Wir kaufen einen Kontinent

Die zurückliegenden 13 Jahre seit dem Zusammenbruch des Sozialismus waren für die deutsche Außenwirtschaft eine einzige Erfolgsstory. Osteuropa ist zum wichtigsten deutschen Markt avanciert, mehrere Staaten dieser Region sind mittlerweile fast vollständig von der deutschen Wirtschaft abhängig. Die Eroberung Osteuropas durch Deutschland ist heutzutage kein militärisches Planspiel mehr, sondern ökonomische Realität.

Der Deutsch-Europäische Tanz gilt als klare Angelegenheit. Im Inneren tobe die Auseinandersetzung mit Großbritannien und Frankreich, mal in militärischen und transatlantischen Angelegenheiten, mal in Fragen der europäischen Hegemonie. Nach außen mache Deutsch-Europa Front gegen Amerika und suche die arabische Freundschaft zum selben Zwecke.

Jenseits der Einschätzung, ob sich eher das Konzept einer „untergeordneten Weltmacht“ oder das einer offensiveren deutsch-europäischen Entgegensetzung zu Amerika durchsetzt (siehe Phase 2.05 „Die Klagen der Mindermacht“), ist Deutschland eines bereits jetzt: Wirtschaftsweltmacht. Dies ist insofern wesentlich, als dass deutsche Hegemoniebestrebungen keine alleinige Angelegenheit des Politischen oder des Militärischen darstellen, sondern ganz wesentlich entlang deutscher Außenwirtschaftspolitik zu betrachten sind. Für die radikale Linke verlangt eine solche Erkenntnis keine unwesentlichen Konsequenzen. Während antideutsche Positionen – aus durchaus richtigen Gründen – ihre Schlachtfelder im Nahen Osten bzw. vormals in Jugoslawien verorteten, bleibt ein Feld der derzeit aggressivsten deutschen Außenpolitik in der radikalen Linken weitestgehend unbeachtet: Die Eroberung Osteuropas durch die deutsche Wirtschaft.

 

Deutschland in Osteuropa

Während die weltweite Rezession den Weltmärkten ganz allgemein zu schaffen macht, scheint Osteuropa hiervon ausgenommen zu sein. Zwar stimmt dies so nicht ganz, aber immerhin ist in den Staaten Osteuropas ein anhaltendes Wirtschaftswachstum zu beobachten. Im neulich vorgestellten Herbstgutachten der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute wird Osteuropa eine positive Aussicht auf weiteres Wachstum bescheinigt. Das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt soll, so die Prognose, um ca. 3% wachsen, dem entgegen Deutschland z.B. ein Rückgang vorhergesagt wird.

Diese Tatsache ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Staaten Osteuropas noch immer den Umbau ihrer Staatswirtschaften auf den kapitalistischen Markt vornehmen. Die wesentlichen Säulen dieser Entwicklung sind die Privatisierung staatseigener Unternehmen sowie die fortschreitende Liberalisierung der Wirtschaft und die damit verbundenen sich ständig verbessernden Investitionsbedingungen.

Im osteuropäischen Spiel der Umgestaltung der Landeswirtschaften hat sich im Laufe der Jahre Deutschland als entscheidender Profiteur herausgebildet. Die traditionell eher guten Beziehungen nach Osteuropa erfuhren seit 1989 beständigen Auftrieb. Der stetig wachsende Markt Osteuropas steht im engen Kontakt zu Europa und ganz besonders zu Deutschland. Die deutsche Wirtschaft hat es geschafft, sich in nahezu allen Ländern Osteuropas auf Spitzenplätzen der Außenhandelsbilanz zu postieren. In führenden Wirtschaftskreisen sowie im Auswärtigen Amt gilt Osteuropa heute als der wichtigste Markt für die deutsche Wirtschaft. Dies entspricht durchaus den Tatsachen. Derzeit wickelt Deutschland 12% seines gesamten Außenhandels mit den Staaten Osteuropas ab.(1) Dieser nimmt damit die Führungsposition ein, erst dann folgt der Außenhandel mit Frankreich und auf Platz 3 den Vereinigten Staaten. Im Ländervergleich sind es vor allem Tschechien (Platz 10), Polen (11) und Ungarn (15) mit welchen Deutschland die intensivsten Wirtschaftsbeziehungen pflegt.

Das Ende der Fahnenstange ist jedoch beileibe noch nicht erreicht. Der Deutsche Außenhandel mit Osteuropa ist in den Jahren von 1991 bis 2001 um 330% gestiegen. Während der gesamte Außenhandel stagniert, wächst der osteuropäische Außenhandel weiterhin um eine zweistellige Prozentzahl pro Jahr. Allerdings wird die Konkurrenz der anderen europäischen Staaten, besonders im Zuge des EU-Beitritts von zehn Staaten Osteuropas, stetig größer. Die Zeitschrift Ost-West-Contact stellt in ihrer Ausgabe 11/02 dazu fest: „Mittel- und Osteuropa ist bereits in hohem Maße in die internationale Wirtschaft eingebunden – mit guten Perspektiven für weiteres Wachstum freilich. Noch ist Raum für deutsche Waren, deutsches Know-how und deutsche Investitionen. Bis zum Jahre 2004 sollte man mit seinem Engagement im Osten aber nicht warten.“

Während für Deutschland die Staaten Osteuropas im Einzelnen wichtig, jedoch nicht entscheidend sind, ist die Situation auf der anderen Seite eine komplett entgegengesetzte. Die wichtigsten Handelspartner Deutschlands – Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei – sind mittlerweile fast vollständig in Abhängigkeit von der deutschen Wirtschaft geraten. Die deutsche Wirtschaft ist in diesen Staaten zum bestimmenden Moment der eigenen Wirtschaft geworden.

Der für Deutschland größte Handelspartner, die Tschechische Republik, wickelt insgesamt knapp 40% des Außenhandels allein mit Deutschland ab. Auf Platz 2 rangiert weit abgeschlagen die Slowakei mit knapp 7%. Gleichfalls kommen ein Drittel der Direktinvestitionen aus Deutschland. Ebenso sieht es in Polen aus, das noch im letzten Jahr wichtigster osteuropäischer Handelspartner für Deutschland war, durch eine anhaltende Wirtschaftskrise diesen Status jedoch an Tschechien verloren hat. Auch hier wird 30% des Außenhandels allein mit Deutschland abgewickelt.

Eine herausragende Rolle spielt schließlich Ungarn, welches seit der besonderen Unterstützung Deutschlands bei den Ereignissen des Jahres 1989 eine enge Beziehung zu Deutschland pflegt. Bereits vor Jahren, besonders mit dem deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrag des Jahres 1992, wurden hier bestehende Hürden zum Immobilien- und Unternehmenskauf kontinuierlich abgebaut. Die Folge davon war die massive Ansiedlung der deutschen Wirtschaft und deutscher ImmobilienbesitzerInnen. Heutzutage wird ebenfalls ein Drittel des gesamten Außenhandels mit Deutschland abgewickelt und 40% der Direktinvestitionen kommen von dort. Der damalige ungarische Wirtschaftsminister Geörgy Matolscy bezeichnete Anfang des Jahres 2002 deutsche Unternehmen als „bestimmende Produzenten und Exporteure der ungarischen Wirtschaft.“ Doch mehr noch, die deutsche Wirtschaft dominiert nicht nur die ungarische Wirtschaft, sondern ist durch diese dominante Stellung zum integralen Bestandteil der ungarischen Gesellschaft selbst geworden. „Die Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung produzieren inzwischen mehr als ein Viertel des ungarischen Bruttoinlandsprodukts. Diese Unternehmen sind weit mehr als nur Investoren, sie sind integraler Bestandteil der ungarischen Gesellschaft und Wirtschaft.“ heißt es in einem Wirtschafsgutachten der Deutsch-Ungarischen Industrie und Handelskammer von April 2002 (zitiert nach der deutschsprachigen Budapester Zeitung vom 15. April 2002). Diese Passage verweist auf ein entscheidendes Problem, auf das später noch zurückzukommen ist: Die deutsche Wirtschaft bringt nicht nur die Nationalökonomien in direkte Abhängigkeit, sondern fördert zudem die gesellschaftlich-kulturelle Germanisierung Osteuropas.

Auch die Slowakei bemüht sich mittlerweile darum, deutsche Investoren anzulocken. So wurde in den letzten Jahren ein ganzes Bündel von Investitionsanreizen eingeführt, welche sich stark an das ungarische und tschechische „Vorbild“ anlehnten. Auch hier wird bereits knapp 30% des Außenhandels mit Deutschland abgewickelt, Tendenz steigend. Die Deutsche Außenhandelskammer der Slowakei kann bereits zufrieden feststellen: „Die inländische Konkurrenz spielt für deutsche Produkte keine große Rolle“. Allein das deutsche VW-Werk bestreitet 18% des gesamten slowakischen Außenhandels.

Mit dieser Bilanz scheint der osteuropäische Markt jedoch noch nicht gesättigt zu sein. Während „Hagebaumarkt“, „Roller“, „Mediamarkt“ etc. das Bild von Einkaufszentren in Osteuropa schon jetzt deutlich dominieren, planen nun auch die Unternehmen „Tengelmann“ und „Lidl & Schwarz“ den Osten Europas zu erobern. Mehrere hundert Discounter sollen dort in den nächsten Jahren entstehen. Viele weitere Unternehmen wie RWE oder Heidelberg-Zement planen derzeit eine intensive Ostexpansion.

Was die dominante Präsenz deutscher Unternehmen für die Gesellschaften Osteuropas bedeutet, lässt sich angesichts der deutschen Mediendominanz erahnen. Die Mediengruppe „Gruner+Jahr“ des Bertelsmann-Konzerns sowie die „WAZ-Verlagsgruppe“ stoßen in bedrohlicher Weise auf den osteuropäischen Markt vor. Gruner+Jahr z.B. hält die Monopolstellung auf dem ungarischen Tageszeitungsmarkt. Die öffentliche Meinung kommt an der deutschen Mediengruppe also nicht vorbei. Noch viel entscheidender ist die WAZ-Verlagsgruppe auf dem osteuropäischen Markt positioniert. Ihr gehören dort insgesamt 23 Tageszeitungen, 38 Zeitschriften sowie 10 Anzeigenblätter. Der WAZ-Konzern beherrscht den Zeitungsmarkt in Jugoslawien, Bulgarien, Kroatien, Tschechien und zusammen mit Gruner+Jahr in Rumänien. In den betreffenden Ländern mehren sich die Proteste. Die WAZ, so der berechtigte Vorwurf, würde sich Meinungsmonopole zusammenkaufen, somit die einheimische Presse vom Markt drängen und die öffentliche Meinung beherrschen. Der Vorsitzende der bulgarischen Vereinigung der Zeitungsverleger titelte eine Stellungnahme gar mit den Worten: „Deutscher Blitzkrieg ruiniert die bulgarische Presse.“

Die dramatischen Konsequenzen dieser Monopolstellung liegen auf dem Tisch: Die öffentliche Meinung wird von deutschen Verlagen gesponsert, eine kritische Haltung gegen Deutschland ist auf diesem Bereich nicht mehr möglich. Die Folgen des Monopols zeigten sich bereits in Tschechien entlang der Diskussion um die Benes-Dekrete. Während die Öffentlichkeit und die Politik sich gegen eine Revision derselben wandten, forderte die tschechische Presse ebenjene Revision. Die tschechische Presse ist also nicht, wie hierzulande häufig zu vernehmen, als Repräsentant der öffentlichen Meinung, sondern als Sprachrohr deutscher Interessen zu verstehen. Hier zeigt sich ein weiterer möglicher Trend zur Germanisierung Osteuropas.

 

Politische Begleitmusik

„Günstige weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu sichern und die Intensivierung der wirtschaftlichen Kooperation wirkungsvoll zu fördern, gehört zu den Hauptaufgaben der Bundesregierung“ schreibt das Auswärtige Amt. Der Vorstoß nach Osteuropa ist also mitnichten ein zufälliges Produkt der innerdeutschen Wirtschaft. Vielmehr werden die Expansionsbemühungen vom Auswärtigen Amt maßgeblich gefördert und unterstützt: „Aufgabe des Staates ist es, sich in bilateralen und multilateralen Verhandlungen, z.B. in der Europäischen Union, in der OECD und im GATT/WTO für Rahmenbedingungen einzusetzen, durch die sich Wettbewerb und Handel möglichst frei entfalten können“ heißt es weiter. Dies hat Deutschland zur Genüge in Osteuropa getan. Die deutsche Außenwirtschaftspolitik ist gekennzeichnet durch ein Zusammenspiel staatlicher Institutionen und Initiativen der Wirtschaft selbst. Die wichtigsten drei Säulen dieser Politik sind die deutschen Auslandsvertretungen, Außenhandelskammern und die Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai). Im gegenseitigen Zusammenspiel versuchen diese außerdeutsche Märkte zu erschließen und Unternehmen im Ausland zu beraten und zu unterstützen. Nach Selbstauskunft des Auswärtigen Amtes wurden in den letzten 20 Jahren die Anzahl der MitarbeiterInnen, welche sich ausschließlich um wirtschaftliche Belange kümmern, in den deutschen Auslandsvertretungen kontinuierlich erhöht. Und ebenso sind die von der Deutschen Industrie und Handelskammer (DIHK) getragenen Außenhandelskammern im ständigen Wachsen begriffen.

Neben diesen staatlichen Institutionen der Außenwirtschaftspolitik sind private Vereinigungen, allen voran der „Ost- und Mitteleuropa Verein“ (OMV), von elementarer Bedeutungen. Der OMV berät Unternehmen, erstellt Wirtschaftsgutachten und organisiert regelmäßig Wirtschaftsdelegationen, Round Tables etc. „zur Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Ländern Ost- und Mitteleuropas unter Einschluss der GUS-Länder.“, was konkret die Positionierung der deutschen Wirtschaft in Osteuropa meint.

Ein ganz entscheidendes Instrument zur Förderung der deutschen Wirtschaft im Ausland ist die Auswärtige Kulturpolitik. Die Förderung der deutschen Sprache sowie die Ausbildung deutschsprachiger Führungseliten ist das vordergründige Ziel derselben. Auf der ganzen Welt gibt es derzeit ca. 500 deutsche Auslandsschulen, Schulen im Ausland also, in denen die deutsche Sprache und Kultur gelehrt wird. Auch wenn diesen Einrichtungen in den letzten Jahren aus strukturellen Gründen kontinuierlich Gelder gestrichen werden, ist ihr Prinzip noch immer von immenser Bedeutung. Auf dem „Tag der deutschen Auslandsschulen“ am 19. März 2001 stellte Ingo Plöger in einer Eröffnungsrede die Bedeutung der Auslandsschulen hervor: „Deutsche Schulen sind mit ihrer kulturellen und sozialen Reichweite in die Gesellschaften ihrer Sitzländer hinein ein unschätzbarer Juwel nicht nur für die deutsche Auswärtige Kulturpolitik, sondern im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung vor allem eine feste Größte für die deutschen Unternehmen im Ausland und für die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen.“ Hierin wird er vom Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, Albert Spiegel, unterstützt. „Unsere Auslandsschulen prägen Werte wie Interkulturalität, Erziehung zu Toleranz und Menschenrechten, Dialog, Weltoffenheit und Weltläufigkeit, Austausch und Begegnungen. Werte, die letztlich auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im Ausland stärke, gerade in einer globalisierten Weltgesellschaft.“

Das Ziel dieser Schulen ist die Ausbildung von deutschsprachigen Fachkräften, welche der deutschen Wirtschaft in ihren Ländern in Folge dieser Ausbildung die nötigen Präferenzen einräumen. Zudem sollen in der Ausbildung ein positives Deutschlandbild vermittelt werden um die in Osteuropa noch immer vorhandenen Abneigungen gegen Deutsche abzubauen. Diese Auslandsschulen werden durch weitere Projekte unterstützt. In fast allen Ländern Osteuropas ist es heutzutage möglich eine reguläre deutsche Hochschulreife zu erlangen, die Anzahl solcher Schulen ist weiter steigend. In Budapest hat mit der Gyula-Andrássy-Universität im September 2002 sogar die erste deutschsprachige Universität in einem nicht deutschsprachigem Land eröffnet, deren offizielles Ziel es ist, eine „deutschsprachige Führungselite“ für Osteuropa aufzubauen. Gleichzeitig fördern verschiedene Stiftungen wie Friedrich-Ebert- und Konrad-Adenauer-Stiftung sowie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) das Studium potentieller zukünftiger Wirtschaftseliten an deutschen Universitäten.

Diese Politik hat, wie Plöger und Spiegel treffend bemerkten, zwei wesentliche Ergebnisse. Zum einen erhält die deutsche Wirtschaft in Osteuropa einen sicheren Stand. Es existieren genügend Arbeitskräfte, welche mit den Gepflogenheiten des eigenen Landes ebenso vertraut sind wie mit denen Deutschlands und gleichsam beide Sprachen sprechen. Ganz automatisch, so die Überlegungen, werden diese zukünftigen Eliten der deutschen Wirtschaft Präferenzen erweisen. Zum andern wird damit die deutsche Kultur in die Staaten Osteuropas exportiert und schafft so die Etablierung „deutschen Kulturguts“ dort, wo dieses „Kulturgut“ nach 1945 erfolgreich vertrieben worden war.

 

Die EU-Osterweiterung

Das wichtigste Instrument der deutschen Bundesregierung zur Unterstützung der deutschen Wirtschaftstätigkeit in Osteuropa stellen jedoch die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union dar. Im Jahre 1998 (Luxemburg-Gruppe)(2) und 2000 (Helsinki-Gruppe)(3) wurde begonnen, mit 12 Staaten Osteuropas Verhandlungen über deren Beitritt zur Europäischen Union zu führen. Das Ziel dieser Erweiterung ist die Etablierung eines einheitlichen Europas als politische und wirtschaftliche Größe. Nach dem EU-Beitritt der 12 Beitrittskandidaten wäre Europa mit 500.000 Millionen Menschen der größte einheitliche Markt innerhalb des Weltmarktes.

Zu diesem Zwecke wird in intensiven Verhandlungen mit den betreffenden Ländern der europäische Besitzstand, das sogenannte Acquis communautaire – ca. 80.000 Seiten europäische Rechtstexte – aufoktroyiert. Zudem werden politische Stabilität und eine funktionierende Marktwirtschaft verordnet.

Alles in allem steht den Beitrittkandidaten eine massive Umwälzung ihrer Rechtssysteme ins Haus. Das alte Europa, die 15 bestehenden EU-Staaten also, presst die neuen Länder Osteuropas mit aller Macht in den europäischen Markt. Den Beitrittsländern bleibt im Grunde jedoch keine andere Wahl als beizutreten, wollen sie nicht vom europäischen Markt abgekoppelt und im wirtschaftlichen Bankrott enden. 80% ihres Außenhandels betreiben diese Länder derzeit mit der EU, eine Loslösung hätte fatale Folgen.

Die Folgen des Beitritts liegen klar auf der Hand. Alle derzeit noch bestehenden wirtschaftlichen Schranken werden sukzessive aufgelöst. Im Klartext heißt dies, dass wirtschaftlichen Expansionsbestrebungen nichts mehr im Weg steht. Zudem sorgt die europäische Niederlassungsfreiheit dafür, dass WesteuropäerInnen für Spottpreise Immobilien in Osteuropa kaufen können, etwas, das in den meisten Ländern Osteuropas derzeit nur sehr eingeschränkt möglich ist.

Eine besondere Rolle bei den Beitrittsverhandlungen spielt Deutschland. Für einige der Beitrittskandidaten gilt Deutschland als der wichtigste Fürsprecher, so z.B. für Polen, die Slowakei, Rumänien und Ungarn (EU-Beitritt für beide erst 2007 geplant). Dies liegt ganz wesentlich in der Tatsache begründet, dass Osteuropa für Deutschland der wichtigste Markt ist. Die dennoch allerorten bestehenden Hemmnisse struktureller Art konnten im Laufe der Verhandlungen Stück für Stück abgebaut werden. Der OMV bilanziert denn auch in seinem Jahresbericht 2001: „Die gerade für das langfristige Engagement der ausländischen Wirtschaft unabdingbare politische Stabilität und Verlässlichkeit in den ost- und mitteleuropäischen Reformländern hat im Jahre 2001 weiter an Gestalt gewonnen.“ Die Einbindung der osteuropäischen Staaten in die EU bringt innerhalb der EU-Staaten langfristig Deutschland am meisten. Genau aus diesem Grund setzt sich Deutschland für die betreffenden Staaten ein. Quasi als Dankeschön für das besondere deutsche Engagement erhält Deutschland ebenso besondere wirtschaftliche Vergünstigungen, hier schließt sich der Kreis.

In den Verhandlungen mit den EU-Beitrittskandidaten werden also die letzten Hürden für die Wirtschaft beseitigt. Von dem Prozess der Osterweiterung „werden vertrauensfördernde Effekte ausgehen, die das Investitionsklima in den betroffenen Volkswirtschaften verbessern.“ heißt es in dem Herbstgutachten der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Der Weg ist also frei für den endgültigen Siegeszug der deutschen Wirtschaft in Osteuropa. Auf der andern Seite wird die Niederlassungsfreiheit eingeführt. Gerhard Schröder redete bereits auf dem „Tag der Heimat“ im Jahre 2000 dem Revanchismus der Vertriebenen das Wort als er in seiner Rede feststellte: „Damit wird sich den Kindern und Enkeln der Vertriebenen auch die Möglichkeit eröffnen, sich im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an den Orten ihrer Eltern und Großeltern niederzulassen und dort, wenn sie es wollen, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzuhaben.“ Er traf damit den Nagel auf den Kopf, indem er bemerkte, dass im Rahmen der erweiterten EU, die Deutschen die alten Ostgebiete nicht zurückerobern, sondern einfach zurückkaufen könnten.

 

Was bleibt?

Mitte Oktober diesen Jahres wurde in Polen der Verkauf des staatseigenen Energieunternehmens Stoen an den deutschen Energieriesen RWE beschlossen. Was für RWE lediglich ein Baustein in der Eroberung des osteuropäischen Energiesektors darstellt, sorgte in Polen für eine mittelschwere Regierungskrise. Ein Tag und eine Nacht lang war das polnische Parlament, der Sejm, von heftigen Kontroversen erschüttert. Die Parteien LPR und Samoobrona verglichen den Vorstoß der RWE mit dem Eroberungsfeldzug der Nazis 60 Jahre zuvor und wollten den Verkauf des Energieunternehmens an ein deutsches Unternehmen verhindern. Was wie ein Ausrutscher wirkt, ist in der polnischen Öffentlichkeit durchaus präsent. „In Polen herrscht immer noch die Überzeugung, dass die Deutschen vom Drang nach Osten geprägt sind, und deshalb wird auch die Präsenz des deutschen Kapitals in Polen als eine neue Kolonisation angesehen“ schreibt Rafal A. Ziemkiewicz in der polnischen Zeitung Wprost (Übersetzung: Deutsche Welle/Monitor) vom 16. Mai 2002.

Nun mag der Vergleich der deutschen Wirtschaft mit dem Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht in der Tat vermessen sein, diese Vergleiche bringen jedoch die offensichtliche Sorge an die Oberfläche, die polnische Integrität könne im Zuge der deutschen Wirtschafts-Osterweiterung verloren gehen und dies ganz ohne politische Aggressionen und militärischen Auseinandersetzungen: schleichend und unaufhaltsam.

Dieser Einschätzung ist Recht zu geben. Osteuropa ist in eine tiefe wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland geraten. Der deutsche „Drang nach Osten“ ist erst am Anfang. Nach dem EU-Beitritt der Beitrittskandidaten im Jahre 2004 wird es noch einmal einen Schub geben, besonders auf dem Immobiliensektor. Ohne lautes Getöse, langsam und weitestgehend unbeachtet hat sich Deutschland im Osten Europas festgesetzt. Nimmt man die Jahre 1939-1944 aus, ist der deutsche Einfluss in Osteuropa derzeit so groß, wie nie zuvor.

 

Fußnoten:

(1) Dies sind die ehemaligen sowjetischen und jugoslawischen Teilrepubliken sowie Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien

(2) Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Estland, Slowenien, Zypern

(3) Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta

Phase 2 Leipzig