Zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit

Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner gibt mittels seiner Untersuchung über Tradition und Wirkung des deutschen Antiamerikanismus Impulse für eine überfällige Debatte.

Die nach den Anschlägen vom 11. September in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zu vernehmende Schadenfreude und Bestrafungsphantasie, wie auch die gegenwärtige Hysterie um ein mögliches militärisches Eingreifen der Vereinigten Staaten im Irak offenbaren die Konjunktur amerikafeindlicher Einstellungen. Die Beispiele sind Legion: Sie reichen von höchster Ebene – Bundeskanzler Schröders im Wahlkampf proklamiertem »Deutschen Weg« und seinen Implikationen oder dem von Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin angestrengten »Bush-Hitler-Vergleich« - bis zur friedensbewegten deutschen Basis. Zu derem Repertoire gehören die unsäglichen, auf diversen Antikriegs-Demonstrationen geäußerten Assoziationen der in Aussicht stehenden amerikanischen Intervention mit Ereignissen des Zweiten Weltkriegs wie etwa der Bombardierung Dresdens im Februar 1945. Auf die Verwendung derart problematischer Bilder angesprochen, wird das Ressentiment in der Regel abgestritten und als legitime Kritik an den Vereinigten Staaten darzustellen versucht.
 

Antiamerikanismus und die deutsche Linke

Teile der historisch sich vergewissernden deutschen Linken sind seit langem darum bemüht, solcherart Missverhältnis von berechtigter Kritik und blindem Antiamerikanismus vornehmlich in den eigenen Reihen zu problematisieren. Sie verweisen auf die Nähe des Antiamerikanismus zum Antisemitismus. Die gegenwärtige Konjunktur jedoch belegt, dass derartige Bemühungen nicht so recht fruchten wollen – im Gegenteil: Allen Problematisierungen zum Trotz entpuppt sich Antiamerikanismus als historisch langlebiges Ressentiment, dem durch den Appell an die Vernunft nicht beizukommen ist. Dafür mag der Irak-Konflikt exemplarisch dienen: Letztendlich ist egal, ob ein Krieg gegen den Irak überhaupt kommt oder nicht – der Virulenz des Ressentiments jedenfalls kann er nichts anhaben. Das aber liegt nicht etwa an einer wie auch immer sich in Etappen artikulierenden Boshaftigkeit Amerikas – wie sie als Einwand gern geltend gemacht wird. Stattdessen liegt die Ursache im Wesen des Antiamerikanismus selbst, der vorrangig auf der Projektion eigener Befindlichkeiten beruht. Es ist nämlich relativ egal, was Amerika wirklich tut oder nicht – entscheidend für die Einordnung ist das über Amerika vorherrschende, sich aus Tiefenschichten nährende und dabei meist feindselige Bild.
Da kommt ein Buch gerade recht, dass der deutsch-israelische Historiker Dan Diner unter dem Eindruck der aktuellen Konjunktur über das »Feindbild Amerika« und seine Beständigkeit überarbeitet hat. Bereits 1993 erschien es unter dem Titel »Verkehrte Welten«. Hintergrund war der sich im wiedervereinigten Deutschland artikulierende Antigolfkriegs-protest und der ihm eigenen Verwendung historisch lang zurückliegender Bilder, vornehmlich des Zweiten Weltkriegs, durch eine junge und an der Weltkriegsgeschichte nicht unmittelbar beteiligte Generation. Nach dem 11. September wurde das Buch um ein aktuelles Kapitel erweitert, das die Ausweitung des Antiamerikanismus auf außereuropäische Gesellschaften thematisiert. Gleichzeitig dient es als Anleitung zum Verständnis zu der nach dem Epochenbruch von 1989 neuen Rolle der Vereinigten Staaten in der sogenannten Neuen Weltordnung bietet.
Diners Biographie vermag zugleich die Motivation des Buches zu erklären und als Spiegelbild der Entwicklung der deutschen Linken dienen. Schließlich erfolgte sein sukzessiver Rückzug von der bundesdeutschen Linken Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre nicht zuletzt aus der Frustration vor der quasi konjunkturell wiederkehrenden Verweigerung der Problematisierung ebensolcher im Kern antizivilisatorischer Denkmuster, seien sie nun antiamerikanischer oder antisemitischer Art gewesen. Im Gegenzug wandte sich Diner der historiographischen Reflexion solcher Denkmuster zu. Er beschäftigte sich fortan unter anderem mit der Konstruktion sogenannter Gedächtniskulturen, die unterschiedliche historische Erfahrungen verschiedener Generationen historisch langlebig transportieren. Vor diesem Hintergrund also ist auch seine Abhandlung zum Antiamerikanismus nicht nur der deutschen Linken, sondern des deutschen kollektiven Gedächtnisses überhaupt zu verstehen.
 

Zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit oder die Angst vor der Moderne

Diners Buch zeichnet sich besonders wegen seiner einschränkenden, um Unterscheidung bemühten Trennung zwischen Berechtigung einer Kritik einerseits und blindem Antiamerikanismus andererseits. Die Debatte, die gegenwärtig um die Frage »Ja« oder »Nein« zum Irak-Krieg kreist, wurde ja in der Linken bisher nur in Polarisierungen geführt. »Tradition und Wirkung amerikafeindlicher Ressentiments und Befindlichkeiten aufzuzeigen«, so Diner, »ist ein undankbares Unterfangen. Schließlich sind nicht alle kruden Äußerungen über die USA Ausdruck blinder Phantasie.« Um so mehr ist deshalb auf der Unterscheidung zwischen amerikafeindlicher Metaphorik als Ausdruck von Weltanschauung, sowie der Kritik an tatsächlich kritikwürdigen Missständen der politischen Kultur Amerikas zu bestehen. Solche Unterscheidung ist nicht immer einfach, reibt sie sich doch an einer die Darstellung beider Aspekte beanspruchenden Weltanschauung, die eine Art »versteckte Wahrheit« zu transportieren weiß. Die Betrachtung antiamerikanischer Topoi jedoch entlarvt, dass ihr Ziel in der Regel weniger der berechtigten Kritik als vielmehr der aus eigener Befindlichkeit sich speisenden Anklage Amerikas gilt. Sie verdichtet sich zur Mentalität, die bekanntlich keinen vernunftbegründeten Widerspruch duldet.
Mit der angemahnten Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Phantasie als Anleitung für eine berechtigte Kritik korrespondiert auch die Essenz der Hauptthese Diners. Diese deutet den Antiamerikanismus als angstvolle Reaktion von Traditionsgesellschaften vor der in Amerika personifizierten Moderne. Demnach lege sich Antiamerikanismus »als Schleier unterschiedlicher Konsistenz auf in den Vereinigten Staaten tatsächlich anzutreffende oder ihnen auch nur zugeschriebene Phänomene von Politik, Kultur und Alltagsleben. [...] Bei aller Unterschiedlichkeit der Embleme und Metaphern des antiamerikanischen Ressentiments ist ein Element jedenfalls von durchgängiger Beständigkeit – das Element einer ambivalenten, vornehmlich aber feindseligen, durch Angst bestimmten Reaktion auf die Moderne.« Da Amerika als modernste aller möglichen Varianten der Moderne gelte, neigten vor allem Traditionsgesellschaften wie die Europas, neuerdings auch die des arabisch-muslimischen Raums dazu, auf die allgegenwärtigen Phänomene der Moderne mit dem antiamerikanischen Ressentiment zu antworten: »Ein offensichtliches Paradoxon stellt sich her: widerständige Reaktionen auf Zeichen einer inkriminierten Zeit – der Moderne – konvertieren in die Male eines denunzierten Ortes – Amerika.«
Diners These des Antiamerikanismus als Angst von Traditionsgesellschaften vor der Moderne ist demnach historisch auf eine weitverbreitete Denkform zurückzuführen, die Amerika in Verbindung mit den negativen Folgen der Moderne zu bringen weiß. Diners Darstellung des deutschen amerikafeindlichen Ressentiments reicht dabei von den Autoren der Romantik über die durch Kriegserfahrungen verstärkte negative Wahrnehmung Amerikas in der Weimarer Republik und der Nazizeit bis hin zu Ausprägung eines sich vorrangig der Rechtfertigung der NS-Verbrechen dienenden Ressentiments in der Bundesrepublik bis in die heutige Zeit und ihre durch die veränderte weltpolitische Lage nach dem Ende der Bipolarität veränderte Stellung der USA. Ohne diese Entwicklung an dieser Stelle in Gänze auszubreiten, soll kurz den frühen Entstehungsbedingungen Aufmerksamkeit geschenkt werden. In Deutschland nahm diese Entwicklung ihren Ausgang in den falsch interpretierten und auf Amerika projizierten Entfremdungserfahrungen der Moderne des 19. Jahrhunderts: »Während in den klassischen West-Ländern die Entwicklung von Lebensform und Bewusstsein mit der materiellen Lebenswelt einigermaßen Schritt hielt, war sie in Deutschland von erheblichen Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet. Gewaltige Fortschritte im Bereich von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik gingen mit der Ausbildung von Mentalitäten einher, die kompensatorisch Vergangenen verhaftet blieben. Eine ideologieträchtige Einstellung gegen Zivilisation und Aufklärung, gegen Rationalismus und Materialismus, gegen Technik und Fortschritt und gegen Industrialisierung und Verstädterung machte sich breit. Ein ökonomischer und politischer Machtzuwachs verband sich mit der Beschwörung einer heilen Welt von Bodenständigkeit und Heimattreue, von Dienst und Pflicht, von Tradition und Gemeinschaft.«
Bei aller Ungleichzeitigkeit, die von Diner als Kriterium angeführt wird, rührte solcherart verkürzte Interpretation der Moderne, die sich zudem zunehmend antikapitalistisch gerierte, vor allem aus einem Verständnis, das Wesen und Erscheinungsformen kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt falsch deutete. Bezug nehmend auf Marx’ Fetischbegriff, der eben jenes Missverständnis von Wesen und Erscheinung zum Inhalt hat, ließe sich im Falle des Antiamerikanismus über Diners Argumentation hinaus ausführen, wie sehr die Ausblendung der dem Kapitalismus doch eigenen vergegenständlichten gesellschaftlichen Beziehungen zu einer Identifizierung des »Amerikanismus« bzw. Amerika zugeschriebener Phänomene wie Geld, Börse, Zins und Kommerz mit einer angeblich deformierten kapitalistischen Praxis führt. Grundlage dieser Fehldeutung ist das falsche Verständnis des Doppelcharakters von Ware als Wert und Gebrauchswert. Vernachlässigt man dabei die mittels »abstrakter menschlicher Arbeit« ausgedrückte gesellschaftliche Dimension des Bezugssystems Ware, gelangt man recht schnell zu einer Auslegung, die Geld im Gegensatz zur stofflichen Natur des Gebrauchswerts über ihre Manifestation des Abstrakten hinaus als »Wurzel allen Übels« überhöht. Die Diffamierung Amerikas folgt auf dem Fuß: Was in Amerika zähle, ist nicht das Verdienst im Sinne einer durch redliche Anstrengung erreichten Anerkennung, sondern der Verdienst, der alle Redlichkeit übergeht – nicht der durch redliche Arbeit gewonnene Wohlstand, sondern der mittels rücksichtsloser Spekulation erhaschte Profit.
 

»Amerika ist anders«

Neben solcherart verkürzten Deutung, die gerade angesichts des antikapitalistisch verbrämten Duktus etwa der Antiglobalisierungsbewegung als gegenwärtigem Hauptproduzenten amerikafeindlicher Rede an Bedeutung gewinnt, sind es weitere Elemente des Antiamerikanismus, die der Hinterfragung falscher Wahrnehmung Amerikas auf die Spur helfen. Dazu zählt – neben der strukturellen Ähnlichkeit des Antiamerikanismus mit dem Antisemitismus etwa im Bezug auf Phänomene der Zirkulationssphäre oder im Abstreiten des Ressentiments – in erster Linie die Unkenntnis bzw. die in Verbindung mit amerikanischer Wirklichkeit gebrachte Fehldeutung historischer Prozesse. Diese drückt sich zudem in dem Phänomen aus, dass sich antiamerikanischer Ressentiments vorrangig jene bedienen, die weder praktische, noch theoretische Kenntnis von Amerika haben. Die Liste der Beispiele ist lang und in Diners Buch chronologisch gut dokumentiert. Zwei Haupttendenzen sollen hier dennoch dargestellt werden, da sie über die bloße Unkenntnis hinaus Folgen für die Konstruktion von Gegenwirklichkeit entwickeln.
Ein Beispiel liegt etwa in der nicht wahrgenommenen »Andersartigkeit« Amerikas. Seit der einem neuzeitlichen Gründungsakt gleichkommenden Entdeckung der Neuen Welt sorgte Amerika für europäische Irritationen positiver wie negativer Art. Positiv, indem die Neue Welt als Euphorismus für Visionen von der Überwindung europäischer Standesherrschaft herhalten musste; negativ, indem die in Amerika vermuteten Ideale und Werte als ursächlich für den Verlust eigener Lebensform gedeutet wurden. Die sich zunehmend zur Feindseligkeit verdichtende Entgegensetzung von alter und neuer Welt resultierte dabei nicht zuletzt aus der traumatischen Wirkung der Entstehungsgeschichte des klassischen Einwanderungslandes Amerika: Es ist ein oft ausgeblendeter Fakt, dass die Umstände, die Europäer zu Amerikanern machten, den europäischen Bedingungen entsprangen, »dass an den amerikanischen Einwanderungswellen die Jahresringe europäischer Krisen« abzulesen seien. Dies hatte freilich unweigerliche Folgen für die Konstituierung des amerikanischen Gemeinwesens. Der europäischen Unfreiheit entronnen, baute man in Amerika die räumlich verschobene Reaktion auf die europäischen Zustände. Die europäische Erfahrung schlägt sich so im Charakter des amerikanischen Gemeinwesens spiegelbildlich nieder. Ungleich Europa, wo sich der Staat schon früh zur Voraussetzung von Ordnung und Wohlfahrt erhoben und somit der bürgerlichen Gesellschaft vorausgegangen war, konstituierte sich Amerika von Beginn an als »ein Gemeinwesen als bloße Gesellschaft – ganz ohne Staat.« Die den europäischen Staaten eigene alles überwölbende Staatlichkeit wurde in Amerika in Ablehnung der Hegelschen These von ihrer »kulturellen Überlegenheit« von Beginn an soweit wie möglich außen vorgelassen.
Nun ist einschränkend festzuhalten, dass es »ganz ohne Staat« auch in Amerika nicht ging. Schließlich löste sich amerikanische Staatlichkeit ja nicht in Luft auf, sondern verschob sich zugunsten einer größeren persönlichen Freiheit, etwa in Aspekten der Bewegungsfreiheit auf andere Bereiche wie die Bereitstellung größerer handelspolitischer Spielräume. Die Betonung der Entstaatlichung macht dennoch Sinn, vergegenwärtigt man sich ihrer Auswirkung auf Bereiche des öffentlichen Lebens im Vergleich zur europäischen Wirklichkeit. Zentrale Begriffe dieser amerikanischen »Andersartigkeit« sind die Ideale und politischen Werte von Freiheit, Pluralismus und Demokratie, die gemäß eben jener historischen Erfahrung notwendig andere Gestalt als in Europa annahmen. Zugleich verband sich die aus Europa importierte Erfahrung der Unfreiheit und ihre nach Freiheit strebende Umkehrung mit einem Umstand, der Amerika quasi in die Wiege gelegt wurde. Amerika setzte sich spiegelbildlich zu allen anderen Gemeinwesen nicht aus einer vorgefundenen, ethnisch einheitlichen Bevölkerungsgruppe zusammensetzte, sondern einzig über den geäußerten politischen Willen. Es gruppierte sich ausschließlich um politische Werte und Ideale von Freiheit, Leben und dem Streben nach Glück und nicht über einen religiösen, ethnischen oder anderweitig festgelegten Charakter europäischer Provenienz. Dies hatte wiederum für die Ausprägung des amerikanischen Selbstverständnisses weitreichende Folgen, die im Vergleich zum auf nationalen, ethnischen oder sonstigen beruhenden Charakter europäischer Gemeinwesen nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Zu nennen wäre etwa die im öffentlichen Raum (im Prinzip) durchgesetzte »Neutralisierung« unterschiedlichster ethnischer Herkünfte zugunsten einer Art »Farbenblindheit« im gesellschaftlichen Umgang, wie auch das aus der »Neutralisierung« resultierende grundverschiedene Wesen des amerikanischen Patriotismus, der sich entsprechend nur auf politische Werte und nicht auf Ethnos, »Blut« oder sonstiges berufen kann. Diese Einlassung ist nicht dahingehend falsch zu verstehen, die amerikanische Variante als Lösung zur Beilegung allen Übels zu stilisieren. Hätte man aber die Wahl, wäre Amerika – gemessen an seinem Begriff von Freiheit – dem europäischen Nationalstaat, ganz zu schweigen von dem islamischen Zuschnitts, wohl vorzuziehen.
Diese, in Diners tendenziell angelegte Parteinahme für Amerika gestaltet sich mitweilen nicht minder problematisch, legt sie doch eine positive Amerikarezeption zuweilen recht undifferenziert nahe. Eine solche Haltung entspringt jedoch der Form des Buches als Polemik zuvorderst antiamerikanischer Umtriebe, die zugunsten ihrer Wirkung teilweise auf Differenzierung der eigenen Argumente verzichten muss. Zugleich ist die von Diner betriebene »Apologie Amerikas« nicht dahingehend falsch zu verstehen – wie etwa im antideutschen Lager üblich – ihre Tendenz zu einer Frage um »alles oder nichts« auszubauen, Amerika als Hort der Zivilisation überhöhend in Stellung bringen. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit, Amerika und die westliche Welt als Zivilisation gegenüber den Versuchen der »Barbarisierung« zu verteidigen bzw. bei aller Einsicht in das Marxsche Denken von der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus als Voraussetzung seiner Überwindung bleibt schließlich ein fader Beigeschmack, der aus der allzu leicht fertigen Inanspruchnahme des amerikanischen Glücksversprechens resultiert. Diese polarisierende Inanspruchnahme verbietet sich schon deshalb, weil Diners Buch in Absicht der Abwehr europäischer Projektionen verfasst ist, Amerika also notwendig verteidigen muss. Alle andere Deutung jedoch verklebt die Augen.
 

Globalisierung und der 11. September

Neben der eher grundsätzlichen Frage nach Kenntnis der amerikanischen Wirklichkeit sind es aktuelle Fragen, die in historischer Verzerrung das Arsenal amerikafeindlicher Bilder bereitstellen. Dazu gehört vielerorts auch die von Diner glänzend dekonstruierte Fehldeutung der Globalisierung samt ihrer antiamerikanischen Projektionen im Umfeld des 11. September. Bekanntlich dauerte es nicht lange, und die in der westlichen Welt nach den Anschlägen von New York und Washington bekundete Solidarität mit den Opfern schlug um in ein tendenziell gemeinsames Urteil von der Bestrafung Amerikas für die von ihm begangenen Vergehen. Nach den Ursachen für die Anschläge befragt, offenbarte sich untergründig die Deutung, beim 11. September habe es sich nicht etwa um einen blindwütigen Akt religiöser Fanatiker, sondern um eine letztlich nachvollziehbare und angemessene Rückwirkung der Globalisierung gehandelt – die Attentäter hätten also Berechtigung und im Bewusstsein einer wie auch immer gearteten untergründigen internationalen Gerechtigkeit gehandelt.
Ganz Historiker, weiß Diner eine solche Deutung zurückzuweisen: einerseits mit seinem bemüht neutralen Verständnis von Globalisierung als Phänomen einer zunehmenden Durchlässigkeit vormals territorial-staatlich verfasster nationaler Gemeinwesen und ihrer sich verflüchtigenden Souveränität, andererseits mit einer historischen Betrachtung dessen, was die viel beschworene Änderung der Welt samt dem Aufkommen des Islamismus denn ausmache. Nach Diner lässt sich die Veränderung der Welt vor allem auf den Epochenbruch von 1989/91 in Form des Zusammenbruchs der Sowjetunion zurückführen. Wenngleich die Dynamik des Westens, die sich neben dem Wettrüsten vor allem mittels der durch das Zeitalter der Mikroelektronik ermöglichten weltumspannenden Kommunikation und ihrer Verbreitung des Begriffs von Freiheit darstellte, eine globalisierende Wirkung entfaltete, ist der Zusammenbruch des Kommunismus, so Diner, zuallererst sich selbst, nämlich der Verweigerung von westlicher Freiheit und dem verlangsamten Fortschritt geschuldet. Dass westliche Freiheit nicht alles ist, sprich, dass auf einer allgemeineren Ebene auch andere Ursachen zum Kollaps der Sowjetunion beigetragen haben, wird dabei von Diner geflissentlich übersehen. Zugleich ist seinem Argument jedoch dahingehend recht zu geben, da es vorrangig auf Widerlegung der These, die Außenpolitik der Vereinigten Staaten nach dem Ende der Bipolarität würde quasi ohne Brüche im Sinne einer Eroberung der Welt fortgeführt, zielt.
Folgenreich ist jedenfalls – und das wird gerne übersehen – der von der Sowjetunion repräsentierte Entwicklungsstand einer »einfacheren« Moderne und seine Vermittlung zwischen dem Westen und der Dritten Welt. Mit ihrem Ende und einer daraus resultierenden beschleunigten westlichen Entwicklung hat sie zu einer gesteigerten moralischen und gesellschaftlichen Erschütterung besagter Gemeinwesen beigetragen. Diese Folge wird veranschaulicht, so Diner, durch das sekundäre technische Wissen der Attentäter des 11. September, die zwar in der Lage waren, die Errungenschaften des Westens in ihrer Absicht zu bedienen, nicht jedoch sie zu fertigen. Schließlich setzen die für die Erforschung und Produktion erforderlichen Grundkenntnisse angemessene politische und gesellschaftliche Organisationsformen und Institutionen voraus, die historisch nur in einer sich durchsetzenden Säkularisierung der Lebenswelten – dem Westen – gegeben sind. Auch hier ist Einspruch zu erheben, schließlich ist fraglich, ob die von Diner geforderte Säkularisierung des arabischen Raums aus sich selbst heraus letztlich auch die gewünschten Folgen zeitigt, oder ob nicht – wie etwa am ägyptischen Beispiel deutlich geworden ist – die Durchsetzung im Leeren verläuft, da gewisse ökonomische Kriterien eine solche Entwicklung der »nachholenden Modernisierung« genau bremsen werden. Auch wenn sich das Kapital bekanntlich grenzübergreifend entfaltet, gibt es einfach Regionen auf der Welt, welches es für weniger interessant erachtet.
Weniger fraglich ist indes die von Diners aus historischer Perspektive gezogene Schlussfolgerung. Wird die Entstehung der sich zur Macht verdichtenden Technik nicht durchschaut, liegt es nahe, die westliche Überlegenheit zu mystifizieren und auf die Wirkung einer Verschwörung zurückzuführen, die wiederum nur mittels eines verstärkten Gottesglaubens umso radikaler zu bekämpfen ist. Nach so einer Deutung wären die World Trade Center in den Augen der Attentäter weniger verhasste Symbole einer weltweiten Globalisierung als vielmehr verruchte Embleme einer Zivilisation gewesen, die auf Kosten einer gottesgläubigen Gemeinschaft basierten. Auf die Argumentation der Globalisierungsgegner gewendet, bedeutet das, den 11. September weniger als Handlung sozialen Protests sondern vielmehr als sakralen Akt wahrzunehmen, dem rational nicht beizukommen ist – eine vornehmlich sich historisch herleitende Deutung also, die die vielerorts indirekt vorgenommene Identifizierung mit den Attentätern als Akteure der Globalisierung in die Schranken zu weisen weiß.
 

Fazit

In Wiederaufnahme der eingangs geforderten Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung des Kapitalismus lässt sich aus den von Diner bereitgestellten Ausführungen und darüber hinaus entnehmen, warum sich ein Bezug auf antiamerikanische Bilder und Metaphern für eine an der Überwindung der kapitalistischen Vergesellschaftung interessierte Linke quasi von selbst verbietet. Eine Kritik an amerikanischer Wirklichkeit kann sich demnach nur am Wesen des Kapitalismus als solchem orientieren und nicht an Erscheinungsformen, die antikapitalistisch verkürzt auf Amerika zugeschriebene Phänomene rekurrieren und dadurch in Deutungen eines besseren – womöglich deutschen – Kapitalismus verharren. Die Auflösung des Unterschieds zwischen Wesen und Erscheinung ergibt sich dabei – zumindest im Prinzip – wie von selbst: Das Wesen des Kapitalismus an sich gilt es zu überwinden, was nicht über den »Umweg« der Überwindung seiner Erscheinungen möglich ist.
»Dass die Vereinigten Staaten von Amerika technisch und logistisch in der Lage sind, unilateral zu handeln, kann nicht bedeuten, dass dem nachzugeben auch politisch sinnvoll ist. Es soll nicht heißen – wer kann, darf.« Mit diesen, die mögliche Wirkung der nach dem 11. September gewandelten außenpolitische Maxime eines interventionistischen Isolationismus der Vereinigten Staaten anmahnenden Worten, schließt Dan Diner und kehrt zugleich an den Ausgangspunkt seines Essays – der Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit – zurück. Nach gründlicher Kenntlichmachung der Grenze zwischen geschichtsbewusster Kritik und blindem Antiamerikanismus durch Diners Essay muss eine auf die eigene Legitimität bedachte deutsche Linke die Folgen daraus selber ziehen.

 

Dan Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments. Propyläen, München 2002, 236 S., 20.- €.



Ulrich Zar
Phase 2 Leipzig