Wie leicht war es, mitzugrölen, als Fat Mike – Sänger der jahrzehntealten Band No Fx – die Zeilen »Don‘t call me white!« anstimmte. Und wenn dann der Smash-Hit Kill all the white man gleich hinterher kam, dessen Text in einem betont »afrikanischen« Akzent gesungen wurde, dann wusste man landauf landab, dass man auch auf der richtigen Seite pogen konnte. Ernst genommen wurden die ironischen und in drei Akkorde verpackten Gewaltphantasien des kalifornischen Punkbarden freilich nicht. Der Wunsch allerdings, nicht »weiß« sein zu wollen und die Überzeugung, dass »Weiße« ein politisches oder gar welthistorisches Problem darstellen, sind heute immer noch überaus verbreitet. Beschrieb man früher die Gesellschaft vornehmlich als ungerecht und ausbeuterisch, werden nun verstärkt die auf das Subjekt zielenden Kategorien des »Weißseins« und des »Privilegs« zur Erklärung sozialer Ungleichheit herangezogen. Nicht entlang ökonomischer Grenzen verlaufen in dieser Logik die wesentlichen Konfliktlinien, sondern entlang von »Kultur«, Herkunft und Hautfarbe. Stichwortgeberin dieser Positionen ist eine Denkströmung, deren Ursprünge in den 1970er und 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten liegen und deren Name inzwischen nicht nur an den Universitäten, sondern im Kulturbetrieb, dem Feuilleton und nicht zuletzt der radikalen Linken bekannt ist: die Critical Whiteness Studies.
Mehrere akademische und gesellschaftspolitische Entwicklungen begünstigten die Entstehung, den Aufstieg und schließlich auch den Export dieser Ideenformation. In der Theorie schlossen die Critical Whiteness Studies vor allem an konstruktivistische Entwürfe an, deren Anspruch es war, einen »modernen« Rassismus zu begreifen, dessen Grundlage kein plumper Biologismus mehr war. Mit dem linguistic turn seit den späten 1960er Jahren wurde darüber hinaus die Sprache nicht nur als wesentliches Medium der Weltaneignung, sondern als realitäts- und subjektkonstruierende Macht verstanden. Im Nachgang der Bürgerrechtsbewegungen hatten in den Vereinigten Staaten viele vormals marginalisierte Gruppen Zugang zu den Universitäten gefunden und dort oftmals zu Recht auf die Einseitigkeit des literarischen oder philosophischen Kanons hingewiesen. Sowohl in den amerikanischen Women Studies, den Black Studies und den sogenannten Critical Race Studies institutionalisierten sich jene Initiativen und verbanden sich zunehmend mit den identitätspolitischen Nachfolgern der New Left der 1960er Jahre. Zwar waren die Thesen der Critical Whiteness Studies nicht neu, dennoch schien die Kritik an der oftmals paternalistischen Arbeit antirassistischer Gruppen, denen die Opfer von Rassismus lediglich als Objekte ihres eigenen Gutmenschentums galten, sowie an der Angewohnheit, sich selbst von der Analyse rassistischer Phänomene auszunehmen, den Bedürfnissen des Zeitgeistes zu entsprechen. Vor dem Hintergrund, dass sich auch die Gesellschaft jenseits der Universität dynamisierte und frühere Grenzen zwischen Teilen der Bevölkerung zu verschwimmen begannen, schien Critical Whiteness nicht nur passende Analysen, sondern als alltagspraktische Etikette auch konkrete Orientierung im Umgang mit unterschiedlichen Erfahrungen und Herkünften zu liefern.
Mit Verspätung und in abgeschwächter Form, doch in einer zunächst ähnlichen Konstellation, wurde Critical Whiteness in den letzten 20 Jahren auch in Deutschland populär. Auch hier begannen diskriminierte Gruppen, sich zunehmend selbst zu organisieren, und auch hier hatte die antirassistische Bewegung nach den turbulenten frühen Neunzigern zwar nicht an Aufgabenfeldern, aber mindestens an Öffentlichkeit und Dynamik eingebüßt. Zugleich wuchs innerhalb der Antira-Szene das Bewusstsein, dass man sich den »Unterdrückten dieser Erde« oft hauptsächlich um des eigenen Gewissens Willen angenommen hatte, ohne die eigenen Projektionen zu hinterfragen. Soziale Mobilität sorgte dafür, dass umso deutlicher wurde, wo trotz formaler Gleichstellung eindeutige Benachteiligung herrschte; die weiterhin elende Situation von MigrantInnen und Flüchtlingen war nur das offensichtlichste von vielen Beispielen. Verständlich war und ist darum die Wut all jener, die nicht in das Bild der deutschen Mehrheit passen, deren Zumutungen persönlicher und institutioneller Art sie ständig ausgesetzt sind. Weg vom dumpfen Rassismus der offensichtlichen Nazis, verschob sich nun der Fokus auf dessen feingliedrige, subtile Alltagserscheinung: das Lob des guten Deutsch, der penetrante Griff in die Haare und dergleichen mehr. Die Arroganz der Wohlmeinenden und ihre aufgeklärte Übergriffigkeit schienen von einer anderen Qualität als das platte Vorurteil und die nackte Gewalt; der Brutalität von letzterem stand das paternalistische Gönnertum von ersterem gegenüber. Gründe für ein schlechtes Gewissen auf Seiten derer, die nichts anderes kennen, als in der Mehrheit zu sein, gab und gibt es also genug. Nicht nur, weil den meisten, die bevorzugt für Andere sprechen, tatsächlich ein vergleichsweise angenehmes Leben beschert ist, sondern weil unbewusst noch präsent ist, dass dem aufgeklärten Urteil einmal das Vorurteil voranging.
Es war dieses gesellschaftliche Klima, auf das Critical Whiteness reagierte und in dem es populär wurde. Anders als in den Vereinigten Staaten gab es in Deutschland allerdings keine Sklaverei, sondern ein koloniales Erbe, das erst in letzter Zeit vermehrt aufgearbeitet wird. Auch der hierzulande existierende Rassismus war nicht in demselben Maß institutionalisiert wie auf der anderen Seite des Ozeans. Anspruch der inzwischen zur akademischen Subdisziplin institutionalisierten Kritischen Weißseinsforschung ist es seitdem, die Critical Whiteness Studies in einer für deutsche Verhältnisse angemessenen Weise zu reformulieren. Erfolg hatte die Verbreitung ihrer zentralen Begriffe und Thesen allemal; auch ohne Kenntnis der entsprechenden Theorien sind die Rede von Privilegien, Weißsein und die Zusammenfassung aller möglichen nicht-deutschen bzw. nicht-europäischen Herkünfte unter die Rubrik »People of Color« weit verbreitet.
Dass es sich bei Critical Whiteness und Kritischer Weißseinsforschung aber um einen Fortschritt gegenüber anderen Theorien handelt oder sich Rassismus und gesellschaftliche Ungleichheit mit der Kategorie des »Weißseins« angemessen begreifen lassen, bezweifeln die Beiträge des aktuellen Schwerpunktes der Phase 2. Ein Grund für entschiedene Kritik ist dabei nicht zuletzt, dass kaum noch zu leugnen ist, wie schnell die Theorie in eine jeden Einspruch und Streit verunmöglichende Praxis umschlagen kann; der wohlmeinende Diskurs hat vor allem in der antirassistischen Linken durchaus eine schlag- und stimmkräftige Seite. Hinlänglich bekannt sind inzwischen die Ereignisse des Kölner No-Border-Camps 2012, die gewaltsame Störung einer Ausstellung des Bündnisses aktiver Fußballfans in Berlin – die Hauptstadt kann durchaus als Hochburg von Critical Whiteness gelten – oder die mal offenen, mal subtilen Drohungen, Sprechverbote und Denunziationen auf E-Mail-Verteilern, in linken Kneipen, Gruppen oder sogenannten Zusammenhängen. Paulette Gensler sieht darin eine Verlängerung antikolonialistisch legitimierter Gewalt, die auf den im Critical-Whiteness-Diskurs gern in Anspruch genommenen Denker Frantz Fanon zurückgeht. Die Verlagerung von Gesellschaftlichem ins Unbewusste ist dort ebenso angelegt, wie die Fixierung auf Sprache. Massimo Perinelli deutet den Verfall der antirassistischen Bewegung als Wiederkehr der bekannten linken Neigung zu Bekenntniszwang und autoritärer Säuberung. Eine kollektive Praxis, die Unterschiede anerkennt, aber gleichzeitig an ihrer Aufhebung arbeitet, wird damit kaum noch denkbar. »Die notwendige Beschäftigung mit der eigenen Verstrickung in Machtverhältnisse kann kippen in Richtung Selbstkasteiung«, so die antirassistische Aktion 3. Welt Saar im Interview. »Die Verhältnisse werden damit nicht verändert, die Handelnden verschaffen sich aber ein gutes Gefühl.« Mit den konkreten Auswirkungen des Critical-Whiteness-Diskurses innerhalb der Linken – beispielsweise die Praxis der Selbstverortung – setzt sich auch der Beitrag der Gruppe Subcutan kritisch auseinander. Eine ritualisierte Bekenntnispraxis führe eher zu einer »Politik des schlechten Gewissens« als zu einer Auseinandersetzung über gesellschaftliche Prozesse.
Wo Gesellschaft auf schuldbeladene, privilegierte Weiße auf der einen und mit nahezu unantastbarer Autorität ausgestatteten People of Color auf der anderen Seite reduziert wird, lässt sich kaum etwas begreifen und jenseits der Etikette – was zuweilen nicht wenig ist – kaum etwas ändern. Weder ist es in einem solchen Rahmen möglich, tatsächliche Erfahrungsunterschiede zu erkennen und ihnen dann vielleicht das Gemeinsame und Verbindende abzulauschen; noch lassen sich die grausamen Verhältnisse an den europäischen Außengrenzen, die Situation von osteuropäischen ArbeitsmigrantInnen oder jüngst die Ereignisse in Ferguson, Baltimore und Charleston sowie die anschließenden Proteste auch nur ansatzweise innerhalb von Critical Whiteness verstehen. Das würde nämlich bedeuten, in Theorie und Praxis unterscheiden zu müssen: zwischen dem nicht rassistisch, sondern ökonomisch begründeten und politisch legitimierten Grenzregime der EU, dem Fremdenhass von PEGIDA, der Finsternis ostzonaler Dorfgemeinschaften und dem aufgeklärt-rassistischen Sozialchauvinismus eines Thilo Sarrazin. Dann könnte sich möglicherweise auch erschließen, dass heute kein klassischer Rassismus mehr dominiert (was im Umkehrschluss allerdings nicht bedeutet, dass er verschwunden oder ungefährlich sei), sondern die rechts wie links anzutreffende Wahrnehmung der Welt als Ensemble von gleichermaßen Respekt und Anerkennung verdienenden Kollektiven und »Kulturen«.
Es sind vor allem Linke, bei denen der Wunsch nach »Versöhnung im Bestehenden«, so der Artikel von tagediebin, geradezu identitätsstiftend wird. Die Reflexion auf die eigenen Privilegien, so notwendig sie ist, wird zum Lippenbekenntnis, das hauptsächlich der eigenen Glaubwürdigkeit dient. Vermittels der korrekt erlernten Sprachpraxis der Critical Whiteness Studies gleichen sich die zeitgenössischen AntirassistInnen den POC an und weisen gegebenenfalls darauf hin, wenn diese sich nicht ihrer »Identität« gemäß verhalten (also Opfer eines »Whitewashing« geworden sind). Wo dann der Hinweis auf »weiße Privilegien« nicht mit Buße und Introspektion beantwortet wird, wo – wie im Beitrag von Robert Zwarg – eingewandt wird, dass die Kategorie »weiß« nicht nur kaum etwas erklärt, sondern darüber hinaus ihre Haftung ans Optische, also die Bindung an die Hautfarbe, weder in der sprachlichen Imagination noch der konkreten Praxis los wird und sich damit jenem naturalisierenden Denken annähert, das bekämpft werden soll, da sehen die VertreterInnen von Critical Whiteness schnell die »Fortschreibung rassistischer Hierarchien«. Dass der Critical-Whiteness-Diskurs mehr mit dem zu Recht verpönten Essentialismus teilt, als ihm bewusst ist, zeigt auch Mark Smith in seinem Artikel. Sowohl »Weißsein« als auch sein Gegenpol, das »Schwarzsein«, werden unter der Hand zu quasi natürlichen Eigenschaften, denen das Subjekt nicht entkommen kann und die seinen gesellschaftlichen Ort restlos determinieren. Insofern verstellen Identitätspolitik und die populäre Rede von Rasse als »gesellschaftlicher Konstruktion« mehr als sie erklären, wie Adolph L. Reed, Jr. anhand der Machart und Rezeption populärer Filme wie Django Unchained und The Help darlegt.
Der jüngste Fall, an dem die Untiefen der Identitätspolitik und des konstruktivistischen Rassebegriffs deutlich werden, entzündete sich an der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal. Jahrelang gab sich die Tochter weißer Eltern als schwarz aus und zog mittels Frisur und Bräunungscreme ihre ganz eigene Konsequenz aus der eingangs zitierten Liedzeile »Don‘t call me white«. Die Kritik der Romantisierung und schließlich der Essentialisierung trifft allerdings sowohl Dolezal als auch ihre KritikerInnen. Während Dolezal den Konstruktivismus beim Wort nahm und an der vermeintlich authentischen Erfahrung des Schwarzseins teilhaben wollte – wohl nicht zuletzt im Wissen um das moralische Fundament, das ihr Aktivismus dadurch erhalten würde, und um die Möglichkeit, gegebenenfalls »zurück wechseln« zu können –, konnten die GegnerInnen eines solchen »Identitätswandels« nichts anderes als auf ein angeblich »echtes« Schwarzsein verweisen, das Dolezal qua falscher Pigmentierung abginge. Von »echtem« Schwarzsein oder einer »echten« migrantischen Erfahrung zu sprechen, was auch die hiesige Rede über People of Color durchzieht, ist wiederum nur möglich, wo eine gleichsam ontologische Wesenhaftigkeit vorausgesetzt wird – darin besteht das Erbe dessen, was man einst Rassismus nannte. Aufwertung und Abwertung aufgrund zufälliger biologischer Eigenschaften waren schon immer zwei Seiten derselben Medaille.
Die Linke hatte Schwierigkeiten im Umgang mit Differenz vor und nachdem Critical Whiteness und Kritische Weißseinsforschung die politische Bühne betraten; beide scheinen nicht zuletzt von dem Versprechen zu leben, sich mit der richtigen Etikette und der korrekten Sprachpraxis von den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft freizumachen. Den Blick aus der Mehrheit auf die Mehrheit zu wenden, kann ebenso wenig schaden wie anzuerkennen, dass die bürgerliche Gesellschaft ihre Freiheiten und Sicherheiten durchaus ungleich verteilt. Die Perspektive aber, Rassismus und Fremdenhass zu bekämpfen, unterschiedliche Erfahrungen wahrzunehmen und sie aufzuheben – sie also zu bewahren und zu übersteigen –, ohne dabei in Romantisierung, Ontologisierung und moralisierende Schuldzuweisung zu verfallen, scheint heute ferner denn je.
Die Möglichkeit einer universalistischen Perspektive war einst im Begriff des Menschen bzw. der Menschheit enthalten. Zumindest dem normativen Gehalt nach verbarg sich darin die Forderung, die Einzelnen individuell ernst zu nehmen und unabhängig von zufälligen Naturtatsachen gleichermaßen als vernunftbegabte Gattungswesen zu behandeln. Dass aus der Idee des Universalismus historisch so manche gesellschaftliche Gruppe heraus fiel, belegt nicht nur die Emanzipationsbewegung, sondern zeigt sich auch am Schicksal der Jüdinnen und Juden, der »Minderheit par excellence«. Ein Festhalten am Universalismus ist auch deswegen geboten, weil die Wendung zum Antisemitismus und der Israelfeindschaft die äußerste Konsequenz des manichäischen, blind in Schwarz und Weiß teilenden Weltbilds von Critical Whiteness auf der Ebene des Begriffs darstellt. Was abstrakt als homogene Blöcke imaginiert wird, drängt schließlich zur Konkretion und Personifizierung. In diesem Sinne rief die mit allen Wassern der Critical Whiteness gewaschene, französische Theoretikerin Houria Bouteldja die indigènes dieser Welt dazu auf, der »weißen Ideologie des Universalismus, der Menschenrechte und der Aufklärung« zu widerstehen und lobte den französischen, antisemitischen Komiker Dieudonné für dessen klare Feindbestimmung: »der Jude als Jude, der Jude als Zionist, als Verkörperung des Imperialismus und der Jude aufgrund seiner privilegierten Position.«Zit. nach 0cn.de/gyir [Übers. die Redaktion]. Das verbindet Critical Whiteness mit dem traditionellen Antiimperialismus, dessen abstrakter Gegenüberstellung von Gut und Böse und seiner Liebe zu den »Unterdrückten dieser Erde«. Wenn es der Linken aber um mehr gehen soll, als um Schuldzuweisung und moralische Bekenntnisse, wenn sie es stattdessen als ihre Aufgabe ansieht, den Universalismus zu verteidigen, den sie sich einmal auf die Fahnen schrieb, und auch bei den besten aller Absichten misstrauisch zu sein, wenn es ihr schlussendlich nicht um Kollektive, sondern das Individuum geht, dann ist bei Critical Whiteness allenthalben Kritik angebracht.
Phase 2 Leipzig