Wenn der Kartoffelchipszyklus sich zur Schlinge zusammenzieht

Über den Crash, kapitalistische Zustände und gut gemeinte Rettungspläne

I.

In Frankfurt zu wohnen und zu arbeiten machte in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 ganz besonderen Spaß.

Als die Katastrophe endlich fernsehtauglich geworden war (Haareraufen, Krawattenlockern, Vorsichhinstarren an der Börse), fingen Markus Hablizel und ich in der Mittagspause an, uns aus Spaßgründen immer besonders offiziell und aufmerksam am Frankfurter Geschäftsgebäude von Lehman Brothers, gegenüber der Buchhandlung Hugendubel, vorbeizubewegen. Wir gewöhnten uns daran, »das Thema« öfter mal aufgeräumt und gutgelaunt zu erörtern, möglichst in Hörweite der von ihrem Gott gerade hart rangenommenen Schlipsidioten (vielleicht wirft sich ja mal einer von denen vor ein Auto, war wohl unsere ziemlich unschöne Spekulation; aber weshalb sollen überzeugte Nichtaktionäre nicht auch mal unschön spekulieren dürfen? Wir hatten vermutlich Glück, dass uns keiner von den Typen an jenem aus Baustellengründen eine Weile lang reichlich unübersichtlichen Ampel-Flaschenhals vor ein Auto geschubst hat; im Killen sind sie schließlich traditionell vifer als beim Suizid).

Ein schönes altes Haus ist das, nicht so ein Glas- und Stahlunsinn. Schaute man in die entsprechenden Fenster, sah man da oft Dreißigjährige, neben denen die Herrschaften, die sich während der letzten Militärparaden der bereits untergehenden Sowjetunion schwächlich winkend auf der Kremlmauer zeigten, regelrecht kregel gewirkt hätten.

»Also realwirtschaftlich gesehen ergibt das Ganze überhaupt keinen Sinn«, begann zu dieser Zeit ein kluger liberaler Freund, der in Wohnungsangelegenheiten auch viel mit Bankern zu tun hat, auf mich einzureden. Ich mag ihn sehr, schon weil er es mit dem Ideal der jederzeit lebenstüchtigen, kosmopolitischen, handelsorientierten menschlichen Korrektheit sehr ernst meint und deshalb auch noch davon reden kann, dass Dinge »einen Sinn ergeben« oder nicht, statt den modischen Schwachsinn »einen Sinn machen« zu mümmeln, bei dem ich mich sogar gelegentlich selber erwischen muss (im schlimmsten Fall auch schon schriftlich). Mit der »realwirtschaftlichen« Sinnlosigkeit der im letzten Drittel 2008 von Steinbrück bis zur FAZ eingeräumten Aussicht auf entweder a.) eine globale Depression, b.) die schlimmste Rezession, seit Hitler Anlauf nahm oder c.) das totale Ende von allem und jedem (Extinction Level Event, Busta Rhymes) meinte mein Freund natürlich, dass dieser jüngsten, sagenhaft umfangreichen Geldwertvernichtung, die man nur noch in völlig ungreifbaren Zahlen ausdrücken zu dürfen meinte, keinerlei Produktionsstillstand, Absatznotfall oder Verteilungscrash bei Autos, Sofas, E-Book-Readern oder diesen leckeren mediterranen Kartfoffelchips (Oregano, Basilikum, ein Spritzer Zitrone) der Firma Terra vorangegangen war. Und wenn man noch so vielen verblödeten amerikanischen Hinterwäldlern Eigenheime angedreht hatte, die sie nur zur Hälfte oder zu zwei Dritteln bezahlen konnten: Das kann sich, meinte mein Freund, doch jeder Trottel ausrechnen, dass man so nie auf diese Summen kommt, die da plötzlich das Klo runterrutschten. So viele Hinterwäldler, die nicht rechnen können, gibt es doch gar nicht. Dann geht man eben kurz Sammeln, alle Bürger lassen je nach ihren Vermögensverhältnissen ein paar Kröten springen, und die Sache ist geblecht, woraufhin sich alle besser fühlen und die Vermittler des Desasters, dreitausend prämiengeile Händlertypen, fest versprechen, so etwas Gefährliches nie wieder zu tun.

II.

Genau dies (plusminus ein paar schönere Ausdrücke) war bekanntlich nach dem Desaster die Reaktion derjenigen Funktionsträger der Exekutive, die plötzlich mit »Rettungsplänen« und »Staatsgarantien« um sich zu werfen anfingen. In Entenhausener Bildern: Onkel Dagobert hat sich verrannt und zu viel Knete beim Zocken pulverisiert, jetzt muss das Fähnlein Fieselschweif durch die Stadt latschen und bis zur hintersten Ecke im Waisenhaus jedes Sparschwein knacken, um den Geldspeicher wieder aufzufüllen, weil sonst der größte, wichtigste (Theoretiker des Monopolimperialismus und des Stamokap mutmaßen seit 1975: einzige) Arbeitgeber der Region dichtmacht und damit die Gesamtkommune in den Abgrund reißt.

Danach sind dann wieder Angebot, Nachfrage, Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zuständig, wie der sogenannte Schweinezyklus lehrt. Dass dieser und seine Ableitungen die Realwirtschaft regulieren, während die verrückte Börsenscheiße von ein paar Wahnsinnigen ausgeht, die nicht wissen, was Geld wert ist, und sich deshalb gegenseitig mit dem Handy ruinieren, während die realen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gefesselt und geknebelt auf dem Boden liegen und sich von diesen Irren treten lassen, ist allerdings eins von diesen typisch dualistischen Weltgemälden, wie sie besonders im Heimatland des deutschen Idealismus geliebt werden. Schaffendes und raffendes Kapital, sagten die Nazis dazu.

Das ist im Kern genauso blöd wie die Vorstellung der Friedensbewegung in den achtziger Jahren, dass es da seinerzeit diese beiden hochtechnisierten, hochproduktiven Gesellschaftssysteme »Freier Westen« und »Ostblock« gegeben haben soll, die ruppig, aber im Grunde kontrollierbar vor sich hin wetteiferten, während die gleichzeitige Atomkriegsgefahr von ein paar Wahnsinnigen im Generalsstab der Roten Armee und im Pentagon ausgegangen sei, die nicht wussten, was ein nuklearer Holocaust ist, und sich deshalb gegenseitig mit der Versaftung bedrohten, während die realen Politiker und Staatsbürger gefesselt und geknebelt auf dem Boden lagen und sich von diesen Irren treten ließen. In Wahrheit war, während der Kalte Krieg lief, eben ALLES Kalter Krieg, vom Schulbuch bis zur Zollvorschrift, von der Debatte in Parlament oder Sowjet bis zur oppositionellen Kunst im Jugendzentrum. Genauso ist, wenn Kapitalismus das »only game in town« wird, eben alles Kapitalismus, von der Kartfoffelchipsfertigung bis zu Wetten auf den blauen oder den roten Affen, die als beliebige Geschäftsziele irgendwelcher Finanztransaktionen fixiert werden, damit man für oder gegen irgendetwas wetten kann. Kapitalismus heißt nicht: Wir stellen Chips her und verkaufen die, und wenn dabei auch noch ein Profit herauskommt, freuen wir uns und bezahlen Weihnachtsgeld. Kapitalismus heißt: Wir haben einen Haufen Geld, und den wollen wir so verwerten, dass am Ende ein größerer Haufen Geld rauskommt. Ob wir dazu Chips braten oder auf den blauen Affen wetten, ist halt eben nicht egal, wie diejenigen Feinde des Kapitalismus meinen, die ihn vor allem für seine Gleichgültigkeit gegenüber den Gebrauchswerten hassen, sondern es ist vielmehr SEHR WICHTIG, nämlich abhängig davon, ob wir, ein gegebenes Ausgangskapital vorausgesetzt, von den Chips oder vom blauen Affen den größeren Profit erwarten dürfen.

III.

Wer diese Tatsache, gegenüber welcher der Dualismus von Realwirtschaft und Spekulation zur scholastischen Flohknackerei zusammenschnurrt, mit dem großen Theoretiker des Sozialismus Andreas Baader vor allem »Scheiße« findet, urteilt eventuell einen Tick zu schnell. Denn nur dieses System war in der Lage, die Begrenztheiten des antiken »Sklaven schuften für Herren, der Mehrwert geht in schöne Bauten und Philosophie« und des mittelalterlichen »Bauern schuften für Landeigner, der Mehrwert geht in schöne, aber gruselige Bauten und christliche Theologie« zu überwinden und, eben aufgrund seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Gebrauchswerten, eine komplexe Ökologie der Konkurrenz zu erzeugen, in der noch in der letzten Nische nach Profit gegraben wurde. Und so erhielt auch das esoterischste Bedürfnis erstmals gesellschaftlich Aussicht auf Befriedigung, vorausgesetzt, es ließ und lässt sich in einer Ware (auch sogenannte »Dienstleistungen« sind warenförmig zu fassen, wie wir Nutten der digitalen Bohème ja alle wissen) ausdrücken. Dagegen hat auch Marx nicht mehr vorgebracht, als dass das schöne Versprechen der Vertragsfreiheit (»jede Nachfrage sucht sich ihr Angebot«) unter realkapitalistischen Bedingungen vom Eigengewicht der Produktionsverhältnisse, vom Erbrecht (gleiche Startbedingungen? Erzähl den Quatsch wem Dümmeren, liberaler Bruder!), von vielfältigen Formen der Erpressung (der »ideelle Gesamtkapitalist« bedient sich des Staates wie des Marktes zur Niederhaltung und Übervorteilung der nichtkapitaleigner), von der planlosen privaten Aneignung und ihren Reibungsverlusten in Überproduktionskrisen und anderen Chaosphänomenen ständig aufgefressen wird. Mit der Freiheit der Handelspartner ist es wie mit der Meinungsfreiheit: Wenn einer einen Medienkonzern hat und der andere an der Ecke rumschreien muss, dann braucht man nicht vierzig Semester Diskursanalyse studiert zu haben, um das Vektorprodukt, die sogenannte öffentliche Meinung, vorherzusagen. Der Handel und die Produktion, auch von und mit Handels- und Produktionserwartungen, also der ganze Spekulationsdreck, ist nur ein besonders massives Epiphänomen dieser Grundkonstellation. Wer es abschaffen, regulieren oder sonstwie domestizieren will, soll das versuchen. Man wird da bald an die Grenzen dessen stoßen, was ich eben aufgezählt habe – wer die Finanzmärkte aufräumen möchte, wird am Arbeitsmarkt, am Grundstücksmarkt, am Güterverkehr (Zölle etc.) - kurz am Privateigentum und allen seinen Erscheinungsformen auf Dauer nicht vorbeikommen. Die »Contagion«, wie Broker sagen, also das Ansteckende aller Geldkrankheiten, läuft nicht nur staatenübergreifend (hei, haben da die Isländer schlecht gestaunt!), sondern auch systemdurchdringend. Aber irgendwo muss man anfangen, also legt mal los, Attac und Co. – nur macht euch darauf gefasst, dass man, wenn man den Systemrahmen nicht insgesamt sprengen möchte, sehr bald von prokapitalistischer Seite Argumente zu hören kriegen wird, die, wenn man die privateigentümliche Prämisse einmal akzeptiert, gar nicht so leicht zurückzuweisen sind.

So hört man beispielsweise in Amerika gegen die grassierende naive Verstaatlichungspropaganda, die sich das Heil davon verspricht, dass der liebe Obama in Zukunft den bösen Schlipsidioten auf die Finger guckt, intelligente Liberale derzeit davon reden, dass die Hypothekenscheiße durchaus nicht zwingend von zu wenig, sondern möglicherweise gerade umgekehrt von zu viel staatlicher Kontrolle herrührt. Es gibt da beispielsweise einen »Community Reinvestment Act«, ein Gesetz, das es Banken verbietet, Minderheitenwohngebiete als nicht kreditwürdig einzustufen. Fiele diese Barriere des Haifischbenehmens gegen eh schon gearschte Schwarze oder Latinos, so die Zyniker, dann würde man denen längst nichts mehr leihen, und die ganze Katastrophe wäre unterblieben.

Die schließlich von Bushs Regierung geretteten Institute Fannie Mae und Freddie Mac hätten, so ein weiteres Argument aus dieser Ecke, durch implizites Jonglieren mit Regierungssicherheiten gegen den Einbruch von Hypotheken im Grunde »sozialistische Misswirtschaft« getrieben, im freien Wettbewerb wäre dergleichen, so die emanzipierten Monetaristen, nicht passiert. Dagegen ist, wie gesagt, wenig mehr einzuwenden außer eins: Ob die Monopole nun mehr ein staatliches oder mehr ein privates Gesicht aufsetzen, bleibt sich gleich, solange der entscheidende Punkt ist, dass die Nichtbesitzenden, die von keiner Elite Getragenen, die Mehrwerterwirtschaftenden, die Arbeitslosen, die Leute ohne Aussicht auf Kapital, andauernd absolute, auch durch kein Wahlrecht vor völliger Machtlosigkeit geschützte Objekte der ökonomischen und politischen Prozesse sind. Man kann sich bei Vijay Prashad in Fat Cats & Running Dogs über das anhaltende Enron-Stadium des Kapitalismus kundig machen; man kann sich beim zeitweise hochrangigen Mitverwalter des Chaos Stanley Fischer in seinen IMF Essays from a Time of Crisis eine relativ aufrichtige Übersicht über das internationale Finanzsystem und die daran haftenden Entwicklungsungerechtigkeiten abholen; man kann (auch linke!) Tages- und Wochenzeitungen lesen, das Internet durchwühlen und den Zuschauersport »Börsenpanik« mitmachen, soweit es die Zeit erlaubt.

Was man nicht tun sollte, ist: darauf verzichten, die Zustände im Sozialen durch mit anderen Gearschten verabredete Aktivitäten anzugreifen, wo immer dazu Gelegenheit besteht.

Crash ist nur Wetter; Kapitalismus heißt das Klima, das weg muss.

DIETMAR DATH

Vom Autor erschien zuletzt bei Suhrkamp der Roman Die Abschaffung der Arten und Maschinenwinter. Wissen. Technik. Sozialismus. Eine Streitschrift.