Wenn Kampfbegriffe handlich werden

Eine Kritik an Rahel Jaeggis Entfremdungstheorie

Gesellschaft ist ein dynamisches Geschehen; gesellschaftliche Bewegungsgesetze ändern sich, neue Machtkomponenten und -konstellationen können hinzutreten. Die Frage nach der Geltung unserer Aussagen und Urteile ist an die konkrete historische Lage unserer Gegenwart gebunden und von ihr abhängig. Diesen Zusammenhang gilt es auch mit Blick auf die linke Theoriegeschichte im Fokus zu behalten. Überkommene Begriffe – Entfremdung, bürgerliche Gesellschaft, Klasse etc. – die einst einen Erklär- und vielleicht auch einen Kampfwert hatten, müssen zu späteren Zeitpunkten auf ihre Angemessenheit und Legitimität hin überprüft werden. Wo heute von Entfremdung die Rede ist, hilft es zu fragen, ob dieser Begriff noch hinreicht, um die Gegenwart zu erfassen – ob er noch immer an der Zeit ist. 

Von diesen Überlegungen nimmt Rahel Jaeggi in ihrem Buch Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems den Ausgang. Die Berliner Philosophin knüpft ihrem Selbstverständnis nach an die Kritische Theorie an und entwickelt sie weiter; sie gilt als die zeitgenössische Vertreterin dieser Theorielinie schlechthin. Anhand von vier Fallbeispielen schildert Jaeggi Lebenssituationen, in denen Personen die Erfahrung machen, sich in der eigenen Haut fremd zu fühlen. Mit diesen Beschreibungen will sie einer Verhärtung und Lebensferne linker Theorie entgegenwirken, die Objektivitätsansprüche und eingefahrene marxistische Formeln wiederkäue, ohne sie an die subjektive Lebensrealität der Einzelnen zurückzubinden. Dieses Vorhaben ist wichtig. Lange schon fungiert manche marxsche Formel als Schibboleth, das Anhänger*innen marxistischer Theorien den Eintritt in bestimmte Diskurse gewährt, ebenso aber den Ausschluss derjenigen provoziert, die sich dieser Formeln nicht bedienen (können oder wollen). Jaeggis Buch hingegen erreicht eine breite Öffentlichkeit; es wurde von der Kritik als »furios«, »warmherzig« und »spannend« (Spiegel) bezeichnet und ist inzwischen im Campus- und im Suhrkamp-Verlag in mehrfacher Auflage erschienen. Wer sich an der Universität mit dem frühmarxistischen Theorem der Entfremdung beschäftigt, kommt um Jaeggis sogenannten Meilenstein nicht herum. 

Die Popularität ihres Buches jedoch – so möchte ich darstellen – hat ihren Grund maßgeblich in der Preisgabe einer radikalen materialistischen Herrschaftskritik. Es befördert eine Haltung, die auch und vor allem außerhalb der Fach- und Universitätsgrenzen als Liberalisierung und Einhegung linker Gesellschaftskritik wirkmächtig ist: Die Haltung einer linksliberalen Mittelschicht, die an Oberflächenphänomenen herumkrittelt, ohne deren strukturelle Verursachung noch zu durchblicken oder gar anzufechten. Jaeggis Entfremdungstheorie aktualisiert zwar den Begriff, fügt ihn aber in eine individualistische, klassenblinde und idealistische Hegemonie. So appelliert sie in letzter Konsequenz an die bewusste Aneignung der individuellen Lebenssituation und lässt darüber die Notwendigkeit einer praktischen Aneignung der Bedingungen unseres Lebens in Vergessenheit geraten. 

Eine solche politische Konsequenz der Theorie steht im Widerspruch zu jener Traditionslinie, auf die sich Jaeggi selbst beruft. Die frühe Kritische Theorie der 1930er Jahre entstand vor dem Hintergrund der scheiternden Arbeiter*innenbewegung, der fortschreitenden Etablierung des sowjetischen Staatssozialismus und der faschistischen Entwicklung in einigen europäischen Ländern. Die Aufgabe, die sich dem Kreis an Theoretiker*innen und außerakademischen Schriftsteller*innen um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu dieser Zeit stellte, bestand maßgeblich in der kritischen Aktualisierung des Marxismus und seines emanzipatorischen Potenzials. Die Theoriebildung sollte bewusst parteiisch sein und zielte darauf ab, Theorie praktisch zur Aufhebung von gesellschaftlichem Unrecht einzusetzen. 

Materielle Ungleichheit und Arbeitszwang aufgrund staatlich garantierter Eigentumsverhältnisse, die kapitalistische Landnahme zunehmend aller Lebensbereiche, das ungeplante und krisengeschüttelte Nebeneinander von unabhängigen Privatarbeiten, Leistungszwänge und Raubbau an menschlichen und natürlichen Ressourcen – das waren Kernthemen von Adorno und Horkheimer, von denen sich bei Jaeggi nichts mehr findet. Vom Kampf gegen gesellschaftliches Unrecht und der Perspektive »aufs Ganze« der gesellschaftlichen Realität, samt ihrer Widersprüche, ist beinahe nichts geblieben. Stattdessen wird qua Theorie der tatsächliche Rückzug der Einzelnen auf ihre privaten Befindlichkeiten verdoppelt und die Verhältnisse insgesamt als frag- und alternativlose Realität zementiert. Der Einspruch gegen die reale Ungleichheit innerhalb einer von kapitalistischen Verwertungszwängen getriebenen Klassengesellschaft weicht der Apologie derselben. Jaeggis Überlegungen zur Entfremdung machen den Begriff zwar handlich, aber darüber so unwesentlich, dass er jeglichen Kampfwert verliert. 

 

Formalisierung der Entfremdung 

Laut Jaeggi steht der Begriff der Entfremdung sowohl in einer sozialphilosophischen Tradition, die an Rousseau, Hegel und Marx anschließt, als auch in einer existenzialistisch-phänomenologischen, die von Kierkegaard über Heidegger bis zu Sartre führt: Beide Traditionslinien verstehen ihre Diagnose, dass der Mensch der Moderne sich von sich selbst entfremdet habe, als Zeitkritik, wenngleich ihre Begründungen divergieren. Jaeggi nimmt diese Ansätze in ihre Theoriebildung auf und untersucht die möglichen philosophischen und alltagssprachlichen Bedeutungen des Entfremdungsbegriffs mit dem Ziel, ihn systematisch neu zu interpretieren und begrifflich zu transformieren. Ihre maßgebliche Neuerung besteht in einer »formalen Wende« des Begriffs: Sowohl Entfremdung als auch ihre Gegenbewegung, die Aneignung, müssten als Beziehungsverhältnisse gedacht werden. Nicht feststehende, allgemeingültige Substanzen und Definitionen von Menschlichkeit, sondern der Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen sei dabei wesentlich, Entfremdung also eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit«.Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a.M. 2016, 48. Im Hauptteil ihrer Arbeit schildert Jaeggi vier fiktive Situationen, um anhand dieser verschiedenen Formen zu illustrieren, in denen Entfremdung heute auftreten kann: 1. Ein junger Wissenschaftler, der mit seiner Verlobten in den Vorort einer Großstadt zieht, fühlt sich in seinem zunehmend biederen und ereignislosen Alltagsleben nurmehr als passiver und ohnmächtiger Teilnehmer. 2. Ein Junglektor ahmt das Verhalten seines Chefs auf überzogene und künstlich wirkende Weise nach. 3. Eine Feministin, die dem Ideal einer selbstständigen und wehrhaften Frau anhängt, ertappt sich dabei, wie sie in Anwesenheit ihres Partners kindisch kichert. 4. Der Linguistikprofessor Perlmann aus Pascal Merciers Roman Perlmanns Schweigen verliert das Interesse an seiner Arbeit. 

Jaeggi ist zuzustimmen, wenn sie betont, dass das Selbst nicht als innerer Wesenskern zu denken ist, der uns von Natur aus mitgegeben ist und dessen Verdeckungen und Verstellungen wir nun nachträglich beseitigen müssten, um zu wahrer Authentizität zu gelangen. Vielmehr ist dieses Selbst ständig im Werden begriffen und durchläuft lebensgeschichtliche Wandlungen. Es ist die Besonderheit von Jaeggis Ansatz, den Fokus auf das »Wie« dieser Vollzüge der Selbstwerdung zu legen. Doch fragt man sich, wer der mit dem Thema der Entfremdung befassten Autor*innen eigentlich einen solchen reinen Wesenskern des menschlichen Selbst angenommen hatte, als ein zugrunde liegendes, inneres Urmodell, das sich dann nur noch zu entfalten und von Irrwegen fernzuhalten bräuchte? Gegen wen spricht Jaeggi hier an? Für Hegel oder Marx jedenfalls gilt dies nicht und auch bei den Romantiker*innen oder Heidegger und Sartre lässt sich ein solcher Kern nicht finden. So fasst Marx beispielsweise den Menschen weniger als ein bestimmbares »Was« denn vielmehr als das »Wie« seiner Tätigkeit. Gemäß der Deutschen Ideologie liegt in ebendieser Lebenstätigkeit der ganze Gattungscharakter des Menschen beschlossen. Marx schließt den Passus mit folgenden Worten: »das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß«.Karl Marx / Friedrich Engels, Deutsche Ideologie, MEW Band 3, 1845/46, 26.

Als tatsächliche Neuheit von Jaeggis Theorie darf hingegen die Synthese der unterschiedlichen Bedeutungsebenen und Theorielinien des Entfremdungsbegriffs gelten. Sie versucht das Phänomen in seiner ganzen Vielfalt zu fassen, indem sie es mit einer Auflistung assoziierter Phänomenfelder zusammenführt: Rollenverhalten und sozialer Konformismus, ein instrumentalistischer oder utilitaristischer Weltbezug, kulturelle oder politische Exklusion, soziale Isolation oder Rückzug ins Private, Entwurzelung und Heimatlosigkeit, Ökonomisierung, Kommodifizierung von Beziehungen, Verkümmerung menschlicher Potenziale und Ausdrucksmöglichkeiten, Verselbständigung von Verhältnissen – etwa einer Ehe. Schließlich könne auch das Absurde als ein »Mitglied der Entfremdungsfamilie gelten«.Jaeggi, Entfremdung, 24. All diese Phänomene lassen sich laut Jaeggi als »defizitäre Beziehungen« beschreiben, die man zu sich, zur Welt und zu den anderen entwickelt. Allein, es stellt sich die Frage, warum diese defizitären Beziehungen hier als Entfremdung gefasst werden. Was hat es denn mit der in der Entfremdung enthaltenen Fremdheit auf sich? Wodurch wird sie verursacht und wovon entfremden sich die Einzelnen, wenn es – wie Jaeggi behauptet – ein Eigenes als solches nicht gibt? Nicht nur weisen die Überlegungen zu Entfremdung von Denkern wie Rousseau, Schiller, Hegel, Heidegger, Marx, Adorno, Goethe, Kafka, Beckett, Camus wesentliche Unterschiede auf, sodass sie sich zum Teil diametral gegenüberstehen: bürgerlich versus proletarisch, rechts versus links, Künstlerkritik versus Sozialkritik etc. Vielmehr öffnen Jaeggis Assoziationsketten die Grenzen des Begriffs so weit, dass er am Ende alle möglichen defizitären Beziehungen fasst, aber sein spezifischer Eigengehalt in Gefahr steht, verloren zu gehen. 

 

Die Kategorie der Arbeit und der Zeitkern der Entfremdung 

Im Gegensatz zu Jaeggis formaler Lesart legen viele der am Entfremdungstheorem interessierten Klassentheorien einen starken und mitunter einseitigen Fokus auf dessen ökonomische Dimension. Unter kapitalistischen Bedingungen sei Arbeiter*innen das Produkt ihrer Tätigkeit nicht zu eigen, sie würden es an ihre Arbeitgeber*in verlieren. Entfremdung wird in Hinsicht auf die Eigentumsverhältnisse als Entäußerung oder Enteignung verstanden. So bleibt jedoch die subjektive – psychische und zwischenmenschliche – Komponente der Entfremdung und die von Marx behauptete Totalität der Entfremdung außen vor. Für Marx ist die Entfremdung eine das Ganze der Gesellschaft betreffende – d. h. klassenübergreifende – systematische These über den Selbst- und Weltbezug innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Klassenspezifisch hingegen seien die unterschiedlichen Symptomatiken und Erscheinungsformen dieser Entfremdung. 

Jaeggi vermeidet den ökonomischen Reduktionismus, sowohl die Ressourcenorientierung als auch die Engführung des Entfremdungsbegriffs auf die beherrschten Klassen. Sie vermeidet diese Vereinseitigungen sogar so gut, dass sie am Ende die Klassenfrage vollständig ausblendet. Ihr Buch präsentiert eine Welt ambitionierter Junglektor*innen, Mathematiker*innen, kichernder Feminist*innen, Ärzt*innen und Student*innen. Die Weiterentwicklung der marxschen Kategorie hat daher wenig mit den unteren Schichten einer Arbeiter*innenklasse zu tun und noch weniger mit der Kategorie der Lohnarbeit oder gar der kapitalistischen Produktionsweise. Marx verwendet den Begriff der Entfremdung zur Beschreibung und zur Kritik eines Gesellschaftszustandes, in dem die Einzelne um des Überlebens Willen ihre Lebenszeit an eine fremde Person verkaufen und unter deren Kontrolle und Leitung für sie tätig sein muss. Für ihn ist diese Form der Veräußerung der eigenen Lebenstätigkeit – d. h. unseres Wesens – eine Verrücktheit. Für Jaeggi hingegen bildet sie eine fraglos hingenommene Normalität. Dieser Prozess der Normalisierung oder Naturalisierung einer Gesellschaft, die auf Lohnabhängigkeit basiert, lässt sich geschichtlich nachvollziehen. 

In seinen im Pariser Exil verfassten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844) begreift Marx die Entfremdung in zweifacher Weise: in ökonomischer Hinsicht als Enteignung und in Hinsicht auf das konkrete subjektive Erleben der Arbeiter*innen als Fremdbestimmung und Vereinseitigung der Tätigkeit sowie als Vereinzelung und gesellschaftliche Exklusion. Auch Engels beschrieb zur selben Zeit die konkret anschauliche, leiblich wie geistig erfahrbare Seite der Entfremdung: »Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der andern Seite, überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand, überall gegenseitige Plünderung unter dem Schutz des Gesetzes, und das alles so unverschämt, so offenherzig, daß man vor den Konsequenzen unseres gesellschaftlichen Zustandes, wie sie hier unverhüllt auftreten, erschrickt und sich über nichts wundert als darüber, daß das ganze tolle Treiben überhaupt noch zusammenhält.« Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, MEW 2, 225–506, 257. 

Der nachliberale, monopolistisch geprägte Kapitalismus, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland herausbildete, hatte ein gänzlich anderes Erscheinungsbild. Nicht nur war die noch im Frühwerk von Marx aufgestellte Verelendungsprognose nicht eingetreten, vielmehr hatte die Entfremdung ihre ökonomisch augenfällige Gestalt der Armut nahezu völlig eingebüßt. Mittels Sozialgesetzgebung verlor der Staat gegenüber der Gesellschaft die Rolle eines realitätsfernen Überbaus – wie Marx es noch in seiner Schrift Zur Judenfrage (1844) beschrieben hatte –, er intervenierte stattdessen in vormals unangetasteten gesellschaftlichen Bereichen (Bildungs-, Sozial-, Kirchenpolitik etc.) und ermöglichte hier soziale Fortschritte. Arbeitszwang, Fremdbestimmung und Vereinseitigung der Tätigkeit blieben zwar bestehen, allerdings traten sie im Verlauf der Integration des Proletariats immer weiter zugunsten einer Identifizierung mit den spätkapitalistischen Arbeitsverhältnissen aus dem Bewusstsein zurück. Funktionalität und Verwertung der eigenen Lebenszeit und Persönlichkeit erschienen nicht länger nur als äußerer Zwang, sondern wurden zunehmend inkorporiert und bejaht.Theodor W. Adorno, Key people, in: ders., Gesammelte Schriften (GS) 4, Frankfurt a.M. 2003, 278–288, 288. Arbeiter*inneninteressen fanden zwar Eingang in die politische Repräsentation, erwiesen sich im Zuge dieser Berücksichtigung jedoch als systemkompatibel. Sowohl gesellschaftliche Kämpfe als auch ihr theoretischer Überbau unterlagen nun allzu leicht selbst einer bedenklichen Arbeitsmoral sowie den Idealen von Wachstum und Fortschritt. Eine Arbeitsgesellschaft sei entstanden, so Adornos Diagnose des Spätkapitalismus: Eine Gesellschaft, in der die Arbeit die zentrale und vermeintlich unantastbare Kategorie bilde. Laut Jürgen Habermas würden die Subjekte beginnen, sich in der Entfremdung wohlzufühlen.Jürgen Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik, in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 1988, 226–287, 230. Und auch Herbert Marcuse teilte diese Beobachtung: »Wiederum stehen wir einem der beunruhigendsten Aspekte der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation gegenüber: dem rationalen Charakter ihrer Irrationalität. Ihre Produktivität und Leistungsfähigkeit, ihr Vermögen, Bequemlichkeiten zu erhöhen und zu verbreiten, Verschwendung in Bedürfnis zu verwandeln und Zerstörung in Aufbau, das Ausmaß, in dem diese Zivilisation die Objektwelt in eine Verlängerung von Geist und Körper überführt, macht selbst den Begriff der Entfremdung fragwürdig. Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät.«Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Luchterhand 1967, 29.

Marx schrieb in den Manuskripten über die Entfremdung, der Arbeiter fühle sich »außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich«.Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 514. Dagegen skizzierten Adorno und andere Vertreter*innen der Kritischen Theorie etwa einhundert Jahre später ein Szenario der wachsenden Übereinstimmung zwischen Person und Funktion, dem vermeintlichem Zuhause und der Arbeit, die für das Proletariat zu Marx’ Zeiten noch fühlbar in Eigenes und Fremdes auseinandertraten. Nun richte sich die Einzelne in der entfremdeten Welt der Arbeit als ihrem Zuhause ideologisch ein und Mühe und Plage der Arbeit würden einer Identifizierung weichen. Entfremdung, so Adorno, sei in absolute Nähe, Distanzlosigkeit, Vertrautheit umgeschlagen und halte sich eben darin in verkappter Form aufrecht. 

In den heutigen, postfordistischen Verhältnissen hat sich die Nachfrage verändert. Nicht mehr der obrigkeitshörige, zweckrationale, lediglich seinen Dienst ausführende, bürokratische Mensch gilt als Ideal. Stattdessen sollen Arbeitnehmer*innen Selbstständigkeit, Eigeninitiative, Kreativität, Flexibilität, Projektdenken und Teamfähigkeit mitbringen. Einerseits werden diese Marktanforderungen der Einzelnen (teilweise mit Recht) als Tugenden und Errungenschaften von Freiheit präsentiert, andererseits partizipiert sie an jener (teilweise eben nur scheinbaren) Selbstbestimmung nur auf Grundlage und mittels Verdrängung jener fundamentalen Unfreiheit, weiterhin die eigene Haut zu Markte tragen zu müssen. Zwar herrscht die Suggestion von Wahlfreiheit und Autonomie, zugleich nimmt Herrschaft insgeheim eine neue, kaum noch spürbare Form an: äußerliche Disziplinierung weicht der Selbstkontrolle, offene Unterdrückung der Selbstoptimierung und einem Leistungsdruck, dessen Folgen Erschöpfung oder psychische Erkrankungen sein können. 

Neoliberale Herrschaftstechniken intensivieren die Landnahme ehemals geschützter privater und persönlicher Ressourcen. Die Möglichkeit der Distanznahme von der eigenen Funktion im Berufsleben geht heute zunehmend verloren. Adorno hatte diese Tendenz bereits im Spätkapitalismus registriert: »Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen.« Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: GS 4, 11–283, 45. Damit ist eine neue historische Form der Entfremdung erreicht, von der Marx noch nichts wissen konnte. Sie muss aber heute ins Zentrum einer Theorie der Entfremdung gestellt werden und bleibt mit marxschen Begriffen erklärbar: Eine Dialektik der Entfremdung, der zufolge die Verhältnisse auch dort entfremdet sein können, wo sie den Einzelnen als vertraut, gewohnt, vielleicht sogar als menschlich erscheinen. Die zitierten Kritischen Theoretiker bieten – im Gegensatz zu Rahel Jaeggi – bereits Begriffe an, um diese Transformation theoretisch einzuholen. 

 

Die Klassenspezifik von Entfremdungsphänomenen 

Klassenspezifisch muss die skizzierte Diagnose einer integrierten Form der Entfremdung in einer wichtigen Hinsicht relativiert werden. Denn oberflächlich betrachtet ist die Identifizierung und die damit einhergehende Entgrenzung der Arbeit heute – sieht man vom Bereich der Care-Arbeit einmal ab – überwiegend das Phänomen eines mit ökonomischem und kulturellem Kapital ausgestatteten, häufig akademischen Milieus. In der auf standardisierten Vorgängen basierenden Industriearbeit, die offensichtlich nicht auf Kreativität und Einbringung der Persönlichkeit ausgelegt ist, bleiben die antagonistischen Interessen weiterhin bestimmend. Hier erfahren die Lohnarbeiter*innen auch künftig täglich, dass sie austauschbare Träger*innen von Funktionen sind, die ohne ihre Persönlichkeit, Kreativität und Moralvorstellungen auskommen. Die Mittelhaftigkeit und Verdinglichung dieser Arbeit – die klassische Entfremdungserfahrung aus den Manuskripten – ist hier deutlich präsenter. So gibt beispielsweise ein von Thomas Goes interviewter Leiharbeiter die folgende Schilderung: »Weil es den Chef nicht interessiert, was da passiert, für den sind wir ein Auto, und solange das Auto fährt, ist die Welt in Ordnung. Und [es] wird versucht das Auto so günstig wie möglich zu fahren. […] es wird nur das an Sprit reingekippt, was das Ding eben unbedingt zum Fahren braucht, das Ding kommt nicht in die Wäsche, das Ding wird nicht abgeschmiert, das Ding wird einfach nur gefahren.«Thomas Goes, Linke Potenziale und klassenpolitische Voraussetzungen. Empirische Befunde und Forschungsperspektiven, in: Mario Candeias / Klaus Dörre / Thomas Goes, Demobilisierte Klassengesellschaft und Potenziale verbindender Klassenpolitik. Beiträge zur Klassenpolitik 2, Berlin 2019, 57–141, 109.

Trotzdem hat sich Entfremdung im Laufe des Kapitalismus verändert. Ihre subjektive Erfahrbarkeit ist tendenziell immer weiter zurückgetreten beziehungsweise hat sich naturalisiert und integriert. Aber dann muss es als problematisch erscheinen, das subjektive Empfinden als Ausgangspunkt und Stütze der eigenen Theorie zu verwenden, wie Jaeggis Beispielfälle es suggerieren. Bereits für Marx lag das Kriterium der Entfremdung nicht im Subjekt, sondern in einer auf der Ausbeutung warenproduzierender Lohnarbeit beruhenden Gesellschaftsformation, d. h. auf der objektiven Seite. Entfremdung geht nicht notwendig mit einem eindeutigen Leiden einher – sie kann im Gegenteil den Einzelnen auch als Leid- und Gefühllosigkeit, als Wohlergehen oder Selbstbestätigung erscheinen. Noch seltener aber ist sie mit einem expliziten Selbstbewusstsein verbunden. Entfremdung ist – für Marx wie für Adorno – objektiv bedingt: Es ist die kapitalistische Produktionsweise, in deren Zentrum die Kategorie der Lohnarbeit steht, die den in ihr befangenen Menschen – uns – die Entfaltung der eigenen Möglichkeiten verwehrt. 

 

Die Krankheit liegt im Normalen 

Gegen Ende ihres Buches betont Jaeggi die Notwendigkeit, die vom Subjekt ausgehende Perspektive in Anschlussarbeiten um eine soziale Dimension zu erweitern und nach den institutionellen Bedingungen gelingender Aneignungsprozesse zu fragen. Vor diesem Hintergrund mag der Vorwurf, es handle sich um eine individualistische Theorie, ungerecht erscheinen. Und dennoch: Liegt das Problem nicht bereits darin, mit Einzelfällen zu beginnen? Zementieren diese nicht allzu leichtfertig eine Normalität als Regel und Maßstab, indem sie exemplarisch Dysfunktionen und Abweichungen illustrieren sollen, die es zu beheben gilt? Wenn sich die Entfremdung zu einer allgemeinen Form des Weltverhältnisses erweitert hat, die selbst auf ehemals außerhalb der Arbeit befindliche Lebenswelten ausgreift – so die Annahme der Kritischen Theoretiker*innen – wäre sie aufseiten der Normalität und nicht der Abweichung zu suchen. 

Jaeggi empfiehlt ihren fiktiven Beispielpersonen, sich »problemoffen«, »beweglich« und »aufnahmefähig« im Umgang mit Rollenerwartungen und Konflikten zu halten, sich nie zu sehr, aber immer ein wenig mit der jeweils eingenommenen Rolle zu identifizieren, Handlungsspielräume offenzulassen, sich ständig neu zu interpretieren und den jeweiligen Anforderungen gemäß zu modifizieren.Jaeggi, Entfremdung, 87, 100, 127f.Um Entfremdungserfahrungen entgegenzuwirken, gelte es einzusehen, »dass man der Welt Bedeutung selbst geben muss«.Ebd., 211. Die neoliberalen Zumutungen ans Subjekt nehmen die Form individualtherapeutischer Ratschläge zur Behebung von Entfremdungssymptomen an. Am Ende sollen wir alle noch ein bisschen besser funktionieren – ein Funktionieren, in dem gerade unser Verhängnis liegt, weil wir es viel zu gut tagtäglich können und können müssen. Jaeggis Theorie der Entfremdung ist selbst ein Symptom dieser Entfremdung. 

 

Helen Akin 

Die Autorin promoviert derzeit in der Philosophie zur Dialektik der Entfremdung und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Außeruniversitäre Aktion.