Die Debatte um Errungenschaften und Sackgassen des Internationalismus läuft in der sogenannten radikalen Linken wieder auf Hochtouren. Wurde jahrzehntelang nicht viel mehr als die Frage nach der »richtigen« Form von Solidarität verhandelt, wird letztere als solche nun grundlegend angezweifelt. Ergötzten sich weite Teile der antihegemonialen deutschen Linken seit den sechziger Jahren an der Idealisierung von unterschiedslos jedweder »Befreiungsbewegung« dieser Erde, so schlugen ideologiekritische, antideutsche Theoretiker_innen spätestens nach den antiamerikanisch und antisemitisch motivierten Anschlägen des 11.September zurück: mit einer notwendigen und längst überfälligen Kritik an der reaktionären Verblendung der globalisierungskritischen Bewegung, deren bedingungslose Solidarität sich in zunehmendem Maße auf zutiefst emanzipationsfeindliche Bewegungen und Regime stützte.
Grundlegend ist die Erkenntnis, dass es den sogenannten Befreiungsbewegungen häufig um das komplette Gegenteil dessen geht, was seit der Formulierung der Menschen- und Bürgerrechte gemeinhin unter Emanzipation des Individuums firmiert. Diese Erkenntnis erfordert die Formulierung einer adäquaten inhaltlichen Kritik und damit den Bruch mit einer undialektischen Tradition des Internationalismus, die stets einem starren Gesellschaftsverständnis von Beherrschern und Unterdrückten aufsaß.Zur undialektischen Kategorie »Widerstand« vgl. Moishe Postone, Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus, Jungle World 30/2005, http://jungle-world.com/artikel/2005/33/15847.html. Moishe Postone kennzeichnet jene kompromisslose Abwendung vom Internationalismus als einzige Möglichkeit, der veränderten weltpolitischen Konstellation nach dem Ende des Kalten Krieges Rechnung zu tragen. Zwar gesteht Postone der Antikriegsbewegung der sechziger Jahre, Salvador Allende in Chile und auch den Sandinisten in Nicaragua das durchaus progressiv gemeinte Anliegen zu, es sei ihnen zum damaligen Zeitpunkt um die reale Möglichkeit einer Systemalternative gegangen und dass »der Widerstand gegen die USA als Unterstützung fortschrittlicher Alternativen verstanden«Ebd. wurde. Genauso konstatiert er aber mit Blick auf die Gegenwart, dass die fetischisierte, antiimperialistische »Opposition gegen die USA nichts mehr mit der Befürwortung fortschrittlicher Veränderung zu tun hat«Ebd. und sich ihr Emanzipationsanspruch endgültig mit dem Ende der Systemkonfrontation in sein Gegenteil verwandelt habe. Nichtsdestotrotz mangele es noch an einer neuen Position bezüglich weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Verhältnisse, die es jenseits des Dualismus des Kalten Krieges zu formulieren gelte.Ebd.
Und tatsächlich wird um eine neue Form der Gesellschaftskritik mit globalem Blickwinkel heute wieder gestritten.Vgl. die Diskussionen der Jungle World seit Ausgabe 48/2010 sowie Phase 2.37, 09/2010. Im aktuellen Diskurs geht es um viel: die Legitimität und Ausgestaltung universalistischer Forderungen sowie die adäquate Form der Intervention gegen menschenfeindliche politische Bestrebungen und Regime. Nicht selten schwingt sich die antideutsche Linke dabei zu einem missionarischen Universalismus auf, der mit dem Schwert der Aufklärung und unter der Fahne des demokratischen Rechtsstaates rhetorisch in die Welt hinaus zieht, um den »klein-djihadistischen Elendsselbstverwaltern«So sinngemäß Redaktion Bahamas, Krieg dem Baath-Regime. Waffen für Israel!, Bahamas 39/2002. die Zivilisation zu lehren.
Dass der Kritik an den Befreiungsbewegungen dabei selbst die Fähigkeit zur Differenzierung abhanden gekommen ist, ist Anlass für den vorliegenden Artikel. Denn bedauerlicherweise verlässt der gegenwärtige Diskurs nur marginal das rhetorische Schlachtfeld, dessen geografische Ausdehnung sich in der Achse Washington-Berlin-Teheran erschöpft, und an das höchstens innenpolitisch noch die Integrationsdebatte anschließt. Bei einem Anliegen von geografisch wie erkenntnistheoretisch globaler Tragweite, also der Frage nach dem richtigen Universalismus, fehlt der globale Bezugsrahmen damit völlig. Eine antideutsche Kritik, die lediglich westliche Demokratie und islamische Despotie axiomatisch gegenüberstellt, muss notwendig unvollständig bleiben. Ihr blinder Fleck ist eine wesentlich differenziertere Landschaft postkolonialer Gesellschaften im globalen Süden mitsamt ihren ebenso vielfältigen politischen Bewegungen und den tagtäglichen Kämpfen der Individuen.Einer solchen Perspektive nimmt sich der folgende Artikel exemplarisch an. Im Rekurs auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Mexiko soll der Blick auf jenes Geschehen gelenkt werden, um das sich kontroverse Diskurse der westlichen »Linken« seit dem Aufstand der Zapatistischen Armee der nationalen Befreiung 1994 entsponnen haben. Vom Internationalismus alter Schule bewundert und romantisiert, erachtete die antideutsche, ideologiekritische Linke den zapatistischen Revolutionskult in vielen Punkten zurecht als problematisch. Im Anschluss an eine generelle Erläuterung des Kontextes möchte ich einige Punkte dieser Kritik noch einmal aufgreifen, allerdings auch ihre spezifische Berechtigung diskutieren.Dieser Artikel soll zwischen der »konkreten Perspektive vor Ort« und dem »abstrakten Reich der Debatte« vermitteln. Es kann jedoch auch im Falle Mexikos, damit schließe ich mich Lois LenskiVgl. Lois Lenski, Ein Versuch über die Linke Israels zu schreiben, Phase 2.37 09/2010. an, nicht darum gehen, die Notwendigkeit »linker Solidarität« zu konstatieren. Die Konstitutionsbedingungen der sozialen Bewegungen in Chiapas sind völlig andere als die in der Bundesrepublik Deutschland bzw. im Europa des 21. Jahrhunderts.
Schweigende Tote – der Kontext
Chiapas, das ist der südlichste Bundesstaat Mexikos. Letzteres ein Schwellenland, dem der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II eine schier unbegreifbare Gleichzeitigkeit von sogenannter erster und dritter Welt attestiert. Während in Mexiko-Stadt pro Kopf mehr Krankenhäuser zur Verfügung stehen als in London, hat ein Viertel der chiapanekischen Bevölkerung, also ca. eine Millionen Menschen (vorwiegend Indígenas), keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.Sipaz, Chiapas en datos, http://www.sipaz.org/data/chis_de_02.htm. In einigen Gemeinden entspricht die Müttersterblichkeit derjenigen im subsaharischen Afrika und ist damit über zehnmal so hoch wie in Westeuropa.CONAPO, Indicadores demográficos básicos 1990 – 2030, http://www.inegi.org.mx/est/contenidos/espanol/rutinas/ept.asp?t=mpob55&s=es&c=3878&e=07. Jede dritte Familie lebt in beengten Holzhütten ohne befestigten Fußboden. Strom kennen die indigenen Gemeinden im chiapanekischen Hinterland erst seit wenigen Jahren, von sauberem Trinkwasser und weiterführender Bildung ganz zu schweigen. Im Hochland von Chiapas genossen indigene Frauen durchschnittlich auch nur 2,5 Jahre Grundschulbildung. Eine 40jährige Frau im Selva Lacandona hat im Schnitt zwölf Kinder zur Welt gebracht, von denen oft ein bis zwei im Kleinkindalter aufgrund heilbarer Krankheiten wie Durchfall oder Mangelernährung schon gestorben sind. Dass 71 Prozent der indigenen Bevölkerung an Unterernährung leiden und dies auch die sechst-häufigste Todesursache ist, gibt einerseits Auskunft darüber, dass die bäuerliche Subsistenzwirtschaft offensichtlich keine ausreichende Versorgung der wachsenden indigenen Bevölkerung sicherstellt. Der sechsfache Anstieg der Unterernährten zwischen 1984 und 1994 zeigt aber auch, dass die Ursachen weniger in der Subsistenzwirtschaft an sich, sondern vielmehr in sozialen Prozessen wie der zunehmenden Landknappheit durch Ausdehnung des Großgrundbesitzes in den letzten Jahren der PRI-Herrschaft liegen.Die 1929 gegründete Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) regierte und dominierte die mexikanische Gesellschaft 71 Jahre lang.
Das Elend war eine der Ursachen, weshalb sich 1994 eine Bewegung im Namen des Bauernhelden Emilio Zapata erhob und bis heute an der Überwindung der menschenunwürdigen Lebensbedingungen sowie gegen die ernstzunehmenden Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse innerhalb traditioneller Indígena-Gemeinden arbeitet. Es mag befremdlich klingen – doch in emanzipatorischer Absicht wurde tierra (Land), neben libertad (Freiheit), eine der zentralen Forderungen, mit denen die EZLN (Zapatistische Armee der nationalen Befreiung)Angelehnt an Emiliano Zapata (1879–1919), Bauernführer und mystifizierter Held der mexikanischen Revolution. damals militärisch aufbegehrte, in einem zwölftägigen Guerilla-Krieg Großgrundbesitzer enteignete, das Land rekollektivierte und »Revolutionäre Gesetze« erließ. Der Aufstand der Zapatistas war aber von Beginn an nicht auf die formale Machtübernahme im mexikanischen Staat gerichtet und brach eindeutig mit der Tradition staatssozialistischer Projekte. Nichtsdestotrotz bemühte sich die PRI-Regierung, »die Guerrillaerhebung als eine Tat von in- und ausländischen Extremisten darzustellen, welche die Indígenas verführt hätten«Luz Kerkeling, [[exclamdown]]La Lucha Sigue! Der Kampf geht weiter. EZLN – Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstandes, Münster 2006, 165. und begegnet den Aufständigen bis heute mit einem Krieg niederer Intensität, der Mittel der psychologischen Kriegsführung, paramilitärische Gewaltexzesse sowie die massive Militarisierung der widerspenstigen Regionen umfasst. Auf Seiten der EZLN ruhen die Waffen seit 1994 und die Bewegung konzentriert sich auf die zivile Organisierung und subsistenzwirtschaftliche Autonomie. Der Aufbau eines staatsunabhängigen Bildungs- und Gesundheitssystems und die Ausweitung der eigenen Stromversorgung sind 17 Jahre nach dem Aufstand weit fortgeschritten, obwohl die zivilen Bestrebungen der Zapatist_innen mit zunehmender staatlicher Repression beantwortet werden: Allein ein Drittel der mexikanischen Armee ist heute in Chiapas stationiert.
Wer aber nun aus den häufigen und grausamen Schreckensmeldungen aus dem lakandonischen Urwald schließt, man habe es mit einem ethnischen oder Klassenkonflikt zu tun, irrt. Die Konfliktlinie lässt sich nicht vorrangig auf Rassismus, ethnische Auseinandersetzungen oder gar »Kulturen« zurückführen. Ebensowenig entspringt der Konflikt einem dichotomen Klassengegensatz. Denn das Gros der Paramilitärs sowie ein guter Teil der mexikanischen Armee besteht aus indigenen Menschen derselben sozialen Schicht, die mitunter aus denselben Dörfern kommen wie die Zapatistas. Der Ausschluss von ethnischem Konflikt und Klassenkampf soll die These stark machen, dass mit dem Aufstand der indigenen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in Chiapas politisch-medial etwas Allgemeineres an die Oberfläche dringt, das weltweit an den Rändern der kapitalistischen Scholle brodelt: der Unmut der Peripherie gegen die kapitalistische Integration, und somit der Aufstand der Vormoderne gegen die bürgerliche Vergesellschaftung.
Befreiung oder Bewegung
Nicht zuletzt darum sollten wir, wenn wir das zapatistische Aufbegehren nicht gleich ad-acta legen, die chiapanekische Variante von »Befreiungsbewegung« ideologiekritisch auf ihren emanzipatorischen Gehalt prüfen. Wie erwartet, offenbart die kritische Rezeption des Originalmaterials, also zapatistischer Filmproduktionen und Veröffentlichungen, verschiedenste Formen notwendig falschen Bewusstseins: Nationalismus, Sexismus, Arbeitsfetischismus, Antiamerikanismus, strukturellen Antisemitismus bzw. falsche Kapitalismuskritik sowie einen diffusen Begriff von Widerstand. Ist der zapatistische Aufstand damit diskreditiert? Ich möchte dies bestreiten. Vielmehr gilt es, den Kontext in Chiapas einzubeziehen und im Folgenden zwei notwendige Differenzierungen vorzunehmen.
Die Trennung von Kopf und Basis der Bewegung
Für eine realistische Kritik des Zapatismus selbst ist es unerlässlich, die Veröffentlichungen der Comandancia von den Anschauungen der Basis zu differenzieren. Die Basis setzt sich zusammen aus Tausenden Bauern und Bäuerinnen, die im familiären Verbund Felder bewirtschaften und in verstreuten Gemeinden organisiert sind. Mit Comandancia ist hingegen der politische Kopf der Bewegung gemeint. Zwar basiert die zivile Organisation der Zapatistas auf einem strikten Rotationsprinzip, allerdings rutschen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen nicht von heut auf morgen in eine politische Führungsposition. Vielmehr speisen sich die Räte der sogenannten »Guten Regierung« und andere politische Institutionen aus einem alle paar Jahre neu gewählten Personenpool, dessen Mitglieder vor ihrer Amtsübernahme eine grundlegende Ausbildung in Lesen und Schreiben, spanischer Sprache, Verwaltung etc., aber auch politische Schulungen erhalten. Alle öffentlichen Stellungnahmen und Kommuniqués der Zapatisten stammen aus der Feder der Comandancia. Und man wird zweifellos, da wo sie sich zur Erklärung der Welt aufschwingen, antiamerikanisches Ressentiment, verkürzte Kapitalismuskritik oder Appelle an die Nation herauslesen. Dies ist unemanzipatorisch und zu kritisieren. Aber es zwingt auch dazu, den niedrigen (und überhaupt nicht mit uns zu vergleichenden) Bildungsstand der Verfasser_innen einzubeziehen. Vor dem Hintergrund der primitiven und existenzbedrohenden Zustände, in denen sich die Comandancia Gedanken über die Welt macht, gelangt sie natürlich eher zu einer Kritik der kanadischen Minenfirma, die ihre Ackerböden zerstört, als zur abstrakten Kapitalismusanalyse.
In einem zweiten Schritt gilt es wiederum, diese Comandancia von den Leuten an der Basis zu unterscheiden. Schulische Bildung hat es dort in der Erwachsenengeneration nie gegeben, und man kann die Bauern und Bäuerinnen nicht zur Verantwortung dafür ziehen, was in ihrem Namen verbreitet wird: Sie können die Veröffentlichungen aufgrund fehlender Alphabetisierung und der Abwesenheit von Medien und Informationstechnologie weder lesen, noch sind sie im Stande, sie politisch zu begreifen. Denn die Diskurse in den indigenen Gemeinden reichen kaum über Landwirtschaft, Wetter, Familienklatsch und Gemeindeangelegenheiten hinaus. Vorstellungen von Kapitalismus, Weltpolitik oder »der Nation« existieren im Grunde nicht.
Was den Nationsbegriff angeht, so fragt man drei zapatistische Sprecher und bekommt drei verschiedene Antworten. Ursprünglich entsprang der rhetorische Bezug auf die »mexikanische Nation« sowie das Verwenden der Nationalfahne dem symbolpolitischen Kalkül der Comandancia, als marginalisierter, nicht-wahrgenommener Teil der mexikanischen Bevölkerung Präsenz zu zeigen und staatsbürgerliche Rechte einzufordern. Die breite Basis in den Gemeinden hingegen nimmt von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Mexiko als auch von der medial-öffentlichen Präsenz ihrer eigenen Bewegung keine Notiz. Sie hat weder einen Begriff von »Mexiko« noch verbindet sie den grün-weiß-roten Lappen, der da in einigen zapatistischen Gebäuden herumhängt, mit irgendeiner Form von Identität.
Um mit einer Ideologiekritik am Zapatismus nicht übers Ziel hinauszuschießen gilt es zu beachten, dass beispielsweise der positiven Bezugnahme auf Indigenität durch soziale Bewegungen in Mexiko ein rassifizierender Prozess der mexikanischen Gesellschaft bzw. des Staates vorausging. Dieser dient bis heute dazu, die sozio-ökonomische wie politische Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen zu legitimieren. Als politische Identität wird der indigenísmo – man betrachte die Geschichte anderer Emanzipationsbewegungen – nur solange Bedeutung haben, bis eine Gleichstellung auf allen Ebenen durchgesetzt ist. Eine Frage tut sich an der Stelle allerdings doch auf, nämlich inwiefern das zapatistische Autonomieprojekt, das ja gerade vom Weg staatsbürgerlicher Integration absieht, eher eine Verfestigung indigener Identität forciert. In den Verlautbarungen der Bewegung heißt es dazu nur recht unspezifisch: »Wir wollen eine Welt, in der viele Welten Platz haben«. Dies kann einerseits als Salad Bowl, Partikularismus oder infantile Naivität abgetan werden, andererseits aber auch die freie Entfaltung des Individuums meinen.
Wider die universelle Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung
Eine kritische Analyse muss stets Ideologie als Kontrapart ihrer materialistischen Grundlage betrachten und somit auch die globale Differenziertheit gesellschaftlicher Rahmenbedingungen einbeziehen. Während also die »spezifischen Intellektuellen« der hiesigen Soli-Szene zurecht als »eurozentristische Repräsentanten deutscher Ideologie«Manfred Dahlmann, Kultur ist Zwang, Jungle World 50/2010, http://jungle-world.com/artikel/2010/50/42278.html. entlarvt werden können, gelingt dies gerade nicht in Bezug auf die Menschen und ihre tagtäglichen Kämpfe in der Peripherie. Zu verschieden sind die Kontexte, zu unterschiedlich ist die Form der Vergesellschaftung: Entspringen die internationalistischen Ideolog_innen, ihr Wissen und ihre Diskurse, einer kapitalistischen Totalität (postfaschistischen Zuschnittes), die die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Auschwitz war, so handelt es sich beim Objekt ihrer Projektionen um eine vorkapitalistische Gesellschaft von »Ackerbauern und Viehzüchtern«. Dass es den antisemitischen Vernichtungswahn einer höchst modernen und zugleich antimodernen Krisenlösungsgemeinschaft in Mexiko nicht gegeben hat und es ihn in einer vormodernen Gesellschaft wie der indigenen weder technisch noch ideologisch geben wird, ist evident und wird doch gern übergangen, wenn wieder einmal vom barbarischen Potenzial bei den »autochthonen Völkerschaften«Mario Möller, Schottern ist Schrott, Jungle World 44/2010, http://jungle-world.com/artikel/2010/44/41999.html. die Rede ist.
Dass wir es im ruralen Chiapas sehr wohl mit einer vor- bzw. eher außerkapitalistischen Gesellschaft zu tun haben, möchte ich im Folgenden mit Rekurs auf einen Brief von Karl Marx an eine russische Revolutionärin darlegen. Darin zeichnet er aus materialistischer Sicht die Entwicklungsstufen menschlicher Vergesellschaftung nach. Fixpunkt seiner Überlegungen ist die russische »Ackerbaugemeinde« des 19. Jahrhunderts, die zwischen dem archaischen Dorfkollektiv und der modernen Gesellschaft des Privateigentums einzuordnen sei. Die beschriebene Produktionsform ähnelt derjenigen in den ländlichen Gebieten im Süden Mexikos: Das Land, von dem die indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen leben, wird in Chiapas traditionell kollektiv bewirtschaftet. Die Idee von Gemeinschaftsbesitz hat die Jahrzehnte der Leibeigenschaft überdauert und wurde in der mexikanischen Verfassung unter dem Namen ejido rechtlich verankert. Es gibt im ejido – abgesehen von »Haus und Hof« – kein Privateigentum. Stattdessen wird, so wie es Marx für das vorindustrielle Russland beschreibt, das Gemeineigentum an Ackerland »periodisch zwischen den Mitgliedern der Ackerbaugemeinde derart aufgeteilt, daß jeder Ackerbauer die ihm zugewiesenen Felder auf eigene Rechnung bewirtschaftet und sich deren Früchte individuell aneignet.«Karl Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I Sassulitsch, Marx-Engels-Werke (MEW) 19, Berlin 1973, 388.
Natürlich kann die Bestimmung dessen, was Kapitalismus sei, nicht einzig auf die Form des Eigentums rekurrieren. Dahinter steht die Frage, ob die Gesellschaft, der der Zapatismus entspringt, eine warenförmige sei, also ob Tausch und somit der vermittelte Zwang zur Lohnarbeit das alles durchdringende Prinzip sei. Dies ist in den indigenen Gemeinden nicht der Fall, denn wir haben es mit der »ländlich patriarchalische[n] Industrie einer Bauernfamilie« zu tun, »die für den eignen Bedarf Korn, Vieh, Garn, Leinwand, Kleidungsstücke usw. produziert. Diese verschiedenen Dinge treten der Familie als verschiedene Produkte ihrer Familienarbeit gegenüber, aber nicht sich selbst wechselseitig als Waren.«Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, 92. Grundprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung, wie die Realabstraktion von Gebrauchswert zu Tauschwert sowie von konkreter zu abstrakter Arbeit, sind nicht existent oder jedenfalls nicht durchdringend. Aufgrund der Abwesenheit von Markt und Staat existiert weder die gewaltförmige Vergleichung von Gebrauchsgütern zu Waren (über den Wert), noch von Individuen zu Subjekten (über das Recht). Die Subsistenzwirtschaft der Ackerbaugemeinden kennt also kein automatisches Subjekt Kapital, und damit keine kapitalistischen Dynamiken wie die Schöpfung von Mehrwert, die Akkumulation und Reinvestition und das der Selbstverwertung des Werts immanente Phänomen der Krise.Diese Bestimmung des Kapitalismus entnehme ich einer materialistischen Gesellschaftsauffassung, wie sie Moishe Postone in seinem Essay »Antisemitismus und Nationalsozialismus« in Anlehnung an Marx formuliert hat. Vgl. Moishe Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg 2005, 165-194.
Damit soll keinesfalls ein vorkapitalistischer Gesellschaftstypus mitsamt seinen personalen und unvermittelten Herrschaftsstrukturen gegen die immerhin vermittelte Gewaltförmigkeit des Kapitalismus stark gemacht werden. Die Aussage eines zapatistischen Delegierten: »das Land ist für uns keine Ware, sondern unsere Mutter«So geschehen lt. Bericht eines Mitglieds der europäischen Solidaritätsbrigade vom Juli 2010., ist nicht progressiv sondern Ausdruck der Ambivalenz einer Produktionsweise, in der zwar »die Verwandlung des Produkts in Ware, und daher das Dasein der Menschen als Warenproduzenten, eine untergeordnete Rolle« spielen, die aber zugleich »entweder auf der Unreife des individuellen Menschen [beruhen], der sich von der Nabelschnurr des natürlichen Gattungszusammenhanges noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtsverhältnissen«.Marx, Das Kapital, 93.
Die Charakterisierung der indigenen Vergesellschaftung als vormoderne ist also nicht gegen den Kapitalismus in Stellung zu bringen, sondern lediglich Begründung für meine These, dass Kategorien einer materialistischen Kritik der politischen Ökonomie überhaupt nicht auf die Gesellschaft der Weltmarktperipherie übertragbar sind, wenn letztere nicht nach den Prinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung funktioniert. Gleichsam betrifft dies die Wert- bzw. Ideologiekritik nach Auschwitz, die die Bestimmung von Antisemitismus, Rassismus etc. und die nazifaschistische Form der Krisenbewältigung über die Vernichtung auch und gerade aus den Grundfesten der kapitalistischen Vergesellschaftung herleitet, also aus dem Warencharakter und der Realabstraktion. Eine solche Kritik kommt, angewandt auf die vorkapitalistischen Verhältnisse in indigenen Gesellschaften, notwendig an ihre Grenzen: Sie kann sie schlichtweg nicht begreifen.
Eine andere Kritik ist möglich
Damit steht eine letzte Frage im Raum, nämlich die nach Ziel und Form von Kritik. Eine Theorie, die den Kapitalismus in seiner Totalität zu begreifen versucht, ist kraft ihrer eigenen Beschränktheit, d.h. ihrer tautologisch anmutenden Unfähigkeit über sich selbst hinaus zu gehen und ein »Außerhalb« der Monade zu denken, notwendigerweise zur Ohnmacht im Denken von Alternativen gezwungen. Monade meint die Verflochtenheit des Individuums mit der es umgebenden Form der Vergesellschaftung, was trotz oder wegen eines Zustandes höchster Individuation das Verschwinden der Individualität und Freiheit (und damit das Verschwinden der Möglichkeit von Kritik) nach sich zieht. Wer also Gesellschaftskritik zu üben versucht, kann sich seiner eigenen Verflochtenheit nicht erwehren, und »noch als Opponent des Drucks der Vergesellschaftung bleibt [er] deren eigenstes Produkt und ihr ähnlich.«Theodor W. Adorno: Monade, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch, Frankfurt a. M. 1997, 98ff. Denn schon die »Reflexion, wie sehr sie sich um Objektivität bemühen mag, transzendiert den Status der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung. Allenfalls – und in den höchst rigiden Grenzen ihrer eigenen Interessiertheit und Historizität – kann sie sich klarmachen, was ist.«Ilse Bindseil, Zehn Thesen gegen Geschichtsphilosophie, http://www.isf-freiburg.org/isf/beitraege/bindseil-thesen.html. Das ist erkenntnistheoretisch richtig und trifft doch nicht überall zu.
Meine Intention war, darzulegen, dass es Gesellschaften auf der Erde gibt, die von den Grundprinzipien des Kapitalverhältnisses nicht oder noch nicht durchdrungen sind. Diese Gesellschaften bergen durchaus die Möglichkeit, eine andere Perspektive auf Gesellschaft zu formulieren, die nicht der Totalität des Warentausches mitsamt ihres notwendig falschen Bewusstseins entspringt. In Chiapas scheint es eine solche Gesellschaft zu geben. Sie muss deshalb nicht zwangsläufig eine emanzipatorische Entwicklung durchmachen. Ihre teils vormodernen Strukturen können, ganz im Gegenteil, barbarische Politiken ebenso wie die tägliche Barbarei im Kleinen hervorbringen. Deshalb bleibt es Aufgabe einer Kritik, wie wir sie als Perspektive auf Gesellschaft aus der Monade heraus zu entwickeln und zu entfalten versuchen, die politischen Entwicklungen und Praxen in der Peripherie zu begleiten und im politischen Streitgespräch um emanzipatorische Tendenzen zu ringen. Notwendig ist dafür allerdings eine Sprache im weiteren Sinne, die von den Menschen vor Ort verstanden wird. Und – grundlegend – muss eine solche Kritik, die nichts mit dem alten, einfachen, aber inhaltsleeren Konzept von Solidarität gemein hat, natürlich gewollt sein und angenommen werden. Eine kritische Debatte mit »den Zapatisten« über »den Zapatismus« – und im weiteren Sinne über emanzipatorische Formen von Gesellschaft – wäre eine Idee. Und zwar an der Basis in der Peripherie und somit außerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Monade. Dafür müssen sich aber beide Seiten lösen: Einerseits vom Einfordern formaler Solidarität. Andererseits von monadologischer Kritik und einer Sprache, die den »Streit um das bessere Argument« verunmöglicht.
MINNA BLUMTAL
Die Autorin lebt und studiert in Leipzig. Sie hat ein Jahr mit einer indigenen Frauenorganisation in Chiapas gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt gearbeitet und dabei Einblicke in Lebenswelt und politische Organisierung einer der marginalisiert Bevölkerungsgruppen Mexikos erhalten