Wohnfabrik

Elemente der »sozialistischen Stadt« am Beispiel Halle-Neustadts

Es sollen solche Lebensbedingungen geschaffen werden, […] die den Menschen Zeit und Muße für ihre kulturelle Bildung, für eine sinnvoll genutzte Freizeit bieten – eine Stadt also, in der zu leben für jeden Glücklichsein heißt.« Mit diesen Worten, vorgetragen vom zuständigen Bezirkssekretär der SED Horst Sindermann wurde im Frühjahr 1964 offiziell der Grundstein für das ambitionierteste Städtebauprojekt der DDR, die »Chemiearbeiterstadt« Halle-Neustadt, gelegt. In den folgenden zwei Jahrzehnten entstand am westlichen Ufer der Saale eine Stadt für 115.000 EinwohnerInnen. Weder Größenordnung, noch Gestalt oder die Anordnung als Planstadt in Fertigbauweise machten Halle-Neustadt für DDR-Verhältnisse zu etwas Besonderem. Mit »Stalinstadt«, dem späteren Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Schwedt waren Ende der 1950er Jahre bereits vergleichbare Projekte begonnen worden. »Sozialistische Wohnsiedlungen« wie Berlin-Marzahn, Rostock-Lichtenhagen und Jena-Paradies, deren hervorstechenstes gemeinsames Kennzeichen ihre nahezu vollständige Errichtung aus industriell gefertigten Plattenbauten war, entstanden ab den Sechzigern in nahezu jeder Stadt der DDR. Die Errichtung Halle-Neustadts fällt jedoch in eine Phase, in der einerseits erste kritische Erfahrungen mit der neuen Form des Bauens gesammelt worden waren, sie sich andererseits noch nicht (vollständig) delegitimiert hatte. Die »Chemiearbeiterstadt« sollte erklärtermaßen Modellcharakter haben für das, was in der DDR unter »sozialistischem Städtebau« verstanden wurde. Vieles spricht dafür, dass hier eine »DDR im Kleinen« errichtet werden sollte: ein Prototyp für die neuen, besseren Lebens- und Produktionsverhältnisse und, aus dem Blickwinkel der politischen und administrativen Elite nur folgerichtig, einer mustergültig sozialistischen EinwohnerInnenschaft. Für DDR-Verhältnisse einmalig fiel auch das städtebauliche Gesamtszenario aus. Halle-Neustadt, ab 1967 eine eigenständige Kommune, entstand in Sichtweite der Hallenser Altstadt; die städtebauliche Modernität der DDR wurde hier dem überkommenen Alten nicht bloß metaphorisch sondern geradezu inszeniert gegenübergestellt. Anhand des Projekts der »Chemiearbeiterstadt« lassen sich, dies im Folgenden die Grundannahme, modellhaft alle wesentlichen ideellen Elemente des sozialistischen Städtebaus veranschaulichen: soziales Gleichheits- und kleinbürgerliches Glücksversprechen, Bildungsoptimismus, Arbeitsethos und technokratischer Planungsfetisch.

Das Glück des Plattenbaus

Die SED legte auf ihrem fünften Parteitag 1958 die politischen und ökonomischen Grundlagen für einen staatlichen Bauboom, der allein zwischen 1961 und 1971 in der DDR eine halbe Million neuer Wohnungen entstehen ließ. In gewohnt schneidiger Manier deklarierte die politische Führung der DDR die »Lösung der Wohnungsfrage« zu einem zentralen Anliegen der »ökonomischen Hauptaufgabe«. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der folgenden Jahre zielte auf eine signifikante Steigerung des Lebens- und Konsumniveaus der DDR-Bevölkerung ab, nicht zuletzt als eine sozialpolitische Reaktion auf die massive Abwanderung in die BRD. Für das Jahr 1958 weist die amtliche Statistik beispielsweise eine Auswanderung von rund 150.000 Personen aus, davon rund die Hälfte im erwerbsfähigen Alter. Das entsprach zum damaligen Zeitpunkt 0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung der DDR. Die »Wohnungsfrage« blieb bis zuletzt eines der ungelösten Probleme der DDR, bei den staatlichen Wohnungsvergabestellen hatte sich 1989 die sagenhafte Summe von 800.000 unbearbeiteten Anträgen auf Wohnungsbezug oder -wechsel angehäuft. Noch nicht enthalten ist die mit Sicherheit ebenfalls sehr hohe Zahl der, teils über Zeitungsannoncen teils über kommunale Tauschbörsen realisierten, privaten Wohnungstausche.

Für die Menschen im »Arbeiter- und Bauernstaat« bedeuteten die staatlichen Wohnungsbauprogramme, zumal ein erheblicher Teil des Wohnraums kriegsbedingt beschädigt oder zerstört war, zunächst eine konkrete Verbesserung der Lebensverhältnisse. Die Neubauwohnungen verfügten zu einem moderaten Preis Der Mietpreis für eine 3-Raumwohnung entsprach 1972 mit 108 DDR-Mark etwa 12 bis 15 Prozent des durchschnittlichen monatlichen Familiennettoeinkommens. über fließend warmes Wasser, eine Zentralheizung, lichtdurchflutete, wenngleich enge Räume und der umgebende »Wohnkomplex« über mehr als nur die essenzielle städtische Infrastruktur. Anfang der 90er Jahre machte er auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein Drittel Davon 20 Prozent in so genannten Großwohnsiedlungen. Zahlen nach: Christine Hannemann, Die Platte. Industriealisierter Wohnungsbau in der DDR, 3. Auflage, Berlin 2005, 89. des Wohnungsbestands aus, somit hatte sich der mit der neuen Wohnweise verbundene materielle Wohlstandsschub für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung realisiert. Einerseits blieb der Plattenbau mit seinen Annehmlichkeiten bis zuletzt ein Objekt kollektiven Begehrens. Andererseits entwickelten die BewohnerInnen für ihre uniformen Behausungen zumeist schnell eine leidenschaftliche Abneigung und belegten sie mit Begriffen wie »Wohnsilos«, »Fickzellen« und »Arbeiterschließfächer«. In der Tat erreichte die Industrialisierung des DDR-Bauwesens mit Einführung der »Wohnungsbauserie 70« in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt. Waren zuvor immerhin noch geringe Variationen der Bebauungsformen und Wohnungsgrundrisse möglich gewesen, entstanden nunmehr überall in der DDR die immer gleichen »Wohneinheiten« in immer gleichen Blocks: »Das Wohnungsbauprogramm […] transformierte das Bauwesen […] im wesentlichen zur reinen Bauwirtschaft, die einen nach produzierten Mengen abzurechnenden Produktionsauftrag zu erfüllen hatte. Die Rationalitätskriterien der an diesem Programm […] beteiligten Disziplinen hatten sich der planwirtschaftlichen Rationalität unterzuordnen. Die Stadtplanung degenerierte gleichsam zur Investitionsvorbereitung für die Bauwirtschaft«. Zit. nach: Frank Betker, »Einsicht in die Notwendigkeit«. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945-1994), Stuttgart 2005, 115.

Die ArchitektInnen litten unter dieser Degradierung zu bloßen ProjektantInnen schematischer Block-Lücke-Anordnungen. Richard Paulick, Bauhaus-Schüler, Stararchitekt der DDR und selbst einer der großen Verfechter der Normierung und Typisierung im Bauwesen verfluchte die VertreterInnen der politisch wie öknomisch übermächtigen Bauwirtschaft als »Vulgärtechnologen« und »Plattenbaumafia«. Eindrucksvoll literarisch verarbeitet findet sich jener Konflikt unter anderem in DDR-Romanen wie Brigitte Reimanns »Franziska Linkerhand« oder Alfred Wellms »Morisco«. Im Mittelpunkt der Erzählung steht hier das Ringen Einzelner gegen einen plandogmatischen Irrsinn, der, über ein rational vertretbares Maß hinaus, lebensweltliche Monotonie produzierte. Derlei konstruktive Dissidenz, für die sich durchaus reale Beispiele finden lassen, blieb in letzter Konsequenz jedoch ebenfalls der »Phantasmagorie perfekter Systemoptimierung« Simone Hain, Das utopische Potenzial der Platte, in: Axel Watzke/Christian Lagé/Steffen Schuhmann (Hg.), »dostoprimetschatjelnosti«, Hamburg, 2003, 80. verhaftet, einem zivilreligiösen Glauben an die technologische Plan- und Steuerbarkeit sozialer Prozesse. Das »Glück des Plattenbaus« war mithin ein geplantes Glück. Was den »sozialistischen Städtebau« kennzeichnete, war ein mangelndes Bewusstsein um die Grenzen des Planbaren und die fast grenzenlose Überzeugung, Menschen durch Sachverhältnisse erziehen zu können.

Die Stadt als Erziehungsmittel

Der städtische Raum war damit erklärtermaßen nicht nur Gestaltungsobjekt, sondern Gestaltungsmittel im Sinne eines ausgreifenden pädagogischen Impetus' des Staates, einer Emanzipation von oben: »Der Wohnungsbau und die mit ihm verbundene sozialistische Umgestaltung der Städte und Dörfer sind von besonderer Bedeutung, weil die veränderten Lebensbedingungen, die neuen räumlichen Beziehungen der Menschen im Sozialismus in hohem Maße zur Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins beitragen«. Aus: Deutsche Bauakademie (Hg.), Direktive für die städtebauliche Gestaltung und den Aufbau von Halle-West. Arbeitsmaterial 9. Plenartagung, Deutsche Bauinformation bei der Deutschen Bauakademie, Berlin 1963. Der Gedankengang folgte einer denkbar einfachen Formel: sozialistische Städte sind eine wesentliche Bedingung für die Herstellung sozialistischen Bewusstseins, das wiederum konstitutiv ist für die sozialistische Gesellschaft beziehungsweise »Menschengemeinschaft«. Hinter diesen »holistischen Selbstdeutungsschablonen«, Christine Hannemann, Die Platte. Industriealisierter Wohnungsbau in der DDR, Berlin 2005, 107. wie Christine Hannemann die DDR-typischen Begriffs-Ungetüme mit Verweis auf den systemimmanenten Mangel an geeigneten Mitteln und Instrumenten der (kritischen) Selbstbeobachtung bezeichnet, lassen sich eine Reihe von handlungsanleitenden ideellen Elementen der »sozialistischen Stadt« ausmachen, die diese mehr oder weniger artikuliert durchdrangen. Erstens ein biopolitisches Hier zu verstehen als eine auf den menschlichen Körper und die menschliche Gattung gerichtete Politik. Gestaltungsmotiv, das die Ein- oder Zwei-Kind-Familie zur gesellschaftlichen Norm erklärte. Diese Norm wurde über die Praxis der staatlich monopolisierten Wohnungsvergabe, die Eheleute mit Kind(ern) bevorzugte, und die des staatlichen Wohnungsbaus mit seinem deutlichen Schwerpunkt auf Zwei- beziehungsweise Dreiraumwohnungen In Halle-Neustadt bestanden beispielsweise 61 Prozent des Gesamtwohnraums aus 3-Raumwohnungen. Zahl nach: Karlheinz Schlesier und Autorenkollektiv, Halle-Neustadt. Plan und Bau der Chemiearbeiterstadt, hrsg. vom Büro für Städtebau und Architektur des Bezirkes Halle, Berlin 1972, 197. durchgesetzt.

Zweitens Kultur und Bildung als Elemente einer »sinnvoll genutzten Freizeit«. Der kulturellen und geistigen Bildung kam in der Konzeption vom »neuen Menschen«, in den 1970er Jahren präzisiert zur »allseitig und harmonisch entwickelten sozialistischen Persönlichkeit«, abcd 1965 in §1, Absatz 1 des »Gesetzes über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR« als allgemeines Erziehungsziel festgelegt. eine besondere Rolle zu. Dabei ging es freilich nicht um eine kritische Aneignung von Wissen oder Auseinandersetzung mit Kunst. Die BewohnerInnen der »sozialistischen Stadt« wurden, dies die technokratische Sprachpraxis, planmäßig »beschult« und »bekunstet« mit dem Ziel der »Entwicklung eines den wissenschaftlich-technischen Fortschritt meisternden Typ von Facharbeiter«. Rolf-Jürgen Glaß, Die SED-Bezirksorganisation Halle und die Errichtung von Halle-Neustadt. Dissertation A, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/S 1985, III. Mit Marx, Goethe und Beethoven sollten aus Proleten Proletarier werden, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ein Projekt, das offenbar recht erfolgreich verlief: Eine Studie aus den 90er Jahren bescheinigt der Bevölkerung Halle-Neustadts ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau. Vgl. Thomas Hafner, Halle-Neustadt. Die sozialistische Modellstadt einst und heute, in: Hans-Rudolf Meier (Hg.), Denkmale der Stadt – die Stadt als Denkmal. Probleme und Chancen für den Stadtumbau, Dresden 2006, 132. Die »Chemiearbeiterstadt« verfügte über eine nominell einhundertprozentige Abdeckung mit Krippen- und Kindergartenplätzen. Die Schulen waren im Zentrum der »Wohnkomplexe« angeordnet und das »Bildungszentrum« mit Erweiterter Oberschule, »Polytechnischem Kombinat«, einer Einrichtung der Universität Halle, Bibliotheken sowie Sporteinrichtungen wurde noch vor dem Stadtzentrum fertiggestellt – anders als letzteres sogar vollständig.

Insgesamt wurden mehr als 150 Werke bildender Kunst installiert, darunter fanden sich Natur- und Gegenwartsbezüge, historische und utopische Motive; sportliche und geistige Betätigung spielten eine Rolle, Märchenfiguren waren verarbeitet worden genauso wie die Topoi Technik und Technologie. Die Kunst zitierte nationales kulturelles Erbe, agitierte internationalistisch und affirmierte dabei selbstredend die Errungenschaften des Sozialismus. Die Werke trugen klangvolle Namen wie »Lenins Worte werden wahr«, »Jugend und Tanz« oder »Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR«. Was »schön« und »wertvoll« war, bestimmten staatliche Kommissionen, in denen die SED das letzte Wort hatte: Künstlerinnen und Künstler, die unter das Verdikt der »Abstraktion« oder des »Kosmopolitismus« gerieten, waren zumeist zur Veränderung der Werke gezwungen oder wurden von der Vergabe der lukrativen Aufträge ausgeschlossen.

 Ein dritter kategorieller Bestandteil des Konzepts »sozialistische Stadt« war die soziale Gleichheit, das »Glücklichsein für jeden«. Das formulierte Staatsziel der klassenlosen Gesellschaft machte die DDR in der Selbstwahrnehmung ihrer politischen Führung zur sozialen Übergangsgesellschaft. Objektiv bestehende soziale Unterschiede wurden als Überbleibsel der kapitalistischen Ordnung interpretiert. Die daraus resultierenden Implikationen für die Städtebau- und letztlich auch Wohnungspolitik der DDR liegen auf der Hand. Bestehende Stadtstrukturen, in Halle-Neustadt war es der Fingerzeig auf das benachbarte Halle, wurden als sozialer und räumlicher Ausdruck der überkommenen Verhältnisse begriffen, die es »sozialistisch umzugestalten« galt. Konkret kritisiert wurde die soziale Segregation der Wohnquartiere im Kapitalismus, in denen die einkommensschwachen Schichten in engen, dunklen Wohnungen unter schlechten hygienischen Bedingungen hausten. Aus dem sozialen Gleichheitspostulat ergab sich für die neuen Siedlungsstrukturen eine klare Programmatik. In Halle-Neustadt kam diese sehr deutlich im Gedanken des »Wohnkomplexes« zum Ausdruck: »Der Wohnkomplex einer Stadt im Sozialismus ist nicht durch Differenzierung nach Einkommensklassen, Berufsständen oder anderen Unterschieden gekennzeichnet. […] Es gibt keinen sozial bedingten Vorrang für die Anlage von Wohnkomplexen oder einen aus diesem Grunde begünstigten Standort von Wohngebäuden innerhalb des Wohnkomplexes. Jeder wohnt unter gleichen Bedingungen in gleichen Wohnungen: Es wohnen der Generaldirektor im gleichen Haus wie der Anlagenfahrer aus dem großen Chemiekombinat, die Oberbürgermeisterin im gleichen Block mit dem Schaltwart aus der Wärmeversorgungszentrale und dem Städtebauer.« Karlheinz Schlesier und Autorenkollektiv, Halle-Neustadt. Plan und Bau der Chemiearbeiterstadt, hrsg. vom Büro für Städtebau und Architektur des Bezirkes Halle, Berlin 1972, 85.

So zumindest der Anspruch. Wer in eine »sozialistische Stadt« zog – und der Wohnraum war, wie gesagt, begehrt – hatte grundsätzlich nicht die Wahl. Wohnungen wurden zugewiesen, wobei die betriebliche Zugehörigkeit und der Familienstand vor allem anderen eine Rolle spielten. In Halle-Neustadt befand sich der größte Teil des Wohnraums im Besitz so genannter Arbeiterwohnungsgenossenschaften, hier konkret der Chemiebetriebe Leuna und Buna. Folgerichtig erhöhte die Tatsache, dass ein Familienmitglied in einem dieser Betriebe arbeitete, die Chance auf eine Wohnung erheblich und viel weniger als man zunächst vermuten mag, war es die Nähe zur politischen Elite. Alles zusammengenommen durfte an der mit der sozialistischen Stadt verbundenen egalitären Gesellschaftsvision partizipieren, wer folgenden Kriterien entsprach: Erstens deutsch und weiß: die einzig nennenswerten nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen wohnten entweder in Kasernen, wie die so genannten Russen, oder in Wohnheimen, wo man die ArbeitsmigrantInnen aus dem »Bruderland« Vietnam verwahrte. Zweitens zumindest vorgeblich heterosexuell und entsprechend reproduktionsfähig bzw. -bereit. Drittens politisch wenigstens unauffällig. Viertens produktiv arbeitend oder solches zumindest glaubhaft geltend machend. Für diesen sozialen Querschnitt erwies sich die große Mehrheit der Bevölkerung des »Arbeiter- und Bauernstaats« als durchaus passfähig.

Die »Chemiearbeiterstadt« sollte, dem Willen ihrer ErbauerInnen nach, exklusiv den IndustriearbeiterInnen vorbehalten sein. Attraktive Neubauwohnungen und eine günstigere Versorgungssituation sollten vor allem junge ArbeiterInnen in die Stadt locken, deren Gestalt und innere Ordnung auf, nach damaligen Vorstellungen, bestmögliche und effizienteste Reproduktion angelegt war. In die technokratische Sprachpraxis der DDR übersetzt ging es vor allem darum, den »Freizeitfonds der Werktätigen« zu erhöhen. Die PlanerInnen hatten erkannt, dass sich das disponible individuelle Zeitbudget zwischen, durch den Schichtbetrieb diktierter, Produktions- und biologisch determinierter Reproduktionszeit nur durch eine Verkürzung der Transitzeiten vergrößern ließ. Dies schlug sich sehr deutlich in der gestalterischen Ordnung der Stadt nieder. Das Verkehrskonzept war beispielsweise konsequent auf die zentral in Nord-Süd-Richtung verlaufende Schnellbahnstrecke nach Leuna beziehungsweise Buna ausgerichtet. In dem täglichen Ritual des gemeinsamen Gangs zum Schichtzug – der Halle-Neustädter Bahnhof war auf die gleichzeitige Abfahrt von mehreren tausend Menschen angelegt – manifestierte sich der vierte zentrale Gedanke der »sozialistischen Stadt«: die Kreation einer Gemeinschaft der Arbeitenden. Die diesem Konzept inhärente Arbeitsethik schrieb der Stadt gleichsam die Funktion eines industriellen Komplementärbetriebs mit der Hauptaufgabe der Reproduktion von Arbeitskraft zu.

Dystopie oder bad performance?

Das für Halle-Neustadt gesteckte Ziel, wenigstens die Hälfte der EinwohnerInnenschaft im erwerbsfähigen Alter in der chemischen Industrie zu beschäftigen, wurde zu keinem Zeitpunkt erreicht. Fred Staufenbiel und Autorenkollektiv, Stadtentwicklung und Wohnmilieu von Halle-Neustadt. Soziologische Studie, Hochschule für Architektur und Bauwesen, Weimar 1985, 20. Die VerfasserInnen der Studie dokumentieren für das Jahr 1983 lediglich 14.000 Beschäftigte in den Chemiekombinaten, gegenüber 39.000 Menschen mit einer Arbeitsstelle in Halle, Halle-Neustadt bzw. dem »sonstigen Umland«. Gerade die Arbeitsplätze in den chemischen Betrieben galten als unattraktiv und wer die Chance hatte, suchte sich anderswo eine neue Arbeit.

Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 2000, 199 f. Vielmehr formierte sich hier letztendlich eine für die DDR wiederum typische Angestelltengesellschaft mit einem Habitus, den Wolfgang Engler zutreffend als »arbeiterlich« bezeichnet hat: »Nicht nur die Industriearbeiter verbanden sich für ihr gesamtes Berufsleben mit der Arbeit, mit Arbeit überhaupt, sondern sämtliche Beschäftigtengruppen taten dies: Angestellte, Genossenschaftsbauern, Handwerker, Dienstleistende, Intelligenz, wirtschaftliches, administratives und politisches Personal. […] Es wäre eine Absurdität zu behaupten, die […] Arbeiter hätten die politische Herrschaft ausgeübt. Aber das soziale Zepter hielten sie in der Hand. Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten richteten sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klasse.« Vgl. bspw. Isolde Walter, Die geistig-kulturellen Interessen der Bewohner in Halle-Neustadt, in: Rudhard Stollberg (Hg.), Soziologie in Theorie und Praxis. Soziologische Aktivitäten an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/S. 1968, 81–87 oder Helga Heinrich, Psychologische Untersuchung zum Rezeptionsverhalten in den Neubaugebieten Halle-Neustadt und Rostock-Evershagen, Bauakademie der DDR, Institut für Städtebau und Architektur, o.O. 1977.

Und gerade diese »arbeitende Klasse« entwickelte eine ausgesprochene Übung darin, den an sie gerichteten Erwartungen nicht zu entsprechen. Der vergrößerte »Freizeitfonds« wurde nicht etwa in das Studium marxistischer Klassiker investiert, sondern vor dem Fernseher, im Kleingarten oder mit der mühevollen Individualisierung der Plattenbauwohnungen verbracht. Die BewohnerInnen der »Chemiearbeiterstadt« erlebten ihr Wohnumfeld, wie verschiedene noch in der DDR entstandene Studien(16) belegen, als belastend, monoton und psychisch unterfordernd und nicht etwa, wie beabsichtigt, als zur Bildung einer »sozialistischen Gemeinschaft« anregend. Teile der städtischen Jugend wichen, mangels Frei- oder überhaupt Räumen, in die evangelische Kirchgemeinde aus und das »Hauskollektiv« funktionierte in den meisten Fällen lediglich als Repressionsgemeinschaft. Aussagekraft für die Rezeption des Projekts »sozialistisches Stadt« durch die BewohnerInnen hat nicht zuletzt das Ende der Geschichte Halle-Neustadts als eigenständige Kommune. Die »Chemiearbeiterstadt« wurde im Mai 1990 qua BürgerInnenentscheid zum Stadtteil von Halle.

Gemessen an den artikulierten Ansprüchen kann das Projekt »Chemiearbeiterstadt« getrost als gescheitert gelten: Eine Arbeiterstadt, in der die ArbeiterInnen in der Unterzahl waren, deren Bildungsoptimismus zwar en masse soziale AufsteigerInnen produzierte, diesen aber gleichzeitig die Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung verwehrte. Humaner zwar als die alten Städte, keinesfalls aber hedonistisch. Trist und monoton projektiert statt vernünftig und zweckmäßig gestaltet. Teilweise sind die Gründe des Scheiterns in der mangelhaften Umsetzung zu suchen: Die scheinbaren und objektiven Notwendigkeiten der Planwirtschaft beließen Halle-Neustadt bis zuletzt im Stand des Unfertigen. Das »Kulturzentrum« beispielsweise, ein großzügig und modern geplanter Bau, der gemeinsam mit anderen Komponenten den funktionalen Kern der Stadt bilden sollte, wurde so niemals realisiert. Auch fehlte es an den Ressourcen oder der politischen Einsicht, diese bereitstellen zu müssen, um ein ausreichendes Angebot an Freizeiteinrichtungen zu schaffen. Besonders sichtbar wurde dieser Mangel, wie KritikerInnen bereits in den 80er Jahren bemerkten, bei Angeboten für die zahlreichen Jugendlichen der Stadt. Es scheint jedoch zu kurz gegriffen, allein die - wenngleich evidente - bad performance des Systems für das Scheitern verantwortlich zu machen. Sie sind vielmehr in der Idee der Stadt zu suchen, die konzipiert ist für die fließbandmäßige Produktion sozialistischer Normbiografien bei systematischer Verhinderung von Abweichungen. Die objektive Leistung der »sozialistischen Stadt«, eine ganze Generation von Menschen aus der Enge der sozial segregierten Quartiere zu befreien, ist zu benennen. Die mit ihr verbundene Erziehungsabsicht, sanktioniert durch das verwalterische Monopol des Staates über Wohnungen und Bauland, kann aus heutiger Sicht nur als Dystopie, als Schreckensvision, bezeichnet werden.

~Von Henning Schulze. Der Autor lebt und arbeitet in Berlin.