen Freiheitsidealen verknüpft. Ambivalenter gestaltete sich dieses Verhältnis im sozialistischen und linken Lager, wo neben mechanistischem Forschrittsglauben, das in der stalinistischen Technokratie gipfelte, insbesondere in maoistischen und einigen anarchistischen Bewegungen auch eine antiurbane Haltung zu beobachten war, die vorkapitalistische Gemeinschaften als Anknüpfungspunkt für eine Gesellschaft nach dem Kapitalismus sahen.
~Von Bernhard Wernitznig. Der Autor lebt und arbeitet in Wien.