In der Geschichte der Psychoanalyse finden sich sowohl Tendenzen zur Medizinalisierung, der Reduktion auf die Behandlungsmethode, als auch Tendenzen zu einer breiten Interdisziplinarität. Die Psychoanalyse selbst ist zugleich klinische Theorie, Subjekt- und Kulturtheorie. Das liegt an ihrem Gegenstand, der zwischen Medizin und Philosophie, zwischen Natur und Kultur liegt. Psyche ist ohne den Körper nicht zu denken, als Psyche ist Körper aber immer schon ein anderes, das Produkt eines Prozesses, in dem Biologie und Kultur verstrickt sind. Diese Zwischenstellung scheint immer wieder ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit hervorzubringen, die Bestimmung des Menschen aus den Naturwissenschaften. Aktuell sind dabei die Neurowissenschaften die Naturwissenschaft der Wahl.
Weder gibt es die Psychoanalyse noch gibt es die Neurowissenschaft. Wenn im Folgenden von Psychoanalyse und Neurowissenschaften gesprochen wird, dann geht es bezüglich der Psychoanalyse um eine, der der »Stachel Freud« (Bernard Görlich) nicht gezogen wurde, also um die Psychoanalyse inklusive der Metapsychologie, das heißt auch inklusive infantiler Sexualität und Nachträglichkeit – um nur einige Kriterien zu nennen. Siehe dazu Christine Kirchhoff, Hass auf Vermittlung und »Lückenphobie«. In, Phase 2.41. Bezüglich der Neurowissenschaften geht es um den aus der Disziplin heraus erhobenen Deutungs- und Geltungsanspruch, also um die Neurowissenschaften als »weltbildgebendes Verfahren« Petra Gehring, Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und die weltbildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft. In: Philosophische Rundschau 51, 2004, 273-293.. Deren Anspruch, mit völlig neuen Wahrheiten über den Menschen aufzuwarten, hinterlässt den Eindruck, naturwissenschaftliche Erkenntnis sei auf eine noch zu klärende Weise viel wissenschaftlicher als andere Formen der Erkenntnis. Was allerdings passiert, wenn das Bild von der Welt und vom Menschen ein neurowissenschaftliches wird, darum soll es im Folgenden anhand der Neuropsychoanalyse gehen.
Der Rückgriff auf die Methoden und Konzepte aus den Neurowissenschaften zur Begründung psychoanalytischer Konzepte entspringt weder einer Krise der Methode (als wirke sie nicht mehr) noch einer Krise der Theoriebildung (als gelänge es nicht mehr, klinische Erfahrung konzeptionell zu fassen). Vielmehr erfolgt der Rückgriff auf die Neurowissenschaften im Zuge eines Legitimationsproblems, das die Psychoanalyse seit Freuds Zeiten begleitet: Als Wissenschaft vom Unbewussten, als Theorie des psychischen Apparates, als »Metapsychologie« (Freud) haftet der Psychoanalyse aufgrund des spekulativen Moments in der TheoriebildungSiehe dazu: Christine Kirchhoff, Wozu noch Metapsychologie, In: Journal für Psychologie, Jg. 18 (1), 2010. der Ruch des Unwissenschaftlichen an. Der gegenwärtige Bezug auf die Neurowissenschaften ist nur der vorerst letzte Versuch einer Legitimation der Psychoanalyse dem Methodenideal der Naturwissenschaften entsprechend.
Auch als Psychotherapieverfahren muss sich die Psychoanalyse legitimieren. Gut beobachten lässt sich das in Deutschland, da hier auch die psychoanalytische Langzeittherapie eine Kassenleistung ist. State of the Art der Psychotherapieforschung ist derzeit, sich möglichst nicht mehr allein auf das Narrativ der untersuchten Patient_innen zu verlassen, also gemäß des Verfahrens der »talking cure« auch bezüglich der Frage nach dem Ausgang die Therapierten sprechen zu lassen, sondern zu zeigen, dass sich ebenso auf neuronaler Ebene etwas getan hat: Nur was im Scan zu sehen ist, kann auch gewirkt haben. Dass etwas passiert (und sich irgendwie zu einem Bild vom Hirn machen lässt), sagt allerdings noch wenig darüber, wie es passiert ist und schon gar nicht warum.
Beim gegenwärtigen Entwurf einer Neuropsychoanalyse handelt es sich nicht um den ersten Versuch, der Psychoanalyse eine objektivierbare Grundlage zu verleihen, ihr Validität zu verschaffen. Die Versuche gleichen sich in dem Versprechen, die Psychoanalyse – endlich – zu einer ordentlichen, sprich evidenzbasierten Wissenschaft zu machen. Eine Figur, die in diesem Diskurs allgegenwärtig ist, ist die folgende: Auch Freud habe sich zeitlebens gewünscht, die Psychoanalyse biologisch zu begründen, habe dies aber aufgrund der Unreife der zeitgenössischen Neurologie nicht tun können. Nun aber sei dies, dank des Fortschrittes in den Neurowissenschaften, endlich möglich. Mark Solms, einer der führenden, international anerkannten Neuropsychoanalytiker, behauptet in einem Interview gar, die Psychoanalyse wäre niemals entstanden, wären die neurowissenschaftlichen Methoden zu Freuds Zeit nicht so unzulänglich gewesen. Mark Solms, Totgesagte leben länger. Interview mit Mark Solms. In: Gehirn & Geist 1-2, 2006, 50-53.
Aus dieser Perspektive erscheint die Freud'sche Metapsychologie als reine Verlegenheitslösung Siehe dazu Christine Kirchhoff, Hoffnung, Aufschub, Reihenbildung. Freud und die Neurowissenschaften, in: Christine Kirchhoff & Gerhard Scharbert: Freuds Referenzen. Berlin 2012., die Psychoanalyse als eine »vorläufige Neuropsychologie der Persönlichkeit« Mark Solms/Michael Saling ,On Psychoanalysis and Neuroscience: Freud’s Attitude to the Localizationist Tradition. Int. J. Psycho-Anal. 67, 1986, 397-416, Übersetzung J.H., die Vereindeutigung psychoanalytischer Konzepte durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse als das anzustrebende Ziel.
In diesem Kontext ist es wichtig zu beachten, dass sich die Psychoanalyse seit Freuds Zeiten in eine Vielzahl von Theorieansätzen, Konzepten und Schulen ausdifferenziert hat. Es kann sehr bereichernd sein, sich der sich daraus ergebenden Übersetzungsanforderung zu stellen und Perspektiven zu vergleichen und zu kombinieren. Allerdings kann konzeptionelle Vielfalt und Widersprüchlichkeit auch den Eindruck einer Sprachverwirrung babylonischen Ausmaßes hinterlassen, begleitet von dem Wunsch nach einem neuen Turm.
Freuds Werk, das ständig mit Rückgriffen, Vorgriffen und späteren Korrekturen arbeitet, in dem Begriffe und Konzepte – wie der Wunschbegriff oder der Triebdualismus – scheinbar aufgegeben oder stets neu formuliert werden, lädt geradezu ein, einzelne Teile daraus zu isolieren oder nur mit einzelnen Bestimmungen zu arbeiten. Ist in neuropsychoanalytischen Texten beispielsweise die Rede vom Trieb, wird dieser in den meisten Fällen bestimmt als »Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist« Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale, in: Ders.: Gesammelte Werke X, Frankfurt a.M. 1915, 210-232, 214., eine Definition, die das Konzept »Trieb« als quantifizierbar und in physiologischer Sprache reformulierbar bestimmt. Darin ist der Freud’sche Triebbegriff jedoch nicht aufgehoben. Eine elaborierte Metapsychologie erfordert eine Relektüre des Freud’schen Werks und kann nicht durch den Bezug auf eine isolierte Definition ersetzt werden.
Das Unbehagen an metapsychologischen Begriffen zeigt sich exemplarisch in einem Beitrag im Journal of Neuro-Psychoanalysis bezüglich Freuds Konzept des Psychischen Apparats. Dort fragen die beiden Autoren Talvitie und Ihanus: »Was meinte [Freud], wenn er von ihm [dem psychischen Apparat] als ›Medium‹ sprach? Sollte er lediglich als theoretisches Konstrukt oder Metapher angesehen werden? Wenn ja, wie kann damit irgendetwas erklärt werden? […] wie können wir wissen, dass er überhaupt existiert?« Vesa Talvitie/ Juhani Ihanus, The Psychic Apparatus, Metapsychology, and Neuroscience: Toward Biological (Neuro)Psychoanalysis. Neuro-Psychoanalysis 8 (1), 2006, 85-98; Übersetzung J.H. Ein »lediglich theoretisches Konstrukt« durch etwas zu ersetzen, von dem man »weiß, dass es existiert«, das sich mit physikalischen Methoden messen und mit statistischen Methoden quantifizieren lässt, ist das Anliegen der Neuropsychoanalyse. Zumindest das der Autoren und Autorinnen der einzigen neuropsychoanalytischen Fachzeitschrift, dem Journal of Neuro-Psychoanalysis. Wenn beispielsweise der Trieb die Bedürfnisse des Körpers ausdrückt, wie die verkürzte Lektüre Freuds nahelegt, dann muss, um herauszufinden, wo die Triebe im Gehirn sitzen, die Stelle gefunden werden, an der die Körperbedürfnisse registriert werden. Ist dieser Sitz der Triebe lokalisiert, kann eine neurophysiologische Messmethode die Triebstärke auch quantitativ erfassen und damit Freuds ökonomisches Modell verifizieren: »Wenn wir zuverlässige physiologische Korrelate der Triebe finden können, könnten wir in der Lage sein, diese auf eine Art zu messen, die aus einer rein psychoanalytischen Perspektive kaum möglich ist.« Yoram Yovell, Is There a Drive to Love? Neuro-Psychoanalysis 10 (2), 2008;, 117-144, 119. Übersetzung J.H.
Die psychoanalytische Methode scheint in der neuropsychoanalytischen Literatur in erster Linie als Methode der klinischen Diagnostik wahrgenommen zu werden, oder als »eine Art Heuristik«, als »wunderbares Instrument« zur Generierung von Hypothesen, deren Überprüfung dann den empirischen Naturwissenschaften zukommt. Mark Solms ,Totgesagte leben länger. Interview mit Mark Solms. Gehirn & Geist 1-2, 2006, 50-53, 50. Dabei hält sich die Neuropsychoanalyse zugute, eine nichtreduktionistische Theorie zu sein und den »rabiaten Reduktionismus« (Yoram Yovell) der früheren Neurobiologie überwunden zu haben. Die Philosophin Christine Zunke nennt diesen nichtreduktionistischen Physikalismus eine »eigenschaftsdualistische Position«. Diese umschiffe das Leib-Seele-Problem, die grundlegende Frage des Verhältnisses von Psyche und Körper, von Gehirn und Geist, umschifft, indem sie nur von unterschiedlichen, nicht vollständig aufeinander reduzierbaren – neuronalen und mentalen – Eigenschaften eines Gegenstandes spricht. Dieser Gegenstand ist jetzt aber das Gehirn, an dem sich tatsächlich nur eine der beiden Eigenschaften, nämlich die neuronale, bestimmen lässt. So gerät der Neuropsychoanalyse – und das ist erkenntnistheoretisch relevant – unter der Hand der eine Gegenstand mit zwei Eigenschaften wieder zu zwei Gegenständen, aus Gehirn wird Gehirn und Geist, also ein »materielle[s] Ding […] und ein Reflexionsbegriff«. Behandelt wird der angeblich nur eine Gegenstand aber wie ein rein materielles Ding und daher naturwissenschaftlich beforschbar. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008, 99.
Damit sind jedoch – und das ist für die Frage nach dem Verhältnis von Neurowissenschaften und Psychoanalyse die entscheidende Konsequenz – die neuronalen Eigenschaften diejenigen, die nun am angeblich gemeinsamen Gegenstand, dem Gehirn, gezeigt werden können und damit als unmittelbar erscheinen. Gegenüber den mentalen oder psychischen Eigenschaften, die nicht unmittelbar am scheinbar gemeinsamen Gegenstand nachweisbar sein können, sind so die neuronalen Eigenschaften immer die beweiskräftigeren im Sinne einer empirischen Wissenschaft. Die Neuropsychoanalyse haftet an der Vorstellung unmittelbarer Erfahrung (in der »Erste-Person-Perspektive«) und Beobachtung (in der »Dritte-Person-Perspektive«). Erfahrung und Beobachtung müssen im Sinne einer konsistenten Beschreibung des gemeinsamen Gegenstands der beiden Perspektiven ineinander auflösbar sein, daher auch den gleichen Gesetzen von Zeitlichkeit und Logik folgen. Unter diesen Voraussetzungen ist das Unbewusste der Psychoanalyse mit seiner spezifischen Zeitlichkeit von Gleichzeitigkeit und Nachträglichkeit nicht denkbar. Metapsychologische Konzepte wie der Trieb werden zur Seite der empirischen Naturwissenschaften hin aufgelöst, neurologische Korrelate in Analogieschlüssen zum Ursprung psychischer Phänomene erklärt. Methode und Gegenstand der Psychoanalyse fallen, wie Mark Solms und Oiver Turnbull befriedigt feststellen, den »außerordentlich harten Fakten« zum Opfer. Mark Solms/Oliver Turnbull, Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse, Düsseldorf 2007, 56f. Hervorh. i.Orig.
Die Auflösung psychoanalytischer Begriffe und Erkenntnisse in neurowissenschaftliches Denken findet sich als Grundhaltung der Neuropsychoanalyse auf verschiedenen Ebenen der Auseinandersetzung. Mit dem Verwerfen der psychoanalytischen Methode zum Erkenntnisgewinn – nur zur Hypothesengenerierung und klinischen Diagnostik habe sie Geltung – geht ein lediglich oberflächliches Bekenntnis zur Metapsychologie einher. Metapsychologische Begriffe sollen demnach bloß übergeordnete Abstraktionen neurologischer wie psychologischer Beobachtung sein und nicht mehr Voraussetzung und zugleich Ergebnis psychoanalytischer Erkenntnis. Metapsychologische Begriffe werden im Versuch, sie neurowissenschaftlich zu fundieren, ganz auf die Seite der Neurowissenschaften und Biologie geschlagen. Damit wird beispielsweise der Triebbegriff unter der Hand zu einem physiologischen Konzept, so dass die Verknüpfung von Neurowissenschaften und Psychoanalyse letztlich auf eine Verkürzung und Entstellung Freud’scher Konzepte und psychoanalytischer Erkenntnis hinauslaufen muss. Der Versuch, die Psychoanalyse auf den Boden einer rationalen, evolutionsbiologisch begründeten, naturwissenschaftlichen Theorie zu stellen, geht damit einher, ihr das Unheimliche, Irrationale, Sexuelle auszutreiben. Metapsychologische Begriffe wie der des Triebs dienen als Schibboleth neuropsychoanalytischer Theorie, da in ihnen, wie Freud sie entworfen hat, all dies Unheimliche, Irrationale und Sexuelle enthalten ist, das den psychoanalytischen Gegenstand und seine Theorie bestimmt, naturwissenschaftlicher Objektivierung aber zuwiderläuft. Um es mit dem ›späten Freud‹ zu sagen, der darin auch in knapper Form seine erkenntnistheoretischen Annahmen versteckt, indem er die »Ergebnisse unserer Arbeit« als von den begrifflichen Voraussetzungen oder »Moralbesetzungen« untrennbar begreift, hat die Psychoanalyse »wenig Aussicht, beliebt oder populär zu werden. Nicht nur, dass manche ihrer Inhalte die Gefühle vieler Menschen beleidigen, fast ebenso störend wirkt es, dass unsere Wissenschaft einige Annahmen einschliesst, die – man weiss nicht, soll man sie zu den Moralbesetzungen oder zu den Ergebnissen unserer Arbeit rechnen – dem gewohnten Denken der Menge höchst fremdartig erscheinen müssen und herrschenden Ansichten gründlich widersprechen.« Sigmund Freud, Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis, in: Ders.: Gesammelte Werke XVII, Frankfurt a.M. 1940, 139-147, 142. Die Behauptung der Neuropsychoanalyse, Freuds Wünsche zu erfüllen und so sein Erbe anzutreten, und ihre gleichzeitige Angst vor dem Beleidigenden, Störenden, Fremdartigen in diesem Erbe kulminiert in einem Bedrohungsszenario, in dem die Psychoanalyse sich nur retten könne, wenn sie sich, wie es der Neurobiologe und Nobelpreisträger Eric Kandel fordert, zu einem Bestandteil der Biologie macht.
Kandel liest Freuds Entwurf einer Psychologie von 1895 als »neuronales Modell des Verhaltens« Eric Kandel, Ein neuer theoretischer Rahmen für die Psychiatrie, in: Ders. Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt a.M. 2008, 73-109, hier 75.. Dies »biologische Modell« habe Freud »aufgrund des unreifen Zustandes der Hirnforschung« zugunsten eines »rein mentalistischen« Modells aufgegeben, welches auf den »sprachlichen Berichten subjektiver Ergebnisse« beruhte. Ebd. Das »Verlangen der Psychoanalyse«, die sich »immer noch nicht als Zweig der Biologie versteht«, könne gar nicht anders als »darin liegen, die kognitivste der Neurowissenschaften zu sein«. Eric Kandel, Biologie und die Zukunft der Psychoanalyse, in: Ders. Psychiatrie, Psychoanalyse, a.a.O., 119-183, hier 125. Die Zukunft der Psychoanalyse, »wenn sie denn überhaupt eine Zukunft haben soll«, liegt für Kandel »im Dunstkreis der empirischen Psychologie, die von bildgebenden Verfahren, neuroanatomischen Methoden und der Humangenetik unterstützt wird«. Kandel, theoretischer Rahmen, 107. Hier wird der Eindruck erweckt, wer nicht zustimme, also die Psychoanalyse nicht als Teil der Biologie sehen möchte, grabe an ihrem Grab.
Seinem programmatischen Aufsatz »Biologie und die Zukunft der Psychoanalyse« stellt Kandel folgendes Freud-Zitat voran: »Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten. Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird.« Ders., Biologie und die Zukunft, 119.
Diese Passage liest sich, als würde er mit der Biologisierung der Psychoanalyse direkt an Freud anschließen. Da dies in der deutschen Fassung überhaupt nicht ausgewiesen wird, lässt sich ohne Kenntnis des zitierten Texts nicht erkennen, dass der Mittelteil der Passage fehlt: »Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten. Diese gehören zwar auch nur einer Bildersprache an, aber einer uns seit längerer Zeit vertrauten und vielleicht auch einfacheren. Hingegen wollen wir uns recht klar machen, daß die Unsicherheit unserer Spekulation zu einem hohen Grade durch die Nötigung gesteigert wurde, Anleihen bei der biologischen Wissenschaft zu machen. Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird.« Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: GW XIII, 1920, 1-69, hier 65, Hervorhebung durch die Autorinnen.
Lässt man wie Kandel den hier kursiv gesetzten Mittelteil weg, dann ist die Sache eindeutig: Freud hoffte nicht nur, die Mängel seiner Beschreibung beheben zu können, wenn er anstelle der psychologischen schon die physiologischen oder chemischen Begriffe einsetzen könnte, er macht darüber hinaus die Gültigkeit seiner gesamten Theorie von den Antworten aus der Biologie abhängig. Nimmt man hingegen die fehlende Passage dazu, gestaltet sich das Ganze komplizierter, vor allem, wenn auch noch der Kontext berücksichtigt wird:
»In der Beurteilung unserer Spekulation über die Lebens- und Todestriebe würde es uns wenig stören, daß soviel befremdende und unanschauliche Vorgänge darin vorkommen, ein Trieb werde von einem anderen herausgedrängt, oder er wende sich vom Ich zum Objekt und dergleichen. Dies rührt daher, daß wir genötigt sind, mit den wissenschaftlichen Terminis, das heißt mit der eigenen Bildersprache der Psychologie (richtig: der Tiefenpsychologie) zu arbeiten. Sonst könnten wir die entsprechenden Vorgänge überhaupt nicht beschreiben, ja würden sie gar nicht wahrgenommen haben.« Ebd. Hervorhebung durch die Autorinnen.
Freud stellt also fest, die Bildersprache der Psychologie zu benötigen, um psychische Vorgänge zu beschreiben; er ist sich des wahrnehmungskonstitutiven Moments der Sprache bewusst. Die Nötigung zur Psychologie resultiert hier insofern aus einem Mangel der Neurologie, als dass diese nicht über die geeignete Sprache verfügt, um den Gegenstand der neuen Wissenschaft, der Psychologie, zum Sprechen zu bringen: Psychisches lässt sich, so argumentiert Freud, nur in den ihm angemessenen Begriffen wahrnehmen und beschreiben.
Wenn er damit fortfährt, dass die Mängel der Beschreibung – das Befremdende und Unanschauliche – verschwänden, könnten schon die entsprechenden naturwissenschaftlichen Termini eingesetzt werden, dann scheinen die psychologischen Termini in der Tat Hilfsbegriffe zu sein, mit denen sich solange begnügt werden muss, bis die naturwissenschaftlichen zur Verfügung stehen. Allerdings, und dies steht in der Passage, die Kandel weggelassen hat, fährt Freud fort, dass es sich bei den physiologischen oder chemischen Begriffen auch um eine Bildersprache handelt, deren Vorteil allein in ihrer größeren Vertrautheit und Einfachheit liege.
Davon, dass Physiologie oder Chemie wissenschaftlicher seien, ist bei Freud nicht die Rede. Er reflektiert hier – als Psychoanalytiker die psychoanalytische Methode nutzend, wissend, dass jeder Text auch eine Beziehungsebene hat – die affektive Wirkung der Begriffe auf Forscher_in wie Leser_in, also deren Beziehung zu den Begriffen. Wir alle, so Freud, würden uns mit den Begriffen aus Chemie und Physiologie wohler fühlen, da sie vertrauter sind. Wenn Freud hier davon spricht, dass die Bildersprache der Biologie vertrauter ist, dann weist der Zeitpfeil nicht nach vorne im Sinne der von Seiten der Neuropsychoanalyse aus unterstellten naiven Fortschrittsgläubigkeit Freuds, sondern rückwärts: Das Ersehnte ist das, was schon bekannt ist, was nicht fremd ist.
Wenn es nun allein um Vertrautheit im Sinne von Bekanntheit ginge, könnte Freud an dieser Stelle darauf setzen, dass mit der Zeit die psychoanalytischen Begriffe einfacher, weil gewohnter und vertrauter würden. Dies ist aber nicht der einzige Grund für das Unbehagen an den neuen Begriffen. Wenn Freud den Wunsch, die psychologischen Termini wieder zu ersetzen, anspricht, redet er über etwas Grundsätzliches: Die Feststellung, die Begriffe noch nicht einsetzen zu können, der Wunsch, es doch schon zu können, weist auf das eigentlich Befremdende und Unvertraute an den psychologischen Termini hin, auf ihren Inhalt, den sie zur Wahrnehmung bringen – auf das Unbewusste. Freuds Wissen um die Eigenheit seines Gegenstandes bei gleichzeitigem Verweis auf die Biologie als »Reich der unbegrenzten Möglichkeiten« steht für eine Sehnsucht ein, die auch den Begründer der Psychoanalyse umgetrieben haben mag, so sehr er die Psychoanalyse gegen derlei Bestrebungen zu schützen versuchte. Nämlich für die Sehnsucht, das Unbewusste eines Tages wenn schon nicht loszuwerden, so doch unter Kontrolle zu bekommen und sich doch wieder als Herr im eigenen Haus fühlen zu können. An der diskutierten Passage lässt sich zeigen, dass es sich bei der Biologisierung der Psychoanalyse um Abwehr des Unbewussten handelt. Freud wusste genau, dass es sich bei Neurologie wie Psychoanalyse um Bildersprachen handelt, von denen keiner von sich aus Objektivität zukommt. Beide geben jeweils von den erhobenen Daten – ob sie nun aus einem Experiment oder aus der (klinischen) Erfahrung stammen – ein Bild. Hier macht es allerdings einen entscheidenden Unterschied, ob es sich um ein »Eingedenken der Natur im Subjekt« (Adorno) handelt, also auch Gesellschaft in den Blick genommen wird, oder ob das Ganze unter der Hand oder ganz offen zur Naturbetrachtung gerät.
Judith Heckel und Christine Kirchhoff
Judith Heckel ist Psychologin und lebt in Bremen.
Christine Kirchhoff ist Psychologin und lebt in Berlin. Sie schrieb in der Phase 2.41 über das Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik.