Warum und unter welchen Fragestellungen wird Marx heutzutage noch gelesen? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, spiegelt sich in den Auseinandersetzungen um Marx doch nach wie vor eine Vielzahl gesellschaftlicher Konfliktlinien. Ebenso stellt sich die Frage nach dem jeweiligen Rezeptionsort. Dort wo man eine Rezeption landläufig erwartet, an den Universitäten, findet sie kaum statt. Zum einen gibt es die Lehrenden in den Sozial- bzw. Geisteswissenschaften, die in den jeweiligen Einführungsveranstaltungen zwar nicht darum herumkommen, Marx wahlweise als Vorläufer der Soziologie, Vertreter der ökonomischen Klassik oder großen Hegelschüler zu klassifizieren, doch ist das dort vermittelte Wissen ein totes Wissen, welches das Marxsche Werk in aller Regel von seiner scheinbaren praktischen Verwirklichung und deren Scheitern her liest und damit in den Frontlinien des Kalten Krieges bzw. in der Affirmation des Triumphs der kapitalistischen Vergesellschaftung verharrt. Zum anderen gibt es all die ehemals studentisch Bewegten, die sich nach diversen Erfahrungen im politischen Kampf oder dem was man dafür hielt, von einer Auseinandersetzung mit Marx nichts mehr versprechen. Neben der Akademie und –ironischerweise auch mitbedingt durch die dort herrschende weitgehende Ignoranz – gibt es dann aber jene, die sich durch Marx das kritische Verständnis dieser Gesellschaft versprechen. Und für diese war das Marxsche Werk im Selbstverständnis des Autors ja auch gedacht. Dabei wollte Marx als Ökonom auch wissenschaftlich ernst genommen werden, was die verschiedenen Versuche, seine ökonomischen Thesen in Fachblättern zu veröffentlichen, zeigen. So ist er großen Teilen der deutschen Linken weiterhin einer der Katalysatoren, durch dessen begriffliches System hindurch aktuelle gesellschaftliche Phänomene verstanden werden. Allerdings haben sich die explizit gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen um Marx rein akademischen Fragestellungen zunehmend angenähert. Damit stellt sich nicht allein die Frage, welche Marx-Interpretation die angemessene ist, sondern ebenso die, welche Funktion die Marxschen Bausteine bzw. ihre Interpretationen im heutigen gesellschaftskritischen Denken innehaben.
Mit Ingo Elbes unter dem Titel Marx im Westen erschienenem Buch über die Geschichte der Neuen Marx-Lektüre in der Bundesrepublik und Helmut Reichelts Spätwerk Neue Marx-Lektüre sind in den letzten Monaten zwei gewichtige Bände der Marx-Auslegung veröffentlicht worden, die hier zum Anlass genommen werden sollen, den angesprochenen Problemkomplex des Zusammenhanges von Gesellschaftskritik und (mehr oder weniger) akademischen Tätigkeit aufzuwerfen.
Marx im Westen
Ingo Elbes Gegenstand ist die Geschichte der Neuen Marx-Lektüre (NML). Dieser Begriff, der sich mittlerweile als Sammelbezeichnung einer »Phase marxistischer Theoriebildung« Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008, 13. durchgesetzt hat, Ob man davon sprechen kann, dass die NML eine hegemoniale Deutungsrichtung geworden ist, ist eine Frage der Perspektive. Zumindest hat sie in Deutschland unter denjenigen, die sich ernsthaft mit Marx beschäftigen (oder beschäftigt haben) eine weite Verbreitung. Allerdings gilt dies weder für linke Sekten noch für weite Teile des akademischen Mainstreams.steht für eine seit den siebziger Jahren verbreitete Interpretationsrichtung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, Unter diesem Titel kann man alle ökonomiekritischen Schriften zusammenfassen, die zwischen 1857 und 1871 entstanden sind. die sich um den »Begriff der Form und ihre angemessene Erkenntnis« Elbe, Marx im Westen, 9. dreht. Unter Form bzw. Formen werden dabei soziale Verhältnisse verstanden: die Art und Weise, wie der Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften produziert wird. Als Definition von Form schlägt Elbe vor: »Reichtumsformen im Kapitalismus sind demnach gegenständlich vermittelte (Wert), von Gegenständen repräsentierte (Geld und andere Wertformen) und als bloße Dingeigenschaften erscheinende (Fetischismus/Mystifikation) soziale Verhältnisse zwischen Produzenten unter privat-arbeitsteiligen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit.« (Ebd., 587.) Dabei steht die NML »quer zur Einteilung in Schulen«, das heißt, sie fasst »sowohl strukturalistische als auch an Hegel orientierte oder analytische Ansätze« unter sich. Damit sind Ansätze gemeint, die sich an Althussers Strukturalismus orientierten, bei denen die Hegelsche Methode und ihre Übernahme oder Transformation im Zentrum der Überlegungen steht, sowie Ansätze, die mit den Mitteln der analytischen Sprachphilosophie versuchen, Marx zu interpretieren. Elbe untersucht die NML in drei Gegenstandsbereichen: hinsichtlich der »Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie« und in ihren »staats- wie revolutionstheoretischen Implikationen«. Die letzten drei Zitate: Elbe, Marx im Westen, 31.
Elbes Ansatz, mit dem Begriff der Form einen einheitlichen Diskussionsrahmen, mit dem orthodoxen Marxismus einen klaren Gegner, sowie mit den drei wesentlichen Gegenstandsbereichen Methode und Grundbegriffe der Ökonomiekritik, Staatsableitung und Revolutionstheorie die Kernpunkte der NML auszumachen, ist als Orientierung in der unübersichtlichen Diskussionslage um das Marxsche Werk von großer Bedeutung. Das Buch ist im besten Sinne des Wortes eine Abkürzung durch den Stoff, behandelt sein Thema weitgehend erschöpfend, ist – leider muss das herausgehoben werden – um eine Klarheit der Darstellung der unterschiedlichen Positionen bemüht und löst dies weitgehend auch ein. Elbe beabsichtigt, die Wissenschaftlichkeit der Marxschen Ausführungen nachzuweisen und kritisiert einen von ihm konstatierten Hang zum Mystizismus bei einigen der zur NML zählenden AutorInnen bzw. Personenkreise. Elbe erwähnt hier unter anderem Robert Kurz und Helmut Reichelt. Zu seinen Bemühungen, einen offenen Diskurs zu ermöglichen, gehört die erwähnte Einbeziehung unterschiedlicher Zugangsweisen zum Marxschen Werk ebenso wie die Zurückweisung einer vorschnellen Trennung eines positivistischen Methodenverständnisses vom kritisch-dialektischen.
Elbe fasst unter dem »harten Paradigmakern« der NML unter anderem folgende – hier sehr abstrakt dargestellte – Punkte: Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist »Totalitätsanalyse im Sinne der Erklärung eines selbstbezüglichen Systems«. Die gesellschaftlichen Formen, die die Kategorien im Kapital begrifflich fassen sollen, sind Verhältnisse, die den handelnden Individuen prinzipiell vorgeordnet sind und diese fremdbestimmen. Das Kapital muss darüber hinaus als Analyse verstanden werden, die auf »verschiedenen Abstraktionsebenen« operiert, das heißt, die analysierten Kategorien sind unterkomplex, stehen nicht für sich und zeichnen sich im Verlauf der Darstellung durch einen zunehmenden Komplexitätsgrad aus. Erst das gesamte Werk fasst die Totalität der kapitalistischen Produktionsweise. Entscheidend für ein Verständnis der logisch-systematischen Kategorienabfolge bzw. der dialektischen Darstellung des krisenhaften ökonomischen Prozesses sind die so genannten »Grenzen der Dialektik«. Das heißt, das »selbstbezügliche System« welches Marx analysiert, besitzt externe historische Voraussetzungen, die im System selber nicht erklärt werden können. So ist etwa die Lohnarbeit Voraussetzung des Kapitalismus. Schließlich betreibt Marx keine »alternative Politökonomie«, er entwirft kein sozialistisches System, sondern kritisiert das bestehende. Alle Zitate des Absatzes: Elbe, Marx im Westen, 590 bis 594.
Bezüglich der in den siebziger Jahren geführten Staatsableitungsdebatte – die heute wohl kaum noch jemandem in Erinnerung ist – kommt Elbe zu dem Ergebnis, dass die »Notwendigkeit der Form Staat [...] allein aus Rechtssicherungserfordernissen« erklärbar ist. Diese Debatte hat den »strukturellen, anonymen Charakter von Herrschaftsorganisation im Kapitalismus« aufzeigen können, weitergehende formale Bestimmungen des kapitalistischen Staates sind jedoch nicht möglich gewesen. Elbe spricht hier von »Grenzen des Verfahrens« der Analyse der Form. Hinsichtlich der Marxschen Revolutionstheorie insistiert Elbe vehement darauf, die (durchaus vorhandene) Marxsche Geschichtsphilosophie von der Ökonomiekritik im Kapital zu trennen. Ergebnis der NML ist weiterhin, dass die Arbeiterklasse keinen über den Kapitalismus hinausweisenden Charakter besitzt. Schließlich wendet er sich gegen verfallsgeschichtliche Darstellungen des Kapitalismus, Vgl. etwa Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, Neuauflage, Berlin 1995. die seines Erachtens die revolutionäre Heilserwartung der Arbeiterklasse einfach nur im Negativen wiederholen. Alle Zitate des Absatzes: Elbe, Marx im Westen, 595 bis 597.
Helmuth Reichelts Marx-Lektüre
Helmut Reichelt behandelt über weite Strecken dieselben Themenbereiche wie Ingo Elbe. Während Elbe der Partei ergreifende, aber vermittelnde Historiker ist und dadurch immer auch eine gewisse Distanz zu den behandelten Thematiken einhält, schreibt Reichelt unmittelbar aus den ihn beschäftigenden Problemen heraus, was die Lektüre nicht leichter macht. In der Tradition von H.G. Backhaus entwickelt er eine Metakritik der Wirtschaftswissenschaften als begriffsvergessen bzw. kategorial unbewusst. Er ist darum bemüht, unkonventionelle Ansätze in bzw. an den Rändern der Wirtschaftswissenschaften zu diskutieren, Er diskutiert teils sehr ausführlich Georg Simmel, Alfred Amonn, Gunnar Heinsohn/Otto Steiger und andere. und zwar mit der Absicht, den Marxschen Ansatz, den er als strukturalistisch bzw. objektivistisch kritisiert, zu korrigieren. Reichelts Hauptthema ist damit das Verhältnis von Handlung und Struktur. Marx berücksichtige die Subjekte bei der Konstitution der ökonomischen Formen nicht. Als Alternative versucht Reichelt, ein Geltungskonzept zu entwickeln. Seine Frage ist: Welchen Anteil haben die Individuen an der Entwicklung der verselbständigten ökonomischen Formen? Die Formen sind nicht als Erstes zu verstehen, dies ist eine Verdinglichung, vielmehr müssen sie als geltende, das heißt: als von den Individuen konstituierte, verstanden und rekonstruiert werden. Vgl. Helmut Reichelt, Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik der sozialwissenschaftlichen Logik, Hamburg 2008, 13.
Anmerkungen zum Stand der Marxlektüre
Die Marxrezeption lässt sich als ein von zwei Aspekten beeinflusster Prozess betrachten. Marx’ Texte beinhalten in ihrer Komplexität und teilweisen Widersprüchlichkeit eine Vielzahl von Angeboten, von denen je nach gesellschaftlicher Problemlage diese oder jene wahrgenommen werden. Besonders prägnant zeigt sich dies etwa am Aufgreifen der Marxschen Ideologie- und Fetischkritik für eine Kritik des Antisemitismus, des Patriarchats oder des Rassismus in den letzten zwei Jahrzehnten. Vgl. Gerhard Scheit, Suicide Attack, Freiburg 2004; Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit, Freiburg 2007; Roswitha Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000; Moishe Postone, »Antisemitismus und Nationalsozialismus«, zuletzt in: Ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust, Freiburg 2005.
Die Neue Marx-Lektüre wird von Elbe ausführlich hinsichtlich ihrer geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem klassisch marxistischen Erbe (als dessen Urheber Engels ausgemacht wird) geschildert. Sie ist Kritik an den »tradierten historizistischen bzw. empiristischen Lesart der Marxschen Formanalyse kapitalistischer Vergesellschaftung«. Elbe, Marx im Westen, 32. Die gesellschaftliche Situation, die in der Bundesrepublik zur erneuten Auseinandersetzung mit Marx führte, wird dabei kursorisch unter dem Stichwort »Krise des Marxismus« Ebd., 31 und 444. erwähnt. Dabei lässt sich der Rückzug in die Philologie wie auch die Kritik an der Marxschen Geschichtsphilosophie bzw. den marxistischen Verzerrungen und Verstellungen auch als Ergebnis des Scheiterns des praktischen Marxismus als relevanter, Gesellschaft verändernder Kraft verstehen. Der besonders von Elbe betonte »hohe Abstraktionsgrad« der Auseinandersetzung mit Marx zeigt an, dass dieser nicht mehr unmittelbar politisch gelesen wird, sondern als Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte. So sind – das zeigen die Bücher von Elbe und Reichelt in aller Klarheit – die Auseinandersetzungen um Marx in ihrer Komplexität nur noch von SpezialistInnen beherrschbar, ohne dass es jedoch einen gesicherten institutionellen Ort gäbe, an dem sie geführt werden könnten. Die Verwissenschaftlichung der Debatte ist dabei notwendig zweischneidig. Sie ist sinnvoll, insoweit nun bestimmte Rationalitätsstandards berücksichtigt werden, welche beispielsweise zur erwähnten Kritik am orthodoxen Marxismus beigetragen haben. Zum anderen setzt die zunehmende Konzentration auf metatheoretische, methodologische und ontologische Mit »ontologisch« ist die Frage nach der Seinsweise der ökonomischen Formen gemeint. Elbe betont etwa den gegenständlichen Charakter dieser Formen, Reichelt hingegen konzipiert sie als geltende. Fragestellungen erhebliche Hürden vor die Aneignung des Marxschen Werkes. Darüber hinaus ist in der Konzentration auf Methode und Ontologie – dies zeigt sich etwa an Reichelts Buch – eine Sehnsucht nach letzten und endgültigen Antworten erkennbar.
Interessant ist aber, dass die zwar weitgehend unintendierte, im Zuge der Verwissenschaftlichung aber zwangsläufig einsetzende Domestizierung oder Neutralisierung des Marxschen Werkes letztlich nicht völlig gelingt. So stehen akademische Auseinandersetzungen mit Marx nach wie vor unter Ideologieverdacht (und zwar von »links« wie von »rechts«). Neben einem immer mit zu berücksichtigenden Platzhirschverhalten hat dies seinen Grund auch darin, dass es in Marx’ Schriften selbst einen produktiven Konflikt zwischen Veränderungswillen und Wahrheitsanspruch gibt. Auch wenn man – wie Elbe im Unterschied zu Reichelt betont – das ökonomietheoretische bzw. ökonomiekritische Werk streng von den geschichtsphilosophischen Aspekten des Marxschen Denkens trennen kann, so gewinnt es seine Attraktivität doch nicht zuletzt durch diese. Und selbst die Ökonomiekritik, soweit sie Kritik der realen ökonomischen Vorgänge ist, bedarf eines geschichtsphilosophischen Fundaments. Sie entfaltet sich als Kritik nur dann, wenn sie von der Möglichkeit einer anderen Form der ökonomischen Vergesellschaftung ausgeht.
Was bleibt von der Marxlektüre der letzten vierzig Jahre? Die Kritik des Traditionsmarxismus führt zu einer Abwendung von der Geschichtsphilosophie, insbesondere der Idee einer Zusammenbruchskrise des Kapitalismus. Nur vereinzelt wird an einer solchen noch festgehalten. Hauptursache dafür ist aber weniger eine theorieinterne Weiterentwicklung als das Ausbleiben einer solchen Krise. Die Abkehr vom Arbeitermarxismus hat einen vielschichtigen Charakter. Völlig zu Recht wird eine systemüberwindende Rolle der Arbeiterklasse zurückgewiesen. Mit der zunehmenden Konzentration auf die Form der Vergesellschaftung verschwindet aber das Interesse an den konkreten inhaltlichen Auswirkungen des Kapitalismus, besonders am Klassenkonflikt (zumindest im Rahmen der NML). Dies hat auch den banalen Grund, dass der Klassenkonflikt relativ wenig mit der Lebenswirklichkeit der meisten Diskutierenden zu tun hat und es seit den siebziger Jahren kaum noch funktioniert, sich zur Interessenvertretung der Arbeiterklasse aufzuschwingen, da es eine solche im Selbstbewusstsein der Beteiligten nicht mehr gibt.
Damit im Zusammenhang stehend und meines Erachtens umstrittener, als sowohl Reichelt als auch Elbe sie darstellen, ist die Funktion der abstrakt-menschlichen Arbeit als Wertsubstanz. Es ist ungeklärt, welche erklärende Rolle die abstrakt-menschliche Arbeit als allein Wert schöpfende Tätigkeit in der Rekonstruktion des Marxschen Systems noch einnehmen soll. Ihre Funktion im Rahmen einer Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus, wird von der überwiegenden Mehrheit der Autoren der NML zurückgewiesen. Aus der zunehmenden Automatisierung der Produktion und der daraus folgenden Freisetzung von Arbeitskräften, lässt sich keine letzte Krise der kapitalistischen Produktionsweise ableiten. Auch die Bedeutung der abstrakt-menschlichen Arbeit für die Mehrwerttheorie scheint ihre Legitimität zu großen Teilen daraus bezogen zu haben, Kampfmittel der Arbeiterklasse zu sein. Dabei kann man weder im strengen Sinne beweisen, dass der Mehrwert allein aus der produktiven Tätigkeit der LohnarbeiterInnen erwächst, noch lässt es sich widerlegen. Zumindest müssten zur Legitimation dieser Kategorie realwirtschaftliche Analysen unternommen werden, die zeigen, welche Bedeutung die abstrakt-menschliche Arbeit im heutigen Produktionsprozess hat. Vgl. etwa Stephan Krüger, Konjunkturzyklus und Überakkumulation, Hamburg 2007.
Unklarheiten gibt es weiterhin hinsichtlich der Frage nach dem Charakter des Gegenstandes der Marxschen Erkenntnis. Dies zeigt sich auch an Elbes Text. Obwohl er vehement eine rationale Dialektik einfordert und jeglichen Mystizismus in der NML zurückweist, zeigt sich doch eine charakteristische Unsicherheit über den Status der Marxschen Grundbegriffe. Elbe referiert, dass der Wert nur »mittels ›absoluter Metaphern‹ beschreibbar« Elbe, Marx im Westen, 257. ist. Dies hat, soweit ich sehe, Konsequenzen für die Reichweite des Wissens der Kritik der politischen Ökonomie. Was wissen wir denn, wenn wir die Ökonomiekritik verstehen? Hier ist die heute vorherrschende Konzentration auf die formentheoretischen Fragestellungen bezeichnend. Diese verraten uns zum einen, dass der Erkenntnisgegenstand der Ökonomie ein historischer ist. Es handelt sich bei der kapitalistischen Produktionsweise um eine spezifische Form der Reichtumsproduktion. Streit herrscht allerdings darüber, inwieweit die Marxschen Kategorien zu historisieren sind. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf die begriffliche Bestimmung des Kommunismus. Während eine weitgehende Übernahme der Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie im traditionellen Marxismus vorherrschend war, von der NML zurückgewiesen wird, reichen die Positionen nun von einer radikalen Historisierung aller ökonomischen Kategorien Eine strukturell ähnliche Diskussion findet sich etwa im Feminismus. bis hin zur Zulassung des Geldes als Vermittlungsinstrument auch im Kommunismus. Als zweites unumstrittenes Ergebnis der Marxschen Ökonomiekritik gilt das Aufzeigen des Zwangscharakters der kapitalistischen Ökonomie, in dem Sinne, dass sie Charaktermasken oder gesellschaftliche Bestimmungen schafft, in denen sich die Individuen zu bewegen haben bzw. die die Individuen selbst sind. Insofern zeigt Marx, dass die Freiheit des Liberalismus nur eine begrenzte Freiheit ist. Zum Dritten kann man mit Marx immer auf den grundsätzlich krisenhaften Charakter der kapitalistischen Produktionsform verweisen.
Darüber hinaus ist der erklärende Gehalt der Marxschen Ökonomiekritik – folgt man der gegenwärtigen Rezeption der Marxschen Theorie – jedoch kaum präsent. Eine eigentliche Marxistische Ökonomietheorie als direkte Konkurrentin der Wirtschaftswissenschaften existiert kaum. Insofern sind die Kritiken an der Wirtschaftswissenschaft im Rahmen der NML – Reichelt demonstriert das noch einmal – Metakritiken, die an den Grundbegriffen der Ökonomen ansetzen, weniger an ihren inhaltlichen Bestimmungen. Das fehlende positive Wissen, welches der Rezeptionsstand anzeigt, muss nun nicht unbedingt als Mangel des Marxschen Werkes verstanden werden, sondern hat seinen Grund im konkret nicht prognostizierbaren Verlauf der kapitalistischen Ökonomie selbst. Dieser Sachverhalt liegt meines Erachtens den von Elbe als mythologisch kritisierten Redeweisen von einer »nichtverstehbaren Ökonomie« zugrunde.
Eine Verwissenschaftlichung der Debatte, wie sie seit vierzig Jahren zu beobachten ist, ist damit einerseits das Ergebnis der Lebenswirklichkeit der Diskutierenden selbst, andererseits reagiert sie aber auch auf den abstrakten Charakter der Marxschen Formentheorie der kapitalistischen Produktionsweise, die wiederum ihren Grund in dem nur begrenzt positiv zu bestimmenden Erkenntnisgegenstand hat. Oder, um es mit dem zumindest einmal vom Skeptizismus geschlagenen Marx zu formulieren: »Das wahre Gesetz der Nationalökonomie ist der Zufall, aus dessen Bewegung wir, die Wissenschaftlichen, einige Momente willkürlich in der Form von Gesetzen fixieren.« Karl Marx, Auszüge aus James Mills Buch Élemens d’économie politique. Trad. par J.T. Parisot, Paris 1823, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband 1, Berlin 1968, 443-464, hier: 445.
~ Von Martin Eichler. Der Autor arbeitet in Leipzig und ist dort Mitglied der Gruppe in Gründung (GiG).