Ich denke: Es geht darum, Stationen festzuhalten, wo das Leben gegen den Tod aufgestanden ist. Berlin – Kreuzberg ist seit dem Dezember 1980 nicht mehr das, wozu es verurteilt war, verurteilt durch den Glauben an die Machbarkeit und Durchsetzbarkeit technokratischer Lebensmodelle. Kreuzberg war verurteilt zu sterben, seine Identität zu verlieren. Die schleichende Logik, die ›Endlösungen‹ nicht ausschließt – Zuzugsstop, Entmietung, Umsetzung, Kahlschlag, Entflechtungen – , schien sich unaufhaltsam dieses Stadtviertels bemächtigt zu haben.« Pfarrer Jürgen Quandt in: Gemeindeberatung Kirchkreis Kreuzberg (Hrsg.), Kirche und Hausbesetzung, Berlin 1983.
Wer die linke Auseinandersetzung mit Stadt, von den Häuserkämpfen bis zur Angst vor Gentrifizierung, einer kritischen Nachbetrachtung unterzieht, sieht sich unweigerlich den Folgen einer unterrepräsentierten Analyse von Gesellschaft und Kapitalismus gegenüber. Die Wahl des Einstiegszitates von Jürgen Quandt, einer der aktivsten kirchlichen Unterstützer der HausbesetzerInnen um 1980, möchte dabei gerade nicht skandalisieren. Vielmehr geht es um einen genauen Blick auf die Reparaturbedürftigkeit der Welt, aber auch um die konkrete Umsetzung von Idealismus in politische Praxis. Linke Stadtkritik, einschließlich der Unvollständigkeiten und Begrenztheiten einer Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Zustände, war und ist eine der sichtbarsten Ausdrucksformen einer Erprobung von Widerstand. Nicht immer nur dort, wo direkt Betroffene in den Quartieren selbst zu PraktikerInnen wurden. Die Geschichte der Kritik an der kapitalistischen Stadt in der Bundesrepublik – im Spannungsfeld zwischen Kritik an Wohnverhältnissen und antimodernistischen Einstellungen – besteht bis in die neunziger Jahre vor allem eine großen Anzahl an Hausbesetzungen. Diese Besetzungen, als jeweilige Reaktion auf Wohnraummangel, großflächigen Abriss oder staatlicher Repression, unterschieden sich jedoch deutlich in ihrer Praxis und der jeweils damit verbundenen Gesellschaftsanalyse.
»Die Grenze verläuft zwischen oben und unten«
Bereits im Jahr 1970 organisierten AktivistInnen aus dem antiautoritären Flügel der StudentInnenbewegung die ersten demonstrativen Hausbesetzungen in München, Köln, Frankfurt, Göttingen und Hamburg. Für die entstanden Betriebsprojektgruppen, StudentInnengruppen also, die über politische Arbeit in den Betrieben das »revolutionäre Bewusstsein« der ArbeiterInnen aktivieren wollten, bot sich das Mittel der Hausbesetzung als Kampfform an. Einerseits ließ sich damit der proletarische Lebenszusammenhang mit einer politischen Praxis thematisieren, andererseits konnten die Mobilisierungsschwierigkeiten aus den Betriebskämpfen so zunächst überwunden werden. Die Einheit zwischen Studierenden und ArbeiterInnen ließ sich allerdings nur schwer herstellen. Grundlage war die Analyse einer unterschiedlichen Sozialisation von »Proletariat« und Bildungsschichten, u.a. in: Jan Carl Raspe, Zur Sozialisation proletarischer Kinder, Frankfurt a.M. 1972. Letztendlich waren es aber hauptsächlich Studierende, die als Antwort auf Bodenspekulation und den Abriss ganzer Quartiere Hausbesetzungen als politisches Mittel praktizierten. Zeitweise eingegangene Zweckbündnisse z.B. in Frankfurt a.M. 1972/73 mit den Mietstreiks türkischer und italienischer MigrantInnen erwiesen sich häufig als problematisch. Während die MigrantInnen politisch autonom handeln wollten, stand ihnen auf der Studierendenseite eine »SozialarbeiterInnen- und JuristInnenmentalität« gegenüber, was häufig zu einem paternalistischen Umgang mit ihren Interessen führte. Besonders für junge ArbeiterInnen und TrebegängerInnen, Der Begriff TrebegängerInnen bezeichnete bis in die achtziger Jahre Kinder und Jugendliche, die aus ihren Elternhäusern weggelaufen sind. später auch für MigrantInnen, war die Wohnsituation in den siebziger Jahren ein Abbild der allgegenwärtigen Armut, Gewalt und Enge. Auch ein Resultat der Verhältnisse: fast 90 Prozent aller HeimbewohnerInnen kamen 1970 aus ArbeiterInnenfamilien. In den ArbeiterInnenquartieren hatte sich seit der Industrialisierung nur wenig geändert, oft wohnten noch Großfamilien in Zweiraumwohnungen ohne Bad und Klo. Dieser familiären Enge mit ihren autoritären und patriarchalen Herrschaftsstrukturen zu entgehen, war über den normalen Wohnungsmarkt kaum möglich. Eine heute häufig in der Linken mystifizierte Antwort auf diese Situation stellt das Georg-von-Rauch-Haus in Berlin-Kreuzberg dar. Die durch die gesellschaftlichen Bedingungen betroffenen SchülerInnen und ArbeiterInnen fanden mit der Besetzung 1971 eine direkte Antwort auf die eigene Lebenssituation. Es entstanden SchülerInnen- und Lehrlingsgruppen, Frauengruppen, Knastgruppen, ein Jungarbeitertheater etc. – die persönlichen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Unterdrückung gaben die Themen vor. Weitere Dokumente der Zeitgeschichte in: Rauch-Haus-Kollektiv, 6 Jahre Selbstorganisation, Berlin 1977. Gesellschaftskritik bedeutete hier Hilfe zur Selbsthilfe im kapitalistischen System, gegen Arbeitszwang, Armut, die tradierten und ungebrochenen Geschlechterrollen oder die Repression durch Polizei und Jugendamt. Der Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung artikulierte sich aber neben der Errichtung eines Wohn- und Rückzugsraumes auch in der Interaktion mit dem umliegenden Quartier. Im Verständnis der damaligen AkteurInnen verhinderte hauptsächlich der Kapitalismus die Ausbildung eines kritischen Denkens der ArbeiterInnen und deren Auseinandersetzung mit ihren Unterdrückern. Es gab einen pauschalen positiven Rückgriff auf die kommunistische ArbeiterInnengeschichte, die Beteiligung der Elterngeneration am Nationalsozialismus wurde jedoch nicht thematisiert. Das ist insofern erstaunlich, als es doch vor allem die persönlichen Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen in der Familie waren, die nicht nur bei Studierenden den Bruch mit und die Flucht aus dem Elternhaus begründeten.
Die Einbindung der BesetzerInnen in das Stadtviertel funktionierte weitestgehend gut. Viele Kreuzberger ArbeiterInnen und Jugendliche fühlten sich mit ihren eigenen alltäglichen Sorgen, also der Zahlung der Miete und dem harten Arbeitsalltag, verstanden und beteiligten sich am Leben um das Haus. Anders als bei den Studierendenprotesten, die von der Westberliner Bevölkerung der späten sechziger Jahre als kommunistische Gefahr und Zusammenschluss arbeitsscheuer Gestalten gesehen wurde, war die Wahrnehmung der BesetzerInnen nicht unbedingt negativ – immerhin waren fast alle von ihnen aus Kreuzberg und damit quasi aus der Nachbarschaft und gingen einer regelmäßigen Arbeit nach. Im Vergleich zu den später folgenden Hausbesetzungen in der gesamten Bundesrepublik kamen die KreuzbergerInnen Anfang der siebziger Jahre zumeist noch ohne die Konstruktion raffgieriger Spekulanten und eines dahinter vermuteten US-Kapitals aus.
Das Auftauchen der »Yuppies«
Im Laufe der achtziger Jahre gewann bei den bundesdeutschen Linken die Vorstellung an Boden, dass es sich bei Stadtplanung um ein Sammelsurium staatlicher und ökonomischer Planungsprozesse handelt. Damit wurde eine Vorstellung abgelöst, in der Stadtumgestaltung hauptsächlich als Instrument sozialer Kontrolle und neue Straßen als Aufmarschplätze für Polizei und Militär interpretiert wurden. Die Wahrnehmung von Konflikten und unterschiedlichen Interessen innerhalb von Politik und Wirtschaft fand aber nur selten in einer erneuerten und differenzierten Gesellschafts- und Kapitalismusanalyse ihren Niederschlag. Die direkte Verteidigung der eben eroberten Szenequartiere bestimmte nun die politische Praxis. Über das Auftauchen von »Schwaben« und Aufwertungsdiskursen vgl. A. G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, Berlin 2004. In nicht einmal einen Jahr wurden in Berlin 167 Häuser besetzt, ein »Besetzerrat« gründete sich, organisierte Demonstrationen und den ersten Ermittlungsausschuss. Neue Pläne des Berliner Senats zur »Kahlschlag-Sanierung« stießen auf eine breite Opposition der Straße – das Besetzen von Häusern wurde zur direkten politischen Demonstration. Seit den siebziger Jahren hatte sich die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt nur wenig verändert. Auf der einen Seite zeichnete er sich durch stetige Knappheit von Wohnraum aus – über 80.000 Wohnungssuchende waren beim Landesamt für Wohnungswesen verzeichnet –, auf der anderen Seite wurden die Mietpreisbindung aufgehoben und der Abriss von Seitenflügeln und Hinterhäusern subventioniert. Alle Zahlen aus: Ingrid Müller-Münch/Wolfgang Prosinger u.a.(Hrsg.), Besetzung – weil das Wünschen nicht geholfen hat, Hamburg 1981. Stadtteilorganisationen, MieterInnenorganisationen und Bürgerinitiativen hatten dagegen schon jahrelang protestiert, jetzt handelten sie. Viele der leerstehenden Häuser wurden durch diese »Instandbesetzung« überhaupt erst wieder als Wohnraum nutzbar. Bis 1984 war ein Großteil der Häuser meist wieder geräumt, nur wenige konnten »legalisiert« überleben, und HausbesetzerInnen wurden exemplarisch durch die Anwendung von §129a des Strafgesetzbuches (Bildung einer terroristischen Vereinigung) zu langen Haftstrafen verurteilt. Die politischen Forderungen und Diskussionen zu Beginn dieser zweiten Dekade von Hausbesetzungen sind heute am ehesten über die Zeitschrift Radikal nachzuvollziehen. Der darin diskutierte Ansatz, einen über die Häuser hinausweisenden politischen Rahmen der linksradikalen Szene zu setzen, war nicht neu, allerdings verabschiedete man sich zunehmend von der Fokussierung auf »Häuser«. Die Politik der »Autonomen« mit ihrer Absage an feste Organisationsformen und einer eigenen Subkultur als Ausgangspunkt für den Kampf gegen den Staat und Nation fand hier ihren Anfang. Der erste Höhepunkt dieser neuen Praxis wurde die Demonstration gegen den Westberlin-Besuch des US-Außenministers Alexander Haig 1981.abcd Diese Demonstration war auch ein Höhepunkt des TUWAT-Spektakels/Kongresses. Wenngleich bei dieser Demonstration noch Einmütigkeit herrschte, gespalten hatte sich das HausbesetzerInnenumfeld schon lange. Ein parlamentarischer Flügel, die Alternative Liste (AL) als Vorgängerpartei der Berliner Grünen, zog ins Abgeordnetenhaus ein. Die so genannten »Verhandler« legalisierten ihre Häuser durch die Zusammenarbeit mit dem Senat und einigen Wohnungsbaugenossenschaften und bauten sie aus. Die jeweiligen Bündnisse mit Kirchen, SPD und BürgerInnen waren jedoch nicht überall willkommen. Für viele AktivistInnen schien der Anspruch auf autonomen Wohnraum nicht in Verhandlungen mit Staat und VermieterInnen durchsetzbar und das Misstrauen gegenüber staatlichen Autoritäten war nach den Erfahrungen erster Räumungen zu groß. Erst der Kampf gegen die »Yuppisierung« erzeugte wieder einen Schub für die Szenen in Hamburg und Berlin ab 1987. Neu eröffnete Lebensmittelläden, die bevorzugt Espresso und italienischen Käse verkauften, ein Herrenausstatter und ein Fahrradladen – Konsum und Individualismus kamen nicht überall in Kreuzberg gut an. Ende August 1987 stürmten mehrere vermummte Linke das neueröffnete Restaurant Maxwell in der Oranienstraße und leerten drei Eimer Fäkalien. A.G. Grauwacke, Autonome, 192. Jenseits benennbarer politischer Ziele explodierte der Widerstand von Linken und »normalen« KiezbewohnerInnen gegen individuelle und staatliche Aufwertungen abcd 1987 standen die 750-Jahr-Feier und die Vorbereitungen auf die »Kulthurhauptstadt Europas« 1988 als Sinnbild des Versuchs des Senates, Berlin als saubere Weltstadt zu präsentieren. am 1. Mai 1987. Die Plünderung eines Supermarktes und der komplette Rückzug der Polizei aus dem Gebiet Kreuzberg 36 stärkten die radikale Linke – und fanden in der Gründung der Zeitschrift Interim ein Medium für Debatten und Mitteilungsbedürfnisse.
»Reclaim your streets!«
Der Widerstand gegen Umstrukturierung und Aufwertung knüpft nach dem Fall der Berliner Mauer noch einmal kurz an die Rhetorik und Praxis der Hausbesetzungen zu Beginn der achtziger Jahre an. Hier sei nur der Vollständigkeit halber an die Kämpfe um die Mainzer Straße in Ostberlin 1989 erinnert. Im Gegensatz zu 1981 und angesichts der drohenden Hauptstadtwerdung setzten viele Linke jetzt den Schwerpunkt auf den Protest gegen Vertreibung und Durchkapitalisierung ihrer Viertel. Daran knüpften in den neunziger Jahren schließlich die Aktionen gegen Privatisierung, Sicherheitswahn in den Innenstädten und die aus England importierte Idee »reclaim the streets« an. A. G. Grauwacke, Autonome, 202.
Wie begründet die Befürchtungen im Hinblick auf steigende Mieten und Zwangsumzüge waren, bestätigte die Entwicklung nach 1990 in Berlin, Hamburg und anderen Großstädten. Die bundesdeutsche Sanierungsstrategie hatte sich von Flächensanierung und behutsamer Stadterneuerung verabschiedet. Durch die Dezentralisierung sozialstaatlicher Interventionen wurde die Stadterneuerung jetzt weitgehend privaten InvestorInnen überlassen. Vgl. Hartmut Häussermann/Dieter Läpple u.a. (Hrsg.), Stadtpolitik, Frankfurt a. M. 2008. Der Wandel dieser administrativen Stadtentwicklung hin zu einer marktorientierten Sanierung hatte langfristige Auswirkungen auf die Sozialstruktur der betroffenen Quartiere. Leben in sanierungsbedürftigen Gebieten meist BewohnerInnen der sogenannten A-Gruppen – gemeint sind Alte, Alleinerziehende, Auszubildende, Ausländer und Arbeitslose –, finden diese in aufgewerteten Vierteln durch die neuen A-Gruppen –Architekturbüros, Anwaltskanzleien, Arztpraxen – eine deutlich zahlungskräftigere Konkurrenz. Andrej Holm, Die Restrukturierung des Raumes, Bielefeld 2006, 49. Die sozialstaatliche Steuerung beschränkt sich heute auf die Festlegung von allgemeinen Spielregeln, die direkte Verhandlung zwischen EigentümerInnen und MieterInnen ist in das Zentrum des Erneuerungsprozesses gerückt. Die entscheidenden individuellen Ressourcen der BewohnerInnen, Verhandlungswillen, gemeinsame Organisierung und Kenntnis der eigenen MieterInnenrechte, mit denen sie Einfluss auf den Sanierungsprozess nehmen könnten, sind aber oft nicht vorhanden. In der Verhandlungssituation zwischen AltmieterInnen und EigentümerInnen besitzen Erstere oft eine Vetomacht (z.B. Genehmigungsvorbehalt). Durch Bau-, Sanierungs- und Mietehöhegesetze sowie der Mieterberatung können betroffene MieterInnen zumindest teilweise Einfluss auf Sanierungsziel und Miethöhe nehmen – wenn sie es denn wissen und anwenden. Am deutlichsten vollzog sich der Austausch von Bevölkerungssegmenten in den ostdeutschen Großstadt-Altbauvierteln, die nach 1990 in einem besonderen Sanierungsinteresse standen.So offerierte 2009 der Baubürgermeister den Hamburger KünstlerInnen die Bereitstellung von stadteigenen Häusern.
Die Rückkehr des englischen Landadels
Das Auftauchen des Diskurses um Gentrifizierung um die Jahrtausendwende steht für eine neue Auseinandersetzung mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung. Aktuell rekurrieren fast alle Kämpfe um Stadt, Kiez und Freiräume auf diese Analyse des Wandels im Quartier. Gentrifizierung meint hier eine Transformation innerstädtischer Altbauviertel durch den Zuzug neuer BewohnerInnen, was in steigenden Mietpreisen und einer Verschiebung der bestehenden BewohnerInnenstruktur resultiert. Linke Kampagnen wie »Wir bleiben alle!« und »Mediaspree versenken!« in Berlin oder die Initiativen im Hamburger Schanzenviertel greifen dies in ihrer Kritik und Logik nur folgerichtig auf. Besonders der Widerstand gegen das »Mediaspree« genannte Bauvorhaben am Spreeufer in Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Treptow erfährt große Unterstützung durch die Bevölkerung. Die angedachte kommerzielle Nutzung des Spreeufers und die anvisierte Schließung der bisherigen kulturellen und sozialen Projekte wurde unter anderem durch ein erfolgreiches BürgerInnenbegehren zumindest verzögert. Zu hohe Mieten, das Verschwinden oder die Kapitalisierung öffentlichen Raumes sowie scheinbar grenzenlose Videoüberwachung werden als Eckpunkte der jeweiligen Auseinandersetzung gewählt.
»Ein Schlagwort folgt auf das andere, ohne dass innerstädtische Vorgänge erklärt würden. Das Ergebnis steht von Anfang an fest: Gentrifizierung ist, wenn Yuppies im Kiez einziehen und die alteingesessenen Bewohnerinnen und Bewohner verdrängen. Eine weiterführende Erklärung bleibt aus, es genügt schon zu wissen, dass man selbst von Verdrängung betroffen und jemand anderes dafür verantwortlich zu machen ist.« Hans-Christian Psaar, Sterni ist kein Argument, in: Jungle World 20/2009.
GentrifizierungskritikerInnen sind in der zitierten Betrachtungsweise von Hans-Christian Psaar aber auch linke HeimatschützerInnen mit verkürzter Kapitalismuskritik und der Forderung nach zentralistischer Steuerung. Gerade erst mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, so ein weiteres Argumentationsmuster in der kritischen Auseinandersetzung mit aktueller linker Stadtpolitik, konnte die Auflösung der Ständestruktur und der feudalen Wohnformen vor 200 Jahren beginnen. Zu hohe Mieten würden durch GentrifizierungsgegnerInnen öffentlich kritisiert, nicht aber die Miete selbst, die Form des Mieteigentums oder das Eigentum an sich, so eine weitere Behauptung. Auf den verkehrten Schluss, dass öffentliches, kommunales oder staatliches Eigentum einen verteidigenswerten Gegensatz zu dem von InvestorInnen darstellt, könne man erst kommen, wenn man sich schon vor der »Privatisierung« gar nicht am Eigentum stieß, also auch an einer Kritik daran kein Interesse hätte. Wie problematisch verkürzt die Gentrifizierungskritik zum Teil auch daherkommt, mehr als affirmativ und moralisierend sind diese Vorwürfe an sie nicht.
Die Kritik an Mietpreissteigerungen nach der Sanierung der Stadtviertel, mit oder ohne die damit einhergehenden Verdrängungsprozesse, bleibt immer außerhalb einer notwendigen Kritik des Kapitalismus – eine Notwendigkeit, auf die auch in linker Stadtpolitik deutlich reagiert werden muss. Nicht nur, aber vielleicht auch wegen des Fokus auf realpolitische Forderungen, ganz erfolglos ist die Gentrifizierungskritik nicht. Die Ausrichtung und die dann erfolgte Zustimmung des Bürgerentscheides »Spreeufer für alle« in Berlin oder die breite Solidarisierung mit den KünstlerInnen im Hamburger Gängeviertel ist das Resultat einer Sensibilisierung aller BewohnerInnen eines Stadtviertels bis hin zur »Unterstützung« durch LokalpolitikerInnen. Mehr dazu in: Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, Franfurt a.M. 1990
Versuch der Unvollständigkeit
Letztendlich hat sich die Logik der Reproduktion von Arbeitskraft seit den siebziger Jahren deutlich verändert. Heute müssen Wohnungen geräumig sein, jedem Familienmitglied einen eigenen Raum zur Verfügung stellen und technischen Komfort bieten. Der Gebrauchswert richtet sich nach dem Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte und den Reproduktionserfordernissen der Arbeitskraft. Das private Kapital stellt die benötigten Gebrauchswerte jedoch nicht zu Preisen zur Verfügung, die für die Masse der Bevölkerung bezahlbar sind. Hartmut Häussermann/Walter Siebel, Stadtsoziologie, Frankfurt a.M. 2004. Eine Kritik am Rückzug des Staates aus der administrativen und regulierenden Daseinsfürsorge des Lebens in der Stadt, die Forderung nach einer gerechten Verteilung des Mangels, ist frei von einer Vision des guten Lebens. Eine linke Stadtkritik, selbst Realpolitik, muss mehr wollen – auch wenn in der heutigen Wohnsituation ein gewisser Fortschritt feststellbar ist. Die Häuserkämpfe der siebziger und achtziger Jahre waren individuelle Lösungen des Mangels an Wohnraum im Kapitalismus. Das Ziel einer Loslösung des eigenen Lebens von einem VermieterInnen- bzw. MieterInnenmarkt erscheint dagegen heute fast schon als Vision außerhalb einer gesellschaftlichen Realität. Dagegen wird der Anspruch einer umfassenden Systemkritik in der Diskussion um Gentrifizierung vielleicht mitgedacht, aber meist nicht erhoben. Der aktuell wieder populäre Ansatz der Forderung eines »Recht auf Stadt« kann die Lücke der Utopie nicht schließen. Mehr dazu in: Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, Franfurt a.M. 1990 Wie ein gleichnamiges Hamburger Bündnis ausführt, wird dieses Recht nicht erteilt, es gehört allen – unabhängig von sozialer oder nationaler Zugehörigkeit. Vgl.d azu die Website des Bündnisses unter http://rechtaufstadt.net und das »Manifest« unter http://nionhh.wordpress.com/about. Wer jedoch weiterliest, findet letztendlich doch hauptsächlich die Forderung nach billigen Mieten und die Abwehr von Vermarktung. Das ist wenigstens ehrlich, aber weit von einer Einforderung von emanzipatorischen Rechten und der Formulierung einer anderen Gesellschaft entfernt. Diese ist vermutlich durch die Gleichsetzung von bürgerlichen Mietrechten und linker Stadtkritik hinter einem imaginierten Freiraum verschwunden.
~Von Luka Bublik. Der Autor promoviert und lehrt in Leipzig und Halle.