Es hätte alles so schön sein können: »Insgesamt haben über 15.000 Leute den Protest gegen die von Deutschland und der Troika betriebene Verarmungspolitik mehrere Tage lang öffentlichkeitswirksam in eines der politischen Zentren des europäischen Krisenregimes getragen«, heißt es im Auswertungspapier der Autonomen Antifa [F] zur Blockupy-Demonstration am 1. Juni 2013 in Frankfurt am Main. »Entscheidend für diesen Erfolg«, so steht weiter geschrieben, »war neben der Offenheit für eine radikale Kapitalismuskritik vor allem das solidarische Nebeneinander unterschiedlicher Aktionsformen.«
Mit der Unterstützung der Aktionstage im Juni 2013 setzte das Kommunistische Bündnis …umsGanze! seine frühere Zusammenarbeit mit dem Blockupy-Bündnis fort – eine Entscheidung, die intern umstritten war. Blockupy, das waren zu dieser Zeit neben …umsGanze! unter anderem auch die Interventionistische Linke, der Revolutionäre Sozialistische Bund, Attac, Verdi und die Partei Die Linke. Vorangetrieben hatte die Beteiligung die Antifa [F], gebremst hatte die erst neulich ins Bündnis eingetretene Leipziger Gruppe the future is unwritten. Als einzige Gruppe des Bündnisses verzichtete sie sowohl auf die Teilnahme als auch auf die Mobilisierung. In einem erklärenden Text, der in der ersten Ausgabe der …umsGanze!-Zeitschrift mole erschien, wandte sie sich gegen eine derartige »Appellpolitik«, die »aus kommunistischer Perspektive immer fragwürdig« sei. In dem Text begründet sie ihre Skepsis gegen Eventpolitik und Massenbündnissen, in denen die eigene Position unscharf würde und in der Zielstellung und Außenwahrnehmung der Masse verschwinde. Zwar sei eine – individuelle – Beteiligung an derartigen Aktionen »erstmal nicht verwerflich«, aber sie sei letztendlich »viel profaner als das Gerede vom ›gesellschaftliche Wiedersprüche offenlegen‹ im ›Herzen der Bestie‹ und der ganze pseudostrategische Kram, den man bei solchen Events in der Regel lesen muss.«
Für die Antifa [F] war das ein Affront gegen die Parteidisziplin, der nicht unwidersprochen blieb. In einem Beitrag in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift mole begründete sie ihre Politik einer strategischen »Diskursverschiebung«, die immer auch einen »Kampf um Bedeutungen und Symbolen« beinhalte. Im szenetypischen Jargon des Imperativs heißt es weiter: »Daher muss gerade eine Kritik ums Ganze, will sie sich nicht mit einer folgenlosen Phraseologie begnügen, eine strategische Bestimmung der historischen Situation leisten.« Die »folgenlose Phraseologie« verortet die Antifa [F] bei all jenen, die sich ihren eigenen Aktionsformen entziehen, so unter anderem auch bei der Leipziger Gruppe the future is unwritten: Ihnen wird attestiert, sich selbst nicht ernst zu nehmen, das »identitäre Distinktionsbedürfnis« über die »gesellschaftliche Wirksamkeit« zu stellen und sich nicht zuletzt »in der kritischen Pose des Bescheidwissens [zu] gefallen«, anstatt der »Kritik ums Ganze« zu frönen. Dieser Vorwurf hat mit der inhaltlichen Auseinandersetzung der LeipzigerInnen zwar relativ wenig zu tun, besitzt jedoch einen schönen martialischen Klang, der in der radikalen Linken gut ankommt. Auch im bereits zitierten Auswertungspapier wird eine Endzeitsituation herbeigeredet, die nur noch zwei Alternativen zulasse: mitmachen oder untergehen. »Begibt sich die radikale Linke hier nicht ins Getümmel […] existiert sie gesellschaftlich nicht und ist faktisch überflüssig«. Als Gegenüber wird dabei eine »Identitätslinke« imaginiert, der »die Selbstverortung und das Standing in der Szene« zum wichtigsten Politikgrund gereiche.
Auf dem …umsGanze!-Kongress vom 5. bis 7. Juli 2013 wurde die Diskussion im Rahmen des Workshops »Spektakel und Handgemenge …ums Ganze! diskutiert mit … ums Ganze!« zwischen je einem Vertreter der Antifa [F] und the future is unwritten fortgeführt. Aufgrund fehlender Mitschnitte lässt sich zwar wenig zitieren, der Tenor des Frankfurter Vertreters war jedoch deutlich: Ein Bündnis wie …umsGanze! sei nicht dazu da, verschiedene Positionen zu vertreten, sondern eine gemeinsame Position zu erarbeiten und im Zweifel auch gegen die eigene Überzeugung diese Position nach außen zu vertreten. Ansonsten sei man eben: »gesellschaftlich überflüssig«.
Der hier zutage getretene Konflikt findet auf zwei Ebenen statt. Einerseits steht er für den Versuch der Antifa [F], zur ideologisch und organisatorisch führenden Gruppe des Bündnisses zu werden und gleichzeitig jegliche Kritik daran zu delegitimieren. Andererseits ist der hier ausgebrochene Konflikt nur das letzte Bespiel einer beinahe 25-jährigen Geschichte eines ost-westlinken Missverständnisses. Dieses besteht wesentlich, so soll im Folgenden gezeigt werden, in den politischen Erfahrungen der Ostlinken der vergangenen fast 30 Jahre, die sich gegen die traditionslinken Organisierungs- und Vereinnahmungsstrategien der Westlinken sperren.
Die Crux mit den Ossis
Begonnen hatte alles bereits 1989/1990, als die Linke der Bundesrepublik noch damit haderte, ob man den bevorstehenden Untergang der DDR nun gutheißen oder verhindern sollte, während die gerade im Entstehen begriffene ostdeutsche Linke ohne langes Überlegen wusste: Weg damit! Als die westdeutsche Linke begann, sich in Antinationale/Antideutsche und AntiimperialistInnen aufzufächern, waren ostdeutsche Linke faktisch nicht beteiligt. Die OrganisatorInnen der »Nie wieder Deutschland«-Demonstrationen 1990 kamen nahezu ausschließlich aus der alten Bundesrepublik. Die Linken aus dem Osten hatten gänzlich andere Sorgen, nämlich die explosionsartige Formierung eines ostdeutschen Mobs bestehend aus NationalistInnen, RassistInnen und Nazis und vor allem eine exzessive, bisweilen tödliche Straßengewalt. Zum Nachdenken blieb buchstäblich kaum Zeit. Antinaziarbeit, die zum Großteil aus militantem Selbstschutz bestand, war keine strategische Entscheidung, sondern unmittelbare Notwendigkeit.
Der Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 brachte den aus einer Melange aus rassistischer Bevölkerung, Naziübergriffen und einer überforderten Staatsgewalt bestehenden ostdeutschen Normalzustand ins Bewusstsein der nun gesamtdeutschen Öffentlichkeit. Die Westlinke reagierte. In mehreren Städten, vor allem in Hamburg, gründeten sich die Wohlfahrtsausschüsse aus der Einsicht heraus, dass eine »kaum verhüllte große Koalition aus Parlament, Naziterror, Normalbürgern, Polizei und Medien in einem zynischen Zusammenspiel gemeinsam mit der ›Lösung der Asylantenfrage‹ beschäftigt war.« In den Wohlfahrtsausschüssen waren überwiegend linke KünstlerInnen, aber auch andere politisch aktive Linke zusammengeschlossen. Ein zweifelhafter Höhepunkt war dabei die »Ostdeutschland-Tour« von Hamburg nach Rostock, Dresden und Leipzig, die auf Seiten der Wohlfahrtsausschüsse das Ziel verfolgte, mit der ostdeutschen Linken ins Gespräch zu kommen. Die Reise entwickelte sich jedoch zu einem großen Desaster. Die Enttäuschung der IntiatorInnen gab später Andreas Fanizadeh im Vorwort zum Buch Etwas Besseres als die Nation Ausdruck: »Theoriediskussion in Zentren östlicher Subkultur? Die linke Szene hatte, mit Ausnahme in Leipzig, kein Interesse. Die Konzerte am Abend: was labern die Musiker da rum? Lauter, schneller, härter! Mit vielem hatten die Organisatoren von ›Etwas Besseres als die Nation‹ gerechnet, nicht aber mit dieser grenzenlosen Gleichgültigkeit. Man lief ins Leere.«
Leipzig war zwar die Ausnahme, weil dort wenigstens eine Diskussion stattfand, aber eigentlich wurde es für die WohlfahrtsausschüsslerInnen hier erst richtig gruselig. Man sprach zwar mit dem seltsamen Besuch aus dem Westen, begriff deren Mission aber dennoch als arrogante Anmaßung. Die Gruppe Druck, aus der später die linke Monatsschrift klarofix hervorging, verlas zu Anfang eine Erklärung, in der sie das Verhältnis der Leipziger Linken zur rassistischen Bevölkerung und zur Naziszene zu erklären versuchten: »Auch wenn hier wirklich nicht die tollste Atmosphäre herrscht, handelt es sich doch einfach um Leute und ihre Ausdrucksweisen, die hier schon immer leben, unsere Eltern, Arbeitskollegen, Hausnachbarn usw. Viele von den sogenannten aktiven Faschisten kennt mensch noch aus der Schule oder dem Buddelkasten. […] Hören wir die ›Wessis‹ über den Osten sprechen, ist es, als glaubten sie, daß hier schon der absolute Terror auf den Straßen herrscht.« Die »Wessis« trauten ihren Ohren nicht: »Gleiche opportunistische Entschuldungsfloskeln kann ›mensch‹ im Westen regelmäßig hören«, kommentierte Fanizadeh die zitierte Aussage der Gruppe Druck, »so sich Kommunal- und Außenpolitiker nach rassistischen Überfällen in der Hauptsache um das Ansehen, sprich die Wirtschaftskraft, ihrer Gemeinden sorgen.« Aus Fanizadehs Kommentar spricht die pure Verachtung für dieses hinterwäldlerische Pack dort am Leipziger Stadtrand, dem Szenetreff Conne Island. Niemand hier würde die Lage verstehen, stattdessen: »Bequemer ist es, in die Rolle der vom Westen überrollten Opfer zu schlüpfen und sich treudoofe Sorgen ums Bild des heimatlichen Ostens zu machen.«
Dabei hatten die LeipzigerInnen doch gar nicht so unrecht. RassistInnen und Nazis – das waren nicht die anderen, das war im Osten des Jahres 1992 die Mitte der Gesellschaft, das waren Alltag, Familie oder ehemaliger Freundeskreis – ehemalig, das konnte damals nicht selten nur wenige Tage heißen. Und dass der Osten überrollt wurde, nunja, worauf diese Wahrnehmung beruhen könnte, darauf gibt selbst Fanizadeh einen Hinweis. »Richtig geschmacklos« sei es schon gewesen, mit mehreren Bussen in Dresden einzufallen, um dort Flugblätter mit der Aufschrift »Bomber Harris, do it again« zu verteilen und somit zur Bombardierung der Elbmetropole aufzurufen. Sei’s drum, »der Versuch des Hamburger Wohlfahrtsausschuss, die Zusammenarbeit zwischen Linksradikalen im Westen und im Osten Deutschlands zu verbessern«, konstatierte Fanizadeh, sei »also gründlich gescheitert.« Hier wie dort hinterließ die Tour ungläubiges Staunen über die »verrückten Linken« aus dem je anderen Teil Deutschlands.
Der gesamtdeutsche Ausnahmezustand Anfang der neunziger Jahre führte auch bei der autonomen Linken zu Reaktionen. Die Göttinger Autonome Antifa [M] initiierte eine strategische Diskussion mit dem Ziel, die »autonome Restszene (aber auch neue Antifagruppen) in einem gemeinsamen Projekt auf antiimperialistischer Basis zu organisieren.« Im Sommer 1991 fand ein erstes großes Treffen statt, auf dem die Gründung einer »bundesweiten« Organisation faktisch beschlossen wurde. Sowohl der antiimperialistische Ansatz als auch die straffe Organisationsstruktur, die von den GöttingerInnen eingebracht wurden, sorgten von Anfang an für Missstimmung bei verschiedenen Gruppen. Dennoch wurde mit dem Argument der Dringlichkeit im Juli 1992 in Wuppertal die Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) gegründet. Es gab zwar kein Programm, keine gemeinsame inhaltliche Grundausrichtung, aber eine gut strukturierte Organisation. Verschiedenen Gruppen ging das deutlich zu schnell und so erlebte die AA/BO bereits im Frühjahr 1993 ihre erste faktische Spaltung. Mehrere Gruppen traten aus, die wenig später den losen Mobilisierungs- und Diskussionszusammenhang Bundesweites Antifatreffen (BAT) gründeten. In der AA/BO verblieben die Autonome Antifa [M], die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB), die Antifaschistische Aktion Passau, die Antifaschistische Gruppe Hamburg (AGH) und sieben weitere Gruppen. Aus dem Osten war keine dabei.
Daran sollte sich im Großen und Ganzen auch in der Zukunft nichts ändern. Frühzeitig beteiligte sich zwar an der AA/BO die Gruppe Schwarzer Ast – Südthüringen, die sich jedoch alsbald wieder auflöste und von der Antifaschistischen Aktion Plauen (AAP) ersetzt wurde. Aber auch die AAP hielt es nicht lange in der AA/BO und so verließ sie schon nach kurzer Zeit wieder den autonomen Organisationszusammenhang. Größere Attraktivität für die Ostgruppen entfaltete hingegen das BAT. Inhaltlich waren sich beide Bündnisse durchaus ähnlich und konzentrierten sich maßgeblich auf die Antifaarbeit. Während jedoch in der AA/BO eine klare Organisationsstruktur herrschte, denen sich die Mitgliedsgruppen zu unterwerfen hatten (wöchentliches Treffen, Arbeitsgruppen, mehrere bundesweite Treffen pro Jahr etc.), war das BAT eher als Austausch- und Koordinationsstruktur der beteiligten Gruppen gedacht.
In den fast zehn Jahren des Bestehens der AA/BO erlangten einige Gruppen aus dem Osten den sogenannten »Beobachterstatus«, wie z.B. die Antifaschistische Aktion Dresden oder das Bündnis gegen Rechts Leipzig (BgR). Mitgliedsstatus erreichte jedoch nur die von 1999 bis 2000 existierende Rote Antifaschistische Aktion Leipzig (RAAL). 1999 startete die mittlerweile schwächelnde AA/BO einen letzten großen Versuch, die Organisierung auf eine breitere Basis zu stellen und ihr eigenes Überleben zu sichern. Die sogenannte »Antifa-Offensive« wurde ausgerufen, an der sich bundesweit ca. 40 Gruppen beteiligten, diesmal sogar einige Gruppen aus dem Osten. Den Verfall der autonomen Antifabewegung konnte aber auch dieser Versuch nicht mehr aufhalten. Ein reichliches Jahr später begannen in Leipzig, Göttingen und Berlin die Planungen zur Auflösung der AA/BO, die 2001 auf dem Antifa-Kongress »Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen« in Göttingen vollzogen wurde. Federführend dabei war die Leipziger Gruppe BgR, die mit der Auflösung aber noch das Ziel verband, einen neuen, gemeinsamen Organisationszusammenhang zu etablieren, der über die Antinazipolitik hinausgehen sollte. Davon blieb außer der im Vorfeld des Kongresses gegründeten Zeitschrift Phase 2 jedoch nichts übrig.
Es sollte fünf Jahre dauern, bis die radikale Linke einen erneuten Anlauf zu einer bundesweiten Organisierung unternahm. Die großen Gruppen der neunziger Jahre hatten sich weitestgehend aufgelöst oder waren in die Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die drei Organisatorinnen des Antifa-Kongresses in Göttingen, AAB, AA [M] und BgR, gab es nicht mehr, als im Jahr 2006 das Kommunistische Bündnis …ums Ganze! gegründet wurde. Gründungsmitglieder waren die Autonome Antifa [F] aus Frankfurt, Redical M aus Göttingen und T.O.P. Berlin. Im Verlauf der folgenden Jahre sind ihm beigetreten: Gruppe Gegenstrom (Göttingen), Kommunistische Gruppe Bochum, Antifa AK (Köln), Fast Forward (Hannover), Gruppe Kritik & Intervention (Bielefeld), Autonome Antifa Wien und die Basisgruppe Antifaschismus (Bremen). Andere Gruppen aus Tübingen, Lüdenscheid, Bremerhaven, Braunschweig, Mannheim und Potsdam waren meist nur kurz im Bündnis, bevor sie wieder austraten.
Erneute Katerstimmung herrschte jedoch bei den GenossInnen, weil der Osten noch immer Niemandsland der Organisierung war. Umso größer war die Freude, als im Juni 2012 die noch junge Leipziger Gruppe the future is unwritten ihren Beitritt zum Bündnis erklärte. Der Freude sollte alsbald die Ernüchterung folgen: Noch nicht einmal richtig dabei, wurde die Beteiligung von …ums Ganze! am nächsten Großevent, nämlich Blockupy in Frankfurt, von Leipzig aus in Frage gestellt: »Daher zeigt sich in Blockupy gerade die Zwiespältigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung: Darin drückt sich zwar Kapitalismuskritik aus, aber doch innerhalb der Kategorien des Kapitalismus. Kaum bis nirgends werden die konstitutiven Kategorien wie Kapital, Wert oder Arbeit in Frage gestellt. Im Gegenteil verbergen sich hinter Blockupy auch reformistische Forderungen an den Staat, die Krise paternalistisch in die Hand zu nehmen.« The future is unwritten veranstaltete also Anfang Mai 2013 eine Podiumsdiskussion, um der Frage nachzugehen, ob …ums Ganze! »begonnen hat auf Irrwegen zu wandern.« Die folgende Diskussion ergab zwar keine Klärung dieser Frage, aber zumindest die Entscheidung, nicht nach Frankfurt zu mobilisieren – eine Entscheidung, die ihnen demnächst die Mitgliedschaft bei …ums Ganze! kosten könnte.
Antikommunismus als Gründungsdoktrin
Diese kleine, etwas kursorische und sicher auch unvollständige Geschichte ost-westlinker Missverständnisse, mag ein wenig wie ein Absurditätenkabinett erscheinen. Eine Frage drängt sich jedoch förmlich auf: Hat das Ganze vielleicht doch System? Es kann durchaus sein, dass es bei der Linken nicht anders verlief als bei den Fußballvereinen, die auch 25 Jahre nach dem Mauerfall den Anschluss an den Westen nicht schaffen. Oder der Wirtschaft, die größtenteils westlich des ehemaligen »Schutzwalls« ihre Hochburgen hat. Braindrain nennt man das Phänomen auch, dass die »Klugen«, die »Flexiblen« und die »Starken« in den Westen wandern und ihre etwas unterbemittelten LeidensgenossInnen zurücklassen.
Szeneaktivist Bernd Langer scheint diese Erklärung weitestgehend zu genügen, als er 2012 in Altersmilde rückblickend konstatierte: »Die hohen Ansprüche an die Mitgliedsgruppen der AA/BO brachten es mit sich, dass an der Gründung der AA/BO […] nur eine Gruppe aus der ehemaligen DDR beteiligt war.« Warum die Ostgruppen die hohen Ansprüche selbstredend nicht erfüllen konnten – diese Erklärung bleibt er hingegen schuldig. Und dennoch gibt auch er einen kleinen Hinweise auf das möglicherweise tieferliegende Problem der Ostlinken mit der Organisierung im Allgemeinen und der AA/BO im Besonderen: »Außerdem hatten die ›Ost-Antifas‹ gerade einen Staat hinter sich gelassen, der von fest gefügten Gliederungen mit roten Fahnen und großen antiimperialistischen Parolen geprägt gewesen war.«
In der Tat, das Organisierungssetting, das die Autonome Antifa [M] vorgegeben hatte, stieß bei vielen Gruppen, auch im Westen, auf erhebliche Kritik. Zum einen war die Autonome Linke ursprünglich in Abgrenzung zu den autoritären K-Gruppen und der stalinistischen Tradition der kommunistischen Bewegung entstanden. Zum anderen bestand sie vornehmlich aus Antifagruppen, deren Betätigungsfeld etwas völlig anderes war, als der von Göttingen ausgerufene »Antiimperialismus«. Dessen ungeachtet wurde ein neues Logo entworfen (die wedelnden schwarz-roten Fahnen), das sich explizit an der Symbolik der kommunistischen Antifaschistischen Aktion der Weimarer Republik orientierte. Die roten Fahnen auf den Demonstrationen der AA/BO bestätigten diese zweifelhafte Traditionspflege. Und zu guter Letzt war es äußerst verdächtig, dass mit der Roten Antifaschistischen Initiative Berlin (RAI) eine orthodox-kommunistische Gruppe vertreten war, die unter anderem die stalinistischen Schauprozesse der dreißiger Jahre verteidigte. Gegenüber der Jungle World erläuterte ein Vertreter des BgR im Vorfeld des Göttinger Antifa-Kongresses 2001 die Leipziger Wahrnehmung der Organisierungsdebatte: »Wir haben, jedenfalls in Leipzig, immer nach einem eigenen Weg gesucht. Und in der Tat hat einige Leute auch dieser unkritische KPD-Bezug gestört, oder mit roten Fahnen durch die Straßen zu laufen.«
Die DDR-Linke der neunziger Jahre speiste sich aus zwei wesentlichen Quellen: aus der Gegnerschaft zur DDR und zum Sozialismus/Kommunismus, wie man ihn erlebt hatte und aus der Erfahrungen des (rassistischen, nazistischen) Ausnahmezustands im Zusammenbruch der DDR und dem daraus folgenden antifaschistischen Selbstschutz. Von Kommunismus wollte man hier – zu Recht – nichts hören, vielen ostlinken Biographien war der Antikommunismus ja förmlich eingeschrieben. Und auch das ganze Gerede vom antiimperialistischen Kampf oder dem revolutionärem Antifaschismus ging an den ostdeutschen Lebensrealitäten bis in die späten Neunziger komplett vorbei. So entstand eine ostdeutsche Linke, die mit den westdeutschen Traditionen – ja mit der Westlinken überhaupt – kaum etwas zu tun hatte. Victor, ein Vertreter der Göttinger Antifa [M], klingt im besagten Jungle-World-Interview fast schon beleidigt: »Wir haben in Göttingen, einer ehemaligen Grenzstadt, verfolgt, was sich im Osten tat. Wir haben auch immer Kontakte gesucht. Anfang der Neunziger gab es jedoch nicht nur Entgegenkommen von den Ostgruppen«. Eindrücklich mag diesen Konflikt die west- und ostlinke Demonstrationsfolklore bebildern. In den neunziger Jahren waren zwischen Stralsund und Plauen rote Fahnen immer nur Randerscheinungen auf Demonstrationen, die günstigenfalls belächelt, bisweilen aber auch gewaltsam bekämpft wurden. Die Opfer der Staatssicherheit verstanden hier keinen Spaß. Die Skepsis gegenüber der Geschichte des Parteikommunismus ist im Osten auch auf dieser Ebene bis heute geblieben: Die Fahnendichte ist um vielfaches niedriger als auf vergleichbaren Demonstrationen im Westen.
Ostdeutsche Erfahrungen
Aber, so könnte man berechtigterweise einwenden, diese Geschichte ist auch schon ein wenig angestaubt. Die Opfer der Staatssicherheit, die AktivistInnen der späten achtziger und frühen neunziger Jahre sind zwar noch nicht gestorben, bestimmen aber kaum noch das politische Leben der ostdeutschen Linken. Und dennoch lässt sich argumentieren, dass der ostdeutsche Erfahrungsraum der neunziger Jahre einen bleibenden Einfluss auf die inhaltliche und formale Konstitution der dortigen Linken ausgeübt hat.
Dieser Erfahrungsraum war die Auseinandersetzung mit der Naziszene in der ostdeutschen Provinz. Bis in die späten neunziger Jahre hinein bestand linke Politik im Osten – neben dem Selbstschutz – maßgeblich darin, die lokalen Naziaktivitäten zu skandalisieren und die Öffentlichkeit und vermeintlich zivilgesellschaftliche Kreise zu Gegenreaktionen aufzufordern. Das Konzept war jedoch erfolglos, denn die Nazis waren nur selten AußenseiterInnen, sondern zumeist tief in der Gesellschaft verankert. Ob nun die BürgermeisterInnen, die kirchlichen VertreterInnen oder die Lokalprominenz der PDS – sie alle übten sich in Beschwichtigungen und in Verständnisbekundungen für die angeblich verwirrte ostdeutsche Jugend. Aus diesen Erfahrungen heraus begann das Leipziger BgR ab 1996 vom »rechten Konsens« zu sprechen. Anfangs nur ein Begriff, verdichtete sich dieser alsbald zu einem Konzept, das von der Gruppe später dergestalt umrissen wurde: »Dieser Konsens versammelt in sich all jene Elemente, die mit der nationalsozialistischen Weltanschauung übereinstimmen, aber weit über die Naziszene hinaus als Selbstverständlichkeiten gelten. Anders als in der Zeit des Nationalsozialismus sind die Elemente des rechten Konsens außerhalb der Naziszene nicht in einer einheitlichen politischen Vorstellung verankert, sondern existieren als alltägliche Überzeugungen mit- und nebeneinander.«
Die Konsequenz aus der Analyse des Rechten Konsens war die – bisweilen nur partielle – Aufkündigung der Bündnisarbeit mit PDS, Gewerkschaften und Lokal- und Regionalinitiativen. Linke Politik im Osten war eine Politik gegen die Massen – ohne BündnispartnerInnen aus dem »bürgerlichen« Milieu. Geschichte schien sich für die Leipziger GenossInnen hier zu wiederholen. 1989 waren sie die ersten, die frühzeitig nicht mehr mit den Montagsdemonstrationen liefen, sondern ihnen entgegen und dafür zum ersten Mal den vereinten Hass von BürgerInnen und Nazis gleichermaßen auf sich zogen und entweder entfliehen konnten oder verprügelt wurden.
Gegen den Strom, gegen die Masse, gegen die Montags- und sonstige BürgerInnendemonstration – das sollte das Markenzeichen der Rostocker, der Dresdner, aber vor allem der Leipziger Linken bleiben. Wenn sich irgendwo in diesen Städten die Bevölkerung gegen irgendeine vermeintliche Schweinerei erhob – von den Antigolfkriegsdemonstrationen 1991 über die Antinazidemonstrationen nach dem »Antifasommer« 2000 bis zu den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV ab 2004 –, die ostdeutsche Linke lief diesen entgegen, versuchte sie zu stören oder »kritisch« zu begleiten. Darin unterschied sich der Osten vom Westen, zumindest von den westdeutschen Großstädten. In diesen gab es so etwas wie eine Zivilgesellschaft, antifaschistische Kräfte im bürgerlichen Milieu und Parteien, die auch mit AntifaschistInnen Bündnisse eingingen. Im Osten hingegen gab es die PDS – ein weiteres Desaster.
Die PDS hat in ihrer post-DDR-Geschichte so einiges getan, um das Vertrauen in linke Zivilgesellschaft zu zerstören und das Misstrauen gegen den Sozialismus zu vertiefen. Sie war es, die immer wieder den linken AntifaschistInnen in die Beine grätschte, um das Ostvolk zu bezirzen. Nationaler Sozialismus, das war – nur mit wenig Übertreibung – in den neunziger Jahren das Konzept der PDS. Dieses Konzept bestand aus Ostalgie, ostdeutschem Nationalismus und sozialem Opferkitsch. Zweitstimme NPD (DVU), Erststimme PDS – so war es üblich in jenen Jahren, die Sympathiewerte für PDS waren in Umfragen bei den NPD- und DVU-WählerInnen am höchsten.
Überdies erinnert die Rede von der »Sächsischen Demokratie« oder den »Sächsischen Verhältnissen« ziemlich genau an die herausragende Stellung der sächsischen PDS in jenen Jahren, die nach Berlin der wichtigste Landesverband der Partei war. Christine Ostrowski, die heutzutage niemand mehr kennt, war die Frontfrau eines Ostdeutschen Nationalen Sozialismus und gleichzeitig herausragende Kraft der sächsischen PDS der gesamten neunziger Jahre. Berühmt geworden ist sie durch ihre kollegialen Treffen mit hohen Nazikadern, ihrer offensiven Querfrontstrategie und ihrer rigorosen Bekämpfung der sächsischen Antifabewegung.
Das waren die politischen Voraussetzungen, die die antideutsche/antinationale Bewegung in den neunziger Jahren im Osten der Republik vorfand. Begierig wurden die frühen Postulate dieser Bewegung aufgegriffen, die so exakt auf die Verhältnisse im Osten zuzutreffen schienen. Heutzutage sorgt es in der Linken häufiger für Verwirrung, warum die antideutsche Linke ausgerechnet im Osten so stark ist. Erklärungsversuche bemühen entweder die Sonderstellung Leipzigs, ohne sie wirklich erklären zu können, oder verweisen auf die Geschichte des DDR-Antizionismus, gegen den sich die ostdeutsche Linke wenden würde. Beides schrammt jedoch an den wirklichen Ursachen leicht vorbei. Die Begeisterung für antinationale/antideutsche Positionen speiste sich vor allem aus deren bedingungsloser Absage an die Massen und deren fundamentaler Kritik an kommunistischer Traditionspflege in der Linken. Die Israel-Solidarität war eher Beiwerk. Diese wurde schließlich jedoch auch aus oben genannten Gründen positiv rezipiert. Dass die GegnerInnen der Linken nicht allein die Nazis, oder der Imperialismus oder die Bonzen waren, sondern das einfache Volk, das waren Grundaussagen der Antinationalen/Antideutschen, die mit der eigenen tagtäglichen Erfahrung mit der ostdeutschen Bevölkerung übereinstimmten. Das alltägliche Gefühl, allein gegen die Masse zu stehen, keine BündnispartnerInnen zu haben und auch nicht zu wollen, wurde von den Antinationalen/Antideutschen zu einer legitimen politischen Position erhoben.
Tradition und Gegenwart
Auch wenn sich die heutigen politischen Verhältnisse selbst im Osten verändert haben, sind diese Grundelemente noch wirksam. Das Misstrauen gegen die Masse und gegen Bündnisarbeit wird über Generationen tradiert – in persönlichen Gesprächen, in Gruppenzusammenarbeit, in Texten und Diskussionsveranstaltungen. Das Leipziger BgR bekam dies deutlich zu spüren, als es nach dem »Aufstand der Anständigen« einen politisch spektakulären Strategiewechsel vollzog und das von ihm selbst entworfene Konzept des »Rechten Konsens« begrub. Im Oktober 2001 veröffentliche die Gruppe ihren fast schon historischen, weil immer wieder zitierten und diskutierten Aufruf »Ausschlafen gegen Rechts«, in dem sie die Leipziger Linke dazu aufforderte, sich von den Gegenaktivitäten gegen einen Naziaufmarsch fernzuhalten. Das BgR war sich treu geblieben, indem es der Koalition der AntinazigegnerInnen, der »Zivilgesellschaft«, die sich in Leipzig formiert hatte, das Misstrauen aussprach. Auf Gegenliebe stieß dieser Ansatz jedoch nicht. Besonders die ostdeutsche Provinzantifa polemisierte heftig gegen die »großstädtische Arroganz« der Leipziger GenossInnen – irgendwie eine Art Neuauflage der Diskussionen rund um die Wohlfahrtsausschüsse, nur dass die »Wessis« diesmal aus Leipzig kamen.
Es ließe sich diese kleine ost-westdeutsche Geschichte von Irrungen und Verwirrungen, von Missverständnissen sowie sehr unterschiedlichen Entwicklungen, Deutungen und Strategien fortführen. Nicht darüber zu schmunzeln – was teilweise durchaus angebracht ist –, sondern die Hintergründe zu verstehen, ist jedoch die Absicht dieses Textes. Vielleicht tut man der Gruppe the future is unwritten unrecht, wenn man sie in dieser Weise in eine ostlinke Tradition einordnet, der sie vielleicht nicht unbedingt angehören wollen. Immerhin schien sie es ernst zu meinen, mit ihrer Beteiligung am Bündnis …ums Ganze! Es könnte also Zufall sein, dass sie schon nach wenigen Monaten im Widerspruch zu den anderen Gruppen geriet und daraufhin der fehlenden Parteidisziplin bezichtigt wurde. Berechtigt ist dieser Gedanke schon allein deshalb, weil einige Mitglieder der Gruppe noch nicht einmal geboren waren, als sich in Leipzig die hier beschriebene Grundkonstellation am Rande der Montagsdemonstrationen der Jahre 1989/1990 herausbildete.
Indes, in diesem Artikel konnte gezeigt werden, dass die Konstellation, die auf dem …ums Ganze!-Kongress zutage trat, in der Geschichte der gesamtdeutschen Linken viele Parallelen hat. Das kann Zufall sein. Wahrscheinlich ist dies hingegen nicht. In einem Bündnis, in dem neben …ums Ganze! auch noch die Interventionistische Linke, der Revolutionäre Sozialistische Bund, Attac, Verdi und die Partei Die Linke vereinigt sind, haben die GenossInnen aus Leipzig aus nachvollziehbaren und völlig richtigen Gründen nichts verloren. »Auch dieses Jahr«, hatten sie im Vorfeld geschrieben, »wird es vermutlich den ideologisch notwendigen Schein in Form von Zins- und Geldkritik, strukturell antisemitischer Entgegensetzung von Finanz- und Realökonomie, Bankenbashing und einer personifizierten Kapitalismuskritik usw. geben.« Ungeachtet der Richtigkeit dieser Aussagen, war das Erfolgskriterium der Autonomen Antifa [F] ein anderes: »Entscheidend für diesen Erfolg war […] vor allem das solidarische Nebeneinander unterschiedlicher Aktionsformen« gewesen. Die FrankfurterInnen arbeiten damit bewusst an der Wiederbelegung einer Tradition, die mit der Auflösung der AA/BO bereits an ihr Ende gekommen zu sein schien: das Primat der Masse, die über ihren Inhalt siegt. Dass die Antifa [F] im Nachgang den LeipzigerInnen schließlich auch noch den Austritt aus dem Bündnis nahelegte, bestätigt den Eindruck, dass es bei dieser Gruppe mit der Einsicht in die Fehler der eigenen Vergangenheit nicht weit her ist. Ob gegen the future is unwritten nun noch ein Parteiausschlussverfahren eröffnet wird oder nicht, spielt keine Rolle. Solange Parteidisziplin und Bündnisfähigkeit zu den wichtigsten Tugenden bei …ums Ganze! gehören, wird die bundesweite Organisierung weiterhin an der ehemaligen innerdeutschen Grenze halt machen. Es ist, so eine nicht sehr gewagte These, nur eine Frage der Zeit, bis sich the future is unwritten lossagt und …ums Ganze! wieder das ist, was die Versuche vor ihm auch schon waren: eine bundesweite Organisation von Westlinken.
~ Von David Schweiger. Der Autor ist Mitglied der Phase 2 Redaktion Berlin und hat den Großteil seines Lebens in Leipzig verbracht.