Mehr als 20 Jahre liegen zwischen den Äußerungen von Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) und Michail Bakunin (1814–1876). Sie wurden erst posthum veröffentlicht. Deswegen ist es umso erstaunlicher, wie ähnlich sie ausfielen. Proudhon entwarf 1847 in seinem Tagebuch einen Artikel über »Juden«, »diese Rasse […], die alles vergiftet, die alles in sich hereinfrißt, ohne sich jemals mit einem anderen Volk zu vermischen«. Man müsse ihre »Austreibung aus Frankreich« verlangen, »ihre Synagogen abreißen, ihnen keine Anstellung gewähren, endlich auch ihren Kult aufheben. Es ist kein Zufall, daß die Christen sie Gottesmörder genannt haben. Der Jude ist der Feind der Menschengattung. Man muss diese Rasse nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten.«Pierre-Joseph Proudhon, Carnets, 26. Dezember 1847, zit. nach Micha Brumlik, Antisemitismus im Frühsozialismus und Anarchismus, in: Ders./Doron Kiesel/Linda Reisch (Hrsg.), Der Antisemitismus und die Linke, Frankfurt am Main 1991, 7–16, hier 12f.
Bakunin wiederum notierte 1871, dass die »ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hin, sondern auch über alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg, – diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung«.Michael Bakunin, Persönliche Beziehung zu Marx (Ende 1871) – Auszug, in: Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, Band 1: Von Proudhon bis zur Staatsgründung, Lich 2013, 80–84, hier: 83.
Die Vorstellungen, die sich in diesen privaten Aufzeichnungen fanden, waren im 19. Jahrhundert weitverbreitet. Das Judentum galt den Antisemiten dieser Zeit nicht nur als die Religion, deren Mitglieder Jesus Christus und damit Gott ermordet hätten, sondern ihr Judenhass richtete sich gegen Jüdinnen und Juden auch als Personifikation einer vermeintlich alles zersetzenden Moderne. Deswegen galt »der Jude« nicht nur als Repräsentant eine feindliche Gruppe unter vielen, sondern, wie Proudhon es ausdrückte, als »der Feind der Menschengattung«. In Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère (System der ökonomischen Widersprüche) vertrat Proudhon, der »Vater des Anarchismus«, 1846 die Ansicht, »die Juden« seien »nur dem Mammon treu« und wollten »über alle herrschen«.Werner Portmann: Proudhon und das Judentum, ein kompli-ziertes Verhältnis, in: Mümken/Wolf (Hrsg.): »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, Band 1, 39–79, hier: 62. Dass Bakunin eine Einheit zwischen Marx und der französischen jüdischen Bankiersfamilie Rothschild imaginierte, war ebenso wenig eine private Phantasie. Im 19. Jahrhundert waren Antisemiten der Meinung, »die Juden« seien für die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich, in der nur noch das Geld regiere und alle anderen Werte oder Wertvorstellungen verdränge. In diesem Sinne erschienen Kapitalismus und Kommunismus als zwei Seiten einer Medaille.Vgl. Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus [1979], in: Ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg im Brsg. 2005, 165–194, hier: 179. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ganz zufällig, dass auch Willhelm Marr, der den Ausdruck »Antisemitismus« zwar nicht erfunden hat, wie häufiger zu lesen ist, doch der entscheidend dafür verantwortlich war, dass dieser Ausdruck zunächst im Deutschen Reich und dann in ganz Europa populär wurde, in jungen Jahren zur libertären Bewegung gehörte.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der anarchistischen Tradition und dem Antisemitismus sowie allgemeiner das Verhältnis zum Zionismus und dem Staat Israel, sind bisher kaum ausführlich behandelt worden. Erst jüngst wurde mit der zweibändigen Textsammlung Antisemit, das geht nicht unter Menschen. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, herausgegeben von Jürgen Mümken und Siegbert Wolf, eine überfällige Diskussion innerhalb der anarchistischen Linken angestoßen. Dabei wird deutlich, dass der Anarchismus zwar einerseits durchaus – wie die gesamte linke Tradition – antisemitische Denkmuster zeigt, anderseits aber nicht wenige VertreterInnen aufweist, die früh den Antisemitismus kritisiert und sich dem Zionismus gegenüber offen gezeigt haben, was sie nicht unerheblich von den Positionen ihrer aktuellen Nachfahren abhebt.
Jüdisches Selbstverständnis und Kritik des Antisemitismus
Einer der »frühesten Historiker des Judenhasses« kam aus der französischen libertären Bewegung. Er ist heute weitgehend vergessen. Bernard Lazare (1865–1903) veröffentlichte 1894 seine 400 Seiten starke Untersuchung L‘antisémitisme, son histoire et ses causes, dem weitere Werke folgen sollten. Als Anarchist beschäftigte sich Lazare nicht nur wissenschaftlich mit der Judenfeindschaft, sondern engagierte sich auch politisch. Er war einer der ersten, die sich in der Dreyfusaffäre für Alfred Dreyfus aussprachen. Der Hauptmann Dreyfus, der wie Lazare aus einer jüdischen Familie stammte, wurde 1894 zu Unrecht des Landesverrats bezichtigt, verurteilt und verbannt. In L‘antisémitisme, son histoire et ses causes, das im gleichen Jahr erschien, hatte Lazare beschrieben, warum der Vorwurf des Landesverrats bei der jüdischen Minderheit scheinbar plausibel war. Jüdinnen und Juden galten »als die aktivsten Verbreiter der Ideen des Internationalismus«; schon durch »ihre Anwesenheit«, so behaupteten die Antisemiten, würde die jüdische Minderheit »die Idee des Vaterlands, das heißt jede besondere Idee des Vaterlands zerstören«.Bernard Lazare, L‘antisémitisme, son histoire et ses causes, 1894, zit. nach: Sebastian Voigt, Intellektuelle politische Interventionen. Bernard Lazares Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, Berlin/München/Boston 2015, 149–171, hier: 158. Damit nahm er, wie Sebastian Voigt in einer aktuellen Studie ausführt, vor mehr als 100 Jahren zentrale Erkenntnisse der heutigen Antisemitismustheorie vorweg.Voigt, Intellektuelle politische Interventionen, 158.
Anders als viele prominente Kommunistinnen und Kommunisten wie Rosa Luxemburg, Karl Marx oder Leo Trotzki, die Isaac Deutscher in seinem berühmten Aufsatz als »non-Jewish Jews«Isaac Deutscher, Der nichtjüdische Jude, in: Ders, Die ungelöste Judenfrage, Berlin 1977, 7–20. bezeichnete, fanden sich unter den anarchistischen Linken mehrere selbstbewusste Jüdinnen und Juden. Die US-amerikanische Anarchistin Emma Goldman (1869–1940) schrieb in ihrer Autobiografie: »Mein Leben war mit dem der Juden verknüpft. Ihr geistiges Erbe war das meine, und ihre Werte waren in meine Existenz eingegangen.«Emma Goldman, Gelebtes Leben. Autobiografie, Hamburg 2010, 634. Über einen Anarchisten, der sich »wie ein Chamäleon« bemühte, seine Herkunft zu verleugnen, schrieb Goldman: »Vieles an ihm gefiel mir nicht. […] Schon bei unserer ersten Begegnung erzählte er mir, dass sein Fechtmeister seine germanischen Beine bewundert hätte. ›Ich halte das nicht für ein großes Kompliment‹, entgegnete ich. ›Wenn er deine jiddische Nase bewundert hätte, hättest du Grund, stolz zu sein.‹«Ebd., 165. Zur gleichen Zeit, Ende der 1880er Jahre, registrierte sie antisemitische Äußerungen bei dem von ihr bewunderten Anarchisten Johan Most, der aus Deutschland stammte.Olaf Kistenmacher, »Mein Leben war mit dem der Juden verknüpft«. Emma Goldmans Autobiografie, in: Jungle World vom 17. März 2011. 1919 wurden Goldman und ihr Lebensgefährte Alexander Berkman aus den USA ausgewiesen und nach Russland gebracht. Zunächst begeistert von der Revolution, waren sie sehr schnell von der Situation in Sowjetrussland enttäuscht und verließen das Land. In den Reiseberichten, die Berkman und Goldman Mitte der 1920er Jahre veröffentlichten, finden sich auch die Protokolle von Gesprächen mit russischen Jüdinnen und Juden. Einige von ihnen fürchteten einen neuen Antisemitismus. Zur Erklärung, warum das »sowjetische Regime selbst ein fruchtbarer Boden für die giftige Saat des Judenhasses« sei, gab Goldman die Einschätzung jüngerer Jüdinnen und Juden aus Kiew wieder, dass ein großer Teil der nichtjüdischen Bevölkerung »in den Juden Kommunisten und verantwortliche Kommissare für Strafexpeditionen, Nahrungsmittelrequirierungen, Militarisierung und Einschüchterung« sehe.Goldman, Gelebtes Leben, 761. Alexander Berkman machte hingegen die bolschewistische Regierung mit verantwortlich: »Der Hass auf die Bourgeoisie wurde auf die Intellektuellen umgelenkt, die offizielle Propaganda fördert und verstärkt diesen Geist. Sie werden als Feinde des Proletariats, Verräter der Revolution dargestellt – bestenfalls als Spekulanten, wenn nicht als aktive Konterrevolutionäre.« Es handle sich um mehr als einen »Ausbruch volkstümlicher Ressentiments. Das Feuer wird in Moskau gelegt.«Alexander Berkman, Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution 1920-1922, Frankfurt a.M. 2004, 63.
Auch Erich Mühsam (1878–1934) sprach sich, wie Lazare, Goldman oder Gustav Landauer, als Jude gegen Judenfeindschaft aus. Darüber, dass er seine jüdische Herkunft durchaus emphatisch bejahte, ließ er auch in seinen Tagebüchern keinen Zweifel aufkommen. Dennoch möchte man lieber glauben, dass er seine Ausführungen über »Rassenmischung« in einem Eintrag aus dem Jahr 1911 ironisch meinte. Auf einer Feier verständigten sich Mühsam und seine Gesprächspartnerin darauf, dass »die Mitglieder aus Mischehen sämtlich gegen die andern minderwertig« aussehen würden. Mühsam fügte in Parenthese an: »Gestern erfuhr ich, daß Ella Jüdin ist: die erste, die ich je geliebt habe. Wer weiß, ob wir nicht einmal legitime Nachkommen haben werden?«Erich Mühsam, Tagebücher. Band 2: 1911–1912, hg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2012, 44. Doch nicht nur jüdische Anarchistinnen und Anarchisten positionierten sich eindeutig. Rudolf Rocker (1873–1958) sprach sich mehrmals öffentlich gegen Judenfeindschaft aus – auch innerhalb der eigenen Bewegung.Rudolf Rocker, Antisemitismus und Judenpogrome [1923], in: Mümken/Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, 132–138; Ders., Der Nimbus des Blödsinns, in: Der Syndikalist 35 (1925). Rocker hatte extra Jiddisch gelernt, um in der jüdischen Arbeiterbewegung in London aktiv zu sein und ab 1898 die jiddischsprachige Zeitschrift Arbaiterfraint redaktionell zu betreuen.Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt a. M. 1974, 206. 1903 waren Rocker und Milly Witkop bei einer Versammlung in London dabei, um gegen das Pogrom von Kiew demonstrierten. Dabei wurde eine Grußadresse des berühmten russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin verlesen.Ein Brief Peter Kropotkins, in: Mümken/Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, Band 1, 108–111.
Sozialismus im Kleinen – Anarchismus und Zionismus
Ähnlich wie der französische Anarchist Bernard Lazare wandte sich Moses Hess, der im Deutschen Reich sowohl in sozialistischer wie auch anarchistischer Tradition stand, dem Judentum zu. In seinem großen Werk Rom und Jerusalem betonte Hess 1862 das Recht der Jüdinnen und Juden, im »Völkerfrühling« als Volk gleichberechtigt neben anderen Völkern und »Rassen« zu bestehen. Dem Judentum kam dabei nach Hess als Volk und als Religion der spezifisch geschichtliche Auftrag zu: »Lehrer der Völker zu werden«.Moses Hess, Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage, Wien/Jerusalem 1935, 154. Was chauvinistisch klingen mag, würde nach Hess’ Messianismus in einer weltweiten Harmonie enden, einem Ende jeglicher »Rassenherrschaft« und der »Gleichberechtigung aller welthistorischen Völker«.Ebd., 200. Vor diesem Hintergrund sind auch die folgenden Ausführungen zu lesen: »Die ganze bisherige Geschichte bewegt sich in Rassen- und Klassenkämpfen. Der Rassenkampf ist das Ursprüngliche, der Klassenkampf das Sekundäre. […] Mit dem Rassenantagonismus hört auch der Klassenkampf auf; die Gleichberechtigung aller gesellschaftlichen Klassen folgt jener aller Rassen auf dem Fuße, und ist schließlich nur noch eine wissenschaftliche Frage der Sozialökonomie.«Ebd., 199. Hess’ Vision war demnach weiterhin ein Ende der Klassenunterschiede, doch sollte es nicht durch eine soziale Revolution erreicht werden, sondern dadurch, dass »der Rassenantagonismus zu Ende« ginge. Ganz dem sozialistischen Anspruch verbunden, glaubte Hess im osteuropäischen Judentum »ein neues revolutionäres Subjekt neben dem Proletariat zu entdecken«.Volker Weiß, Moses Hess (1812-1875). Leben, Werk und Erbe eines rheinischen Revolutionärs, Bonn 2013, 26. Eine Position, die sich auch bei Kropotkin wiederfinden sollte.Mina Graur, Anarchismus und Zionismus. Die Debatte über den jüdischen Nationalismus, in: Mümken/Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, Band 1, 159–176, hier: 162. Hess’ Hinwendung zur jüdischen nationalen Befreiung war, wie später bei Theodor Herzl, eine Reaktion auf den zunehmenden Judenhass, den Hess nicht nur bei den politischen Feinden, sondern auch »bei meinen eigenen Gesinnungsgenossen erfahren« hat.Hess, Rom und Jerusalem, 56.
Der deutsche Anarchist Gustav Landauer (1870–1919) wurde zwar kein Zionist. Doch 1913 schrieb er in einem Brief: »›Zionist‹ kann man sein, damit ist nichts gegen die Natur des andern, nur etwas gegen die eigene gesagt; Antisemit, das geht nicht unter Menschen.«Gustav Landauer an Heinrich Dehmel, 16. Oktober 1913, zit. nach: Mümken/Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, Band 1, 7. Es ist bemerkenswert, dass mit Anni und Georg Hepp, Rocker und Witkop auch mehrere namhafte deutschsprachige Anarchistinnen und Anarchisten Sympathien für den Zionismus entwickelten – trotz ihrer tiefen Ablehnung des Nationalismus. Sie zählten ihn ebenso wie der Parteikommunismus nicht zu den auf Staatsbildung zielenden antiimperialistischen nationalen Befreiungsbewegungen. Allerdings ist das bei ihnen – ganz im Gegensatz zum Marxismus-Leninismus – positiv gemeint.
Ähnliche Stimmen gab es auch bezüglich der jüdischen Präsenz in Palästina. Emma Goldman kritisierte 1938 in einem Leserinbrief die einseitige Parteinahme der sozialistischen und kommunistischen Linken für die arabische Bevölkerung in Palästina. Goldman führte aus, dass nach ihrer Meinung das Land denen gehören sollte, die es bestellen und beackern. Niemand könne leugnen, dass die jüdischen Siedlerinnen und Siedler in Palästina auf dem Land arbeiten. »Tens of thousands of them, young and deeply devout idealists, have flocked to Palestine, there to till the soil under the most trying pioneer conditions. They have reclaimed wastelands and have turned them into fertile fields and blooming gardens. Now I do not say that therefore Jews are entitled to more rights than the Arabs, but for an ardent socialist to say that the Jews have no business in Palestine seems to me rather a strange kind of socialism.«Emma Goldman, On Zionism, 26. August 1938, http://0cn.de/1z1h.
Gerade in den 1920er Jahren konnte man glauben, dass sich in Palästina etwas anderes als ein gewöhnlicher Nationalstaat entwickelte. Die Balfour-Deklaration von 1917 hatte den Jüdinnen und Juden genaugenommen keinen Staat, sondern eine Heimstätte, ein Zuhause – a »home« – versprochen. Anarchistische Kibbuzim sahen darin eine Chance, eine vollkommen neue Art der Gesellschaft zu etablieren.Vgl. James Horrox, Living Revolution. Anarchism in the Kibbutz Movement, Edinburgh/Oakland/Baltimore 2009, 57. So gab es bei den Kibbuzim nicht nur kein Privateigentum, auch wurde die Kindererziehung jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie gemeinschaftlich organisiert. Vor allem aber sollten alle Entscheidungen kollektiv getroffen werden. Der jüdische Anarchist Meir Yaari beschrieb den Aufbau des Jischuw 1920 daher in strikter Abgrenzung zum bolschewistischen Staat: »We are at present undergoing two great efforts at human renaissance: one in Russia, where they wish to change human existence through the state, the machine, status, terror and organisation, and the other, here, in this country where the effort is qualitative, small, and difficult. […] There in Russia, everything is determined through norms. Here we are guided by real life and freedom. There a state, here a community.«Meir Yaari, 1920, zitiert nach: James Horrox: Living Revolution, S. 39. Ab Mitte der 1920er Jahre prägten allerdings eher sozialistische als anarchistische Vorstellungen das Kibbuzleben.
Eine anarchistische Nahost-Debatte?
In Deutschland ist die Selbstbezeichnung »Anarchistin«, »Anarchist« oder »libertär« nach 1945 ausgesprochen unpopulär geworden. Nur eine Minderheit nennt sich selbst so. Dabei lassen sich mit gutem Grund viele radikal- oder basisdemokratische Vorstellungen unter diese Begriffe subsumieren. Und entspricht nicht der deutsche Begriff »Autonome« dem, was man in den USA heute »anarchists« nennt? So gefasst, zeigten sich in Hamburg seit den 1980er Jahren viele Überschneidungen zwischen der antiimperialistischen und der anarchistischen Linken. Mit ihren historischen Vorbildern verband die anarchistische Linke in punkto Israel allerdings wenig. An der Hamburger Hafenstraße prangte lange Zeit der Slogan »Boykottiert ›Israel‹! Waren, Kibbuzim und Strände. Palästina – das Volk wird dich befreien«, was zeigt, dass autonome Linke wie die Antiimps für den vermeintlichen »Befreiungskampf« der authentischen »unterdrückten Völker« schwärmten, während sie den jüdischen Staat als »unechtes« oder »künstliches Gebilde« verteufelten.Volker Weiß, »Volksklassenkampf« – Die antizionistische Rezeption des Nahostkonflikts in der militanten Linken der BRD, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII (2005), 214–238. Mümken und Wolf schreiben, in den anarchistischen Zeitungen Schwarzer Faden und Graswurzelrevolution habe es bereits in den 1980er Jahren Kritik am Antizionismus und Antisemitismus gegeben, der sich an dem berüchtigten Hafenstraßen-Grafitto manifestierte. Mümken/Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, Band 2, 50–51.
Folgt man den im zweiten Band von »Antisemit, das geht nicht unter Menschen« veröffentlichten Texten über den Zionismus und Israel, unterscheidet sich die aktuellere Debatte innerhalb der anarchistischen Linken kaum von der in der sonstigen radikalen Linken. Vielleicht beziehen sich heutige Anarchistinnen und Anarchisten häufiger auf die von Martin Buber vertretene Position, dass die arabische Bevölkerung »zur freien Entfaltung ihrer Kräfte keinen arabischen Staat« und die jüdische keinen jüdischen brauche. Die entsprechenden Rechte könnten »in einem binationalen Gemeinwesen gewährleistet werden, in dem jedes Volk seine spezifischen Angelegenheiten verwaltet und beide miteinander ihre gemeinsamen«.Martin Buber, Zwei Völker in Palästina [1947], nach: Antisemitismus-AG, Frankfurt am Main: Zionismus gleich Rassismus?, in: Mümken/Wolf (Hrsg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«, Band 2, 244–251, hier: 251. In den vergangenen Jahren wurde Bubers Vorschlag eines binationalen Staates aber auch von Judith Butler und Micha Brumlik in die Diskussion gebracht. Realistischer ist Josef Luden, der schon 1989 darauf hinwies, dass »viele ›Radikale‹ innerhalb der PLO […] nicht nur den Gaza-Streifen und die West-Bank, sondern auch das gesamte Gebiet Israels unter ihre Führung bringen«Gespräch mit dem israelischen Anarchisten Josef Luden, ebd., 130–131. wollen. Die Antisemitismus-AG aus Frankfurt am Main erklärte im gleichen Jahr, dass das »im Zionismus vereinzelte biologistische Konstrukt einer ›jüdischen Rasse‹« vor allem als eine »selbstaufwertende Gegenoffensive« gegen den rassistischen Antisemitismus zu verstehen ist.Antisemitismus-AG, Zionismus gleich Rassismus?, ebd., 249. 2013 kritisierte wiederum die Anarchistische Gruppe Freiburg, dass »ein von Anarchist*innen häufig vertretener abstrakter Antinationalismus [...] nicht mehr zeitgemäß« sei. Zwar stelle »jede Form des Nationalismus einen Angriff auf das schöne Leben« dar. Doch: »Es gibt einen Unterschied zwischen dem deutschen, völkischen Nationalismus, der in der Shoa seinen traurigen Höhepunkt fand, und dem israelischen Nationalismus – dem Zionismus –, der sich als Reaktion auf den modernen Antisemitismus entwickelte.«Anarchistische Gruppe Freiburg, Gedanken zum deutschen Nationalismus, ebd., 55. Dem gegenüber steht ein Flugblatt der Anarchists Against the Wall. Bereits der Name kündet von einem verkürzten Verständnis von Herrschaft und Unterdrückung – als bestünden diese vor allem in der Sperranlage zwischen Israel und dem Westjordanland, die die Anarchists Against the Wall »Apartheidmauer« nennenAnarchists Against the Wall, Erste Mitteilung, 25. Dezember 2003, ebd., 263–264, hier: 263., und als wären die Palästinenserinnen und Palästinenser befreit, wenn diese Mauer verschwunden wäre. Ähnlich eintönig verlief ein Vortrag des in Israel lebenden Anarchisten Uri Gordon 2010 in Hamburg.Uri Gordon, Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie, Hamburg 2010. Gordon zeigte die ewiggleichen Bilder von Aktivistinnen und Aktivisten am Sperrzaun, Polizei oder Militär.
Dabei könnte gerade der herrschaftskritische Ansatz, für den der Anarchismus ursprünglich steht, das faschistische Regime der Hamas in den Blick nehmen. Doch über Israel und Palästina wurde in Deutschland schon viel zu viel geredet. Das Problem liegt hierzulande woanders. Was ansteht, ist eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Gründen der Judenfeindschaft. Wie die historischen Beispiele Proudhon und Bakunin zeigen, gibt es für anarchistische Linke viel aufzuarbeiten. Es gibt aber auch etwas zu entdecken: Libertäre wie Lazare, die bereits im 19. Jahrhundert den Antisemitismus umfassend erforscht haben, oder Menschen wie Emma Goldman, Erich Mühsam oder Rudolf Rocker, die Judenfeindschaft außerhalb und innerhalb der eigenen Reihen angesprochen und skandalisiert haben.
Olaf Kistenmacher
Der Autor lebt in Hamburg. In dem von Hans-Joachim Hahn und ihm herausgegebenen Sammelband Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944 stellt er die frühe Kritik dar, die Alexandra und Franz Pfemfert, Alexander Berkman, Emma Goldman und Leo Trotzki am Antisemitismus in den eigenen Reihen formulierten.