Wolfgang Fritz Haug ist Gründungsherausgeber von Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, die im Kontext der Kampf dem Atomtod-Bewegung Ende der fünfziger Jahre entstand, und Mitgründer des Berliner Instituts für Kritische Theorie. Er unterrichtete lange Zeit Philosophie mit dem Schwerpunkt marxistische Theorie an der Berliner FU und gibt seit 1994 das Kritische Wörterbuch des Marxismus heraus. Phase 2 befragt ihn zur Gründungsphase des Arguments und zu seiner Einschätzung der historischen wie aktuellen Antiatombewegung.
Phase 2: Auf der Startseite des von Ihnen gegründeten Berliner Instituts für kritische Theorie sind aus aktuellem Anlass zwei alte Ausgaben der ebenfalls von Ihnen gegründeten Zeitschrift Das Argument aus den Jahren 1960/61 mit den Titeln Die atomare Situation I und II verlinkt. Können Sie uns zunächst einmal kurz die Entstehungsgeschichte der Zeitschrift aus der Kampf dem Atomtod-Bewegung, wie sich die Protestbewegung gegen eine nukleare Bewaffnung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren nannte, skizzieren?
Wolfgang Fritz Haug: Margherita von Brentano, bei der ich ein Husserl-Seminar besuchte, hatte mich zu einem Treffen der Studentengruppe gegen Atomrüstung an der FU mitgenommen. Das war nach dem Anti-Atomkongress vom Jahreswechsel 1958/1959 und die Organisationsgruppe hing vermutlich erschöpft in den Seilen. Als geklagt wurde, die argumente genannte Flugblattreihe der Gruppe, die neben anderen Ulrike Meinhof gemacht hatte, sei verwaist und niemand sich meldete, hob ich den Finger. So entstand eine Reihe von Flugblättern mit dem Titel Das Argument. In der Folge entstanden verschiedenste Projekte, beginnend mit dem Argument-Kreis, den Brentano ins Leben gerufen und mit einem Programm für intellektuelles Engagement ausgestattet hatte. Ohne zu wissen, wie mir geschah, wurde ich zum Katalysator. Der mit aller Grausamkeit ausgetragene Endkampf des französischen Kolonialismus in Algerien bildete den Anstoß für eine erste Argument-Ausgabe in Heftform. Der Auseinandersetzung mit dem neu aufflammenden Antisemitismus an der Jahreswende 1959/1960, gegen den ich zum ersten Mal eine Demonstration mit anschließender Tagung mitorganisierte, widmeten wir ein zweites Heft. Von da an trieb die überwiegend feindliche Reaktion im Westberliner Umfeld uns von heißem Eisen zu heißem Eisen – und nicht zuletzt zum Thema des Faschismus, der im Postfaschismus der fünfziger Jahre noch dumpf nachwirkte. Es folgten mit der Faschismusfrage zusammenhängende Themen wie »Massenmedien und Manipulation«, »Schule und Erziehung«, »Sexualität und Herrschaft«, bald darauf das Engagement gegen den Vietnamkrieg. Dazwischen interessierten uns immer wieder auch Fragen der gesellschaftlichen Relevanz von Wissenschaft. Die Diskussion von Marx rückte mehr und mehr ins Zentrum des Interesses. So entstand die inzwischen ihrem 54. Jahr entgegengehende Zeitschrift.
Phase 2: Im obengenannten Heft sprach der Schriftsteller und Philosoph Günther Anders, dessen Schriften die Kampf dem Atomtod-Bewegung stark beeinflussten, vom »Weltzustand Hiroshima« – eine recht apokalyptische Deutung der Zeit nach 1945. Inwiefern kann man als marxistische/r Intellektuelle/r diesen Geschichtspessimismus teilen. Wie würden sie das Verhältnis von marxistischer Gesellschaftskritik und antiatomarem apokalyptischem Denken beschreiben?
Wolfgang Fritz Haug: Die beiden damals folgenden Hefte betitelten wir Die Atomare Situation. Diese Situation bestand darin, dass die Zerstörungsmittel eine Dimension erreicht hatten, die, wie Brentano argumentierte, jede menschliche Mittel-Zweck-Beziehung sprengte. Die Selbstauslöschung der Menschheit war herstellbar geworden. Diese Situation besteht seither fort. Sie gehört zu den Determinanten des Weltzustands. Ich hatte damals noch keine marxistische Bildung. Erst später entdeckte ich, dass der Umschlag von Produktivkräften in Destruktivkräfte bei Marx und Engels, die diesen Begriff wohl sogar geprägt haben, bereits vorgedacht ist. Die Hauptströmungen des Marxismus, denen das bisher entgangen war, mussten dazulernen. Die Antiatombewegung aber konnte von ihnen oder besser noch von Marx lernen, ihre Forderung als eine zu begreifen, die in ein gesellschaftsveränderndes Projekt einzubetten war. In Günther Anders’ Antiquiertheit des Menschen von 1956, dazu in den Schriften der Frankfurter Schule war vieles von dieser Erkenntnis präsent, wenn auch in einer verqueren Beziehung zur Praxis und zum Teil versteckt. Die 1947 in Amsterdam erschienene Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, die ich mir von meinen Eltern schenken ließ, sowie die 1961 erscheinende erste Sammlung von Texten Walter Benjamins mit dem Titel Illuminationen und seine dort publizierten geschichtsphilosophischen Thesen lieferten die theoretische Grundlage für den Bruch mit der Forschrittsideologie.
Phase 2: Würden Sie sagen, dass die frühe Antiatombewegung einen kompensatorischen Charakter hatte, was die jüngste nationalsozialistische Vergangenheit anging? Die Demonstrationen der späten fünfziger Jahre wurden von mehreren hunderttausend Menschen besucht und von breiten politischen Bündnissen nicht nur, aber auch aus der politischen Linken getragen. Eine solchermaßen vereinigte Linke hatte es in Opposition gegen den Nationalsozialismus nicht gegeben. Inwiefern würden Sie in der Rede von der »atomaren Menschheitsvernichtung« auch eine Überlagerung der nationalsozialistischen Judenvernichtung sehen. Diese Engführung wird zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb der Antiatombewegung expliziter, wenn z.B. Hans Magnus Enzensberger von der atomaren »Endlösung von morgen« schreibt oder Plakate den Slogan »Atomarer Holocaust« tragen.
Wolfgang Fritz Haug: Es ist wahr, Joschka Fischer hat mit einer Begründung im Sinne von »Wir haben damals zu Auschwitz geschwiegen…« die Teilnahme am Krieg gegen Jugoslawien propagiert. Aber es ist völliger Unsinn, etwas Ähnliches auf die fünfziger und frühen sechziger Jahre zurück zu projizieren. Man muss nur im Impressum der frühen Argument-Hefte die Liste der Persönlichkeiten ansehen, die das Projekt mittrugen: Was vom Widerstand gegen den Nazismus und von den Verfolgten noch am Leben und aktiv war, hatte sich da versammelt. Allerdings kann ich nur für die Westberliner Szene sprechen und auch hier erst für die Zeit ab 1959, als die SPD und der DGB die Kampagne wieder fallen ließen, just als ich auf Vorschlag von Margherita von Brentano und Helmut Gollwitzer zum Sekretär des Westberliner Ausschusses Kampf dem Atomtod ernannt wurde. Im Übrigen war für mich, der ich den Zusammenbruch des »Dritten Reichs« als Neunjähriger in einer unzerstörten Kleinstadt erlebt und in Familie und Schule nie von den nationalsozialistischen Verbrechen erfahren hatte, die spätere Konfrontation mit diesen entscheidend. Als ich die französische Filmdokumentation Nacht und Nebel von Alain Resnais im Rahmen einer Woche des antifaschistischen Films zum ersten Mal sah, traf es mich wie ein Schlag. Daran hat sich eine allgemeine Sensibilität und Widerstandsbereitschaft geschärft. Überhaupt kann man das Lernen aus vergangenen Niederlagen nicht als Kompensation, sprich: Heuchelei heruntermachen.
Phase2: Im ersten Band der Antiquiertheit des Menschen von Günther Anders, in der es um die Beschreibung der conditio humana im Angesicht der Atombombe geht, tauchen auch die nationalsozialistischen Vernichtungslager auf. Anders schreibt, dass in den Lagern alle Menschen tötbar geworden seien, mit der Atombombe jedoch die Menschheit als Ganze. Wurde dieser Ereigniszusammenhang in der Antiatombewegung diskutiert?
Wolfgang Fritz Haug: Es geht dabei nicht um einen Ereigniszusammenhang. Um Anders zu verstehen, der Husserl- und Heidegger-Schüler war, muss man sich auf philosophisches Denken einlassen. Dieses strebt rücksichtslose Aussagen an, ohne Diplomatie und Kompromiss, die dem Alltagsverstand fremd sind. So die ontologische Aussage, dass durch die nukleare Destruktivkraft die Menschheit mitsamt ihrer Geschichte und ihrem Biotop vernichtbar geworden ist und damit von nun an im »Noch-nicht« der Vernichtung existiert. Das macht den Sinn des kritisch-existenzphilosophischen Begriffs der atomaren Situation aus.
Ich möchte eine Begebenheit schildern, die ein Licht darauf wirft, dass es zum Problem wurde, dass Das Argument sich aus den Blättern der Westberliner Studentengruppen gegen Atomrüstung zur Zeitschrift mauserte, zunächst mit dem Untertitel Blätter für Politik und Kultur und dann, im Mai 1960 mit der Ausgabe zur Überwindung des Antisemitismus, mit dem Untertitel Berliner Hefte für Politik und Kultur. Einer unserer bisherigen Unterstützer hielt es zwar »im Prinzip für gut«, wie er schrieb, »dass sich das Argument mit dem Antisemitismus und dem Algerienkrieg auseinandersetzt, aber ist es nötig, dass dafür ein ganzes Heft geopfert wird?« Für die Zeitschrift antwortete Dietrich Goldschmidt: »Wir sehen uns als Antiatombewegung […] vor dem moralischen und politischen Zwang, praktikable humane Alternativen für friedliche Lösungen zu entwickeln«, was unmöglich sei ohne die »grundsätzliche allgemeine politische Besinnung — sei es über deutsche Fragen wie den Nationalsozialismus und den inhumanen Antisemitismus, sei es über den Algerienkrieg und über die großen Probleme zwischen Ost und West sowie der asiatischen und afrikanischen Völker.« So kann man es nachlesen in Argument 17 vom Oktober 1960. Drei oder vier Jahre später fand am Philosophischen Seminar der Freien Universität das berühmte Antisemitismus-Seminar unter der Leitung von Margherita von Brentano und Peter Furth statt, das für die Beteiligten prägend geworden ist wie kein zweites.
Phase 2: Wolfgang Pohrt schrieb angesichts der Pershing-Proteste 1981: »Wir leiden – im Atomzeitalter eilen die Kriegsfolgen dem Krieg voraus – an ihren vorweggenommenen Folgeschäden«. Er sah in der Friedensbewegung eine »deutschnationale Erweckungsbewegung«. Inwiefern sehen sie in der Antiatombewegung historisch wie auch ideologisch eine deutsche Spezifik?
Wolfgang Fritz Haug: Das ist schlicht Quatsch. Seit 1950 mobilisierte die Weltfriedensbewegung gegen Atomrüstung. In England hat 1955 Bertrand Russell zur Ächtung der Atomwaffen aufgerufen. Ein Jahr später sollte die Bundeswehr von den USA mit »taktischen« Atomwaffen ausgerüstet werden. Dagegen stellten 1957 SPD und Gewerkschaften im Bündnis mit der kritischen Intelligenz und Teilen der Kirchen die Kampagne Kampf dem Atomtod auf die Beine. 1958 kam aus England die Inspiration zu den Ostermärschen, ausgehend vom Demonstrationszug zum Atomforschungszentrum Aldermaston im April 1958. Eine Rede Russells wurde in einer der frühen Argument-Ausgaben von 1959 veröffentlicht.
Phase2: Noch einmal zurück zu den Argument-Heften der sechziger Jahre. Finden Sie, man kann angesichts der Katastrophe von Fukushima tatsächlich die Argumentationen der frühen sechziger Jahre aktualisieren? Das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, Atomtests und die Risiken der Nuklearenergie samt der atomaren Super-GAUs sind politisch gesehen erst einmal recht unterschiedliche Sachverhalte. Dennoch scheint es ja eher eine Kontinuität als eine Differenzierung in der Kritik der Protestbewegungen zu geben, was den Aspekt einer abstrakten Bedrohungs- bzw. Todesvorstellung und die Vorstellung der Menschheitsvernichtung angeht. Wie erklären Sie sich diese »Anthropologisierung« des Protests?
Wolfgang Fritz Haug: Ich weiß nicht, was »Anthropologisierung des Protests« bedeuten soll. Alles, was wir Menschen tun, ist »anthropologisiert«. Den Protest der Antiatombewegung darf man nicht schlechtreden. Eher sollte man die gedankliche Konsequenz bewundern, mit der diese Bewegung die faulen Kompromisse zurückwies und es in ihren neu entstandenen Formen wieder tut. Niemand wird behaupten, dass explodierende Atomreaktoren dasselbe sind wie der Abwurf von Atombomben auf Großstädte. Die beiden Fälle unterscheiden sich wie ein bewusst eingegangenes Verstrahlungsrisiko von gewollter Massenvernichtung oder wie die Wahrscheinlichkeit einer Tatsache von der Tatsache selbst. Im ersten Fall gibt es zuordenbare Subjekte, im zweiten verstecken sich die Subjekte hinter Risikokalkülen. In beiden Fällen werden Mittel eingesetzt, deren Auswirkungen jeden menschlichen Horizont überschreiten.
Phase2: Wie stehen Sie zu den Äußerungsformen der Proteste, wie sie sich anlässlich der Reaktorkatastrophe von Fukushima formiert haben? Die Solidaritätsbekundungen mit den Opfern des Tsunamis in Japan wurde schnell überdeckt von einer irrationalen Angst vor dem hiesigen Atomtod, als deren zukünftiges Opfer man sich halluzinierte.
Wolfgang Fritz Haug: Tote betrauern wir, für eine Solidarisierung mit ihnen ist es zu spät. Die Solidarität gilt den Überlebenden, deren Heimat sich — in menschlichen Maßen ausgedrückt — für immer in ein Sperrgebiet verwandelt hat. Das ist nicht die Folge des Tsunamis, sondern der Nukleartechnik. Zur Reaktorkatastrophe von Fukushima habe ich im Editorial zu Argument 291 im Anschluss an Günther Anders geschrieben: »Was die Vorstellbarkeit übertrifft, darf nicht hergestellt werden. Das ist der kategorische Imperativ des Atomzeitalters, zu dem das Zeitalter der Bio- und Nanotechnologien hinzugekommen ist. Was über den Kontrollraum hinausreicht, kommt nicht in Frage.« Wer diesen kategorischen Imperativ irrational nennt, weiß nicht, was Rationalität ist. Sie lässt sich nicht trennen von der teleologischen Struktur menschlichen Handelns.
Phase2: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.