Vom Melting Pot zum Multikulturalismus

Globalisierung und Wirtschaftslage beeinflussen die Diskussionen um Migration und Gesellschaft im Einwanderungsland USA

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind seit Gründerzeiten und erst recht seit dem 20. Jahrhundert einer der bevorzugten Zielorte weltweiter Migrations- und Flüchtlingsbewegungen. Schon immer ist die Diskussion um Migration im Zielland durch die wirtschaftliche Großwetterlage, genauer durch den Bedarf an Humankapital, stark beeinflusst. Einwanderung wird immer dann besonders kritisch beäugt, wenn, wie in Krisen- und Kriegszeiten, Identitäts- und Loyalitätsfragen eine besondere Rolle spielen. Nicht vergessen ist die Angst vor dem Abweichen vom wahren protestantisch-angelsächsischen Pfad, die schon Benjamin Franklin, einer der so genannten Gründerväter der Vereinigten Staaten, kannte, als er seinerzeit monierte: »Warum sollte Pennsylvania, gegründet von den Engländern, zu einer Kolonie von Fremdlingen werden, die eher zahlreich genug sein werden, um uns zu Germanisieren, als dass wir sie Anglifizieren und niemals werden sie unsere Sprache oder Sitten annehmen und ebenso wenig können sie sich unsere Anschauungen aneignen.«

Benjamin Franklin, Observations Concerning the Increase of Mankind, in: Leonard W. Labaree u.a. (Hrsg.), The Papers of Benjamin Franklin, New Haven 1961, 225–234 (eigene Übersetzung). Als die Zahl der im Ausland geborenen AmerikanerInnen 1910, während der »zweiten Welle«Die sogenannte erste Welle beschreibt die Periode um 1840/50, die zweite dauerte von 1870 bis zum Ersten Weltkrieg. Während dieser Zeit erreichte die Zahl der im Ausland Geborenen die bis heute geltende Höchstmarke von 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ihr Anteil liegt heute knapp darunter, bei etwa bei 13 Prozent. der Masseneinwanderungen ihren Höhepunkt erreichte, entschied die Einwanderungskommission nach reiflicher Überlegung ein Jahr später, dass die zwei neuen Gruppen, nämlich Juden und Italiener, die den Hauptanteil der damaligen Einwanderung ausmachten, als völlig unassimilierbar angesehen werden müssten. Heute sind die Nachkommen derer, die in der Geschichte als unassimilierbar galten, selbst EinwanderungsgegnerInnen oder -befürworterInnen und MigrationsexpertInnen. Andere EinwandererInnen aus anderen Herkunftsländern sind die Neulinge, die als unkalkulierbar, kulturell ganz anders gelten und somit die Furcht vor kultureller Überfremdung, rassischer Vermischung antreiben.

Die traditionelle Integrationsstrategie der USA, die bis in die sechziger Jahre die Erfolgsgeschichte des »Schmelztiegels« möglich machte, folgte vor allem der Devise, sich relativ wenig um die Assimilation zu kümmern bzw. diese Aufgabe karitativen und kirchlichen Einrichtungen zu überlassen. Dadurch entstanden die hierzulande gefürchteten Parallelgesellschaften, in Übersee bekannt als »Little Italy«, »Kleindeutschland« oder »Chinatown«, durch die man sich nicht nur einen Weg in die amerikanische Gesellschaft suchte, sondern ihr fester Bestandteil wurde. Durch die erkämpfte Aufhebung der rechtlichen Segregation haben mittlerweile auch Afro-AmerikanerInnen den Weg in die Mittelschicht geschafft und genießen über politische und kulturelle Grenzen hinaus Anerkennung. Die Schriftstellerin Toni Morrison, deren Romane sich mit den historischen Erfahrungen der Sklaverei auseinandersetzen, wurde in den neunziger Jahren mit dem Nobelpreis geehrt, Halle Berry und Denzel Washington wurden 2002 als erste Afro-Amerikaner mit den Academy Awards für die beste Hauptrolle ausgezeichnet, Barack Obama ist der erste Präsidentschaftskandidat afro-amerikanischer Herkunft. Dennoch sehen viele Schwarze in einer sportlichen Karriere oder einer militärischen Laufbahn den besten oder einzigen Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs, und ein großer Teil lebt nach wie vor in prekären Verhältnissen. Sie bestimmen nicht etwa das Bild der Colleges und Universitäten, sondern dominieren zahlreiche Sportarten wie Basketball, American Football, Leichtathletik und Boxen. Statistische Erhebungen, die besagen, dass männliche Angehörige schwarzer Unterschichten nach wie vor häufiger als Weiße straffällig werden und zu einem überproportional hohen Anteil in Gefängnissen vertreten sind, deuten darauf hin, dass ein großer Teil immer noch in prekären Verhältnissen lebt. Und obwohl sich ihre gesamtgesellschaftliche Stellung in den letzten fünfzig Jahren stark verbessert hat, zeigt dies auch, dass rassistische Exklusionsmechanismen in der amerikanischen Gesellschaft immer noch wirksam sind. Afro-Amerikaner im Alter von 14 bis 15 Jahren tragen zudem ein sieben- bis achtfach höheres Risiko als Weiße, erschossen zu werden. Konkurrenz machen ihnen hier nur die unter 25-jährigen Hispanics, die durchschnittlich dreimal häufiger ermordet werden als Weiße.

Dieser Vergleich verweist auf einen demografischen Wandel, der dem sogenannten »Rassenproblem«, unter dem man lange Zeit den Schwarz-Weiß-Gegensatz verstand, eine neue Komplexität verleiht. Kennzeichnend für die dritte Migrationswelle, die Ende der sechziger Jahre einsetzte, sind der Rückgang europäischer EinwandererInnen, der Anstieg von »legalen« und »illegalen« EinwandererInnen aus Zentral- und Mittelamerika sowie der Karibik und die spürbare Erhöhung religiöser und ethnischer Differenz. Teilweise ist dies auf die Entscheidung des Kongresses zurückzuführen, das diskriminierende Quotensystem, das bis nach dem Zweiten Weltkrieg galt, durch ein hemisphärisches bzw. globaleres System zu ersetzen, in dem jedem Land gleiche Einwanderungskonditionen eingeräumt werden sollten.Zum »Immigration and Nationality Act of 1965«, siehe u.a.: Patricia Nelson Lemerick, Something in the Soul. Legacies and Reckonings in the New West, New York/London 2001 und Bernd Ostendorf, Einwanderungsland USA? Zwischen NAFTA und Terrorismus, in: Rat für Migration e.V (Hrsg.), Politische Essays zu Migration und Integration, 1/2007. Tatsächlich schlugen sich in der Praxis wirtschaftliche und politische Gründe eher nieder als bürokratische Richtlinien. Erhofft hatte man sich durch die Möglichkeit der Familienzusammenführung eine erhöhte Anzahl von EuropäerInnen; gleichzeitig wollte man die Einwanderung aus Asien und Lateinamerika drosseln, indem erstmals die Anzahl der EinwandererInnen aus Süd- und Mittelamerika der numerischen Begrenzung von 20.000 jährlich pro Nation unterlag. Von der Möglichkeit der Familienzusammenführung profitierten entgegen den Kalkulationen der Johnson-Regierung vor allem AsiatInnen und Latinas und Latinos, ihr Bevölkerungsanteil hatte sich bis Ende der achtziger Jahre jeweils vervierfacht, während der Anteil mitteleuropäischer EinwandererInnen weiter schrumpfte. Die zunehmende Globalisierung schuf eine Infrastruktur von Transport, Kommunikation und sozialen Netzwerken, wodurch die Industrienationen für EinwandererInnen aus Entwicklungsländern tatsächlich erreichbar wurden. Im Jahr 2000 überholten die Hispanic Americans mit 12,5 Prozent (35,3 Millionen im Vergleich zu 1980 14,6 Millionen, 1970 9 Millionen Menschen) der Gesamtbevölkerung die Afro-Americans (12,3 Prozent) als größte Minderheit der USA. Die Gruppe der Asian-Americans stellt bei vergleichbaren Wachstumsraten 2000 3,7 Prozent der Gesamtbevölkerung und wird aufgrund überdurchschnittlicher Leistungen an Schulen und Universitäten als model minority gehandelt.Franklin Ng (Hrsg.), The History and Immigration of Asian Americans, New York 1998, xi. Zunehmend wichtige Herkunftsregionen sind der Nahe und Mittlere Osten, Afrika und seit 1989 Osteuropa, wodurch vor allem der Anteil orthodoxer ChristInnen und Muslime in den USA zunimmt. Zukünftig wird davon ausgegangen, dass die so genannten ethnischen Minderheiten weiter wachsen und Mitte des 21. Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung stellen werden, während der weiße Bevölkerungsanteil sinkt.

Der statistische Anstieg ethnischer und auch »rassischer« Zuordnung zeigt, dass Formen ethnischer Selbstvergewisserung bei EinwandererInnen der dritten Migrationsperiode zunehmend an Bedeutung gewinnen. Das steigende Selbstbewusstsein zeigt sich auch bei Volkszählungen, bei denen die Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen auf »self-identification« beruht. Parallel dazu lässt sich vor allem anhand gesellschaftlicher und ideologischer Kräfteverhältnisse beobachten, dass im so genannten transnationalen Zeitalter neue identitätspolitische Diskurse herausgebildet werden, in denen das nationale kulturelle Kapital und seine Bewahrung in den Vereinigten Staaten zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Die klassische Idee eines »Corporate America«, die nach wie vor durch eine latente Fixierung auf das Ideal des europäischen Einwanderers geprägt ist, impliziert eine kulturelle Distanz gegenüber den Eingewanderten aus sogenannten Drittweltstaaten. Insbesondere in Bezug auf die Hispanics werden sprachliche und kulturelle Differenzen und nationale Identität als Spannungsverhältnis wahrgenommen.

Das Ende des Schmelztiegels?

In den USA werden die Konsequenzen jüngster Migrationsentwicklungen mit Begriffen wie »ethnischer Pluralismus« und »Multikulturalismus« zum Teil beschönigt oder durch eher negativ besetzte Schlagwörter wie »the browning of America« und »third-worldization« beschrieben, in denen sich die rechte Furcht vor dem Verschwinden der angelsächsischen Substanz ausdrückt. Im Rahmen der Sicherheitsdebatte nach 9/11 wird teilweise versucht, eine Verbindung zwischen Einwanderung und Terrorismus herzustellen. Die Grenze zu Mexiko wurde von einem Einwanderungsgegner im Kongress sogar als »terrorist alley« bezeichnet, obwohl bis dato noch kein Terrorist gefasst werden konnte, der dieses Schlupfloch wahrgenommen hatte. Auch die Bush-Administration mobilisierte bei der Verschärfung der Einwanderungsgesetze und der fortschreitenden Militarisierung der Grenzräume ähnliche Vorstellungen. Mit demselben Erfolg, den auch sein Vorgänger Clinton unter dem Motto »Make our borders safe« verbuchen konnte, nämlich dem exponentiellen Anstieg der illegalen Einwanderung, ihrer Kriminalisierung und der Kostenexplosion bei der Sicherung der Grenzen. Unterstützt wird diese Praxis weiterhin von der politischen Rechten, die sich zusammensetzt aus NationalistInnen, Paleokonservativen, paranoiden GrenzschützerInnen, ArbeitnehmerInnenvertretung der weißen Mittelschicht und linken sowie rechten ÖkologInnen, die aus Umweltschutzgründen ein Null-Bevölkerungswachstum wünschen und jeden Vorschlag zur Legalisierung der Illegalen ablehnen. Die Mehrheit der KritikerInnen wenden sich entschieden gegen zu viel Einwanderung, da sonst die Nation Schaden nehmen bzw. ihre Auflösung vorangetrieben werden würde, wie man im Kontext der Diskussion um das umstrittene North American Free Trade Agreement (NAFTA) befürchtete.

»Who are we?«, fragt der ehemalige Demokrat Samuel Huntington in seinem 2004 erschienenen Buch zur Krise der amerikanischen Identität. Die hier vorfindbare Rede von einer anhaltenden Bedrohung durch eine so genannte »Immigration Time Bomb«Samuel Philips Huntington, Who Are We? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg 2004.(5) erinnert an gängige Formen von Überfremdungsängsten, die weniger neu sind als die verstärkt offene Hinwendung zur Idee eines weißen, angelsächsisch-protestantischen Amerika, dessen Verteidiger (wie Huntington) das Argument der Leitkultur für sich entdeckt haben. Nicht zwingend in Übereinstimmung mit genannter Argumentation reagieren NeoCons und ehemalige Demokraten auf langzeitliche gesellschaftliche Konsequenzen der Einwanderung, die seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre die ideologische Perspektive auf Migration in den USA veränderte. Zum einen fürchten sie aufgrund des Anstiegs der Kriminalität, der Armut und der angeblich hohen Belastung des Sozialsystems um die Belastbarkeit der amerikanischen Gemeinschaft und Nation. Gleichzeitig sind sie gegen linksliberale Errungenschaften wie die Idee der multikulturellen Gesellschaft, gegen »Affirmative Action«, die nicht zuletzt durch Condoleezza Rice auch als »positive Diskriminierung« bekannt wurde, und gegen Bilingualismus. Die Bewahrung des nationalen kulturellen Kapitals der Vereinigten Staaten und darum kreisende Identitätsdiskurse und Forderungen nach Einwanderungskontrollen und -verboten stützen sich seit Ende der achtziger Jahre gegenseitig. Eher liberale und weniger wertkonservative EinwanderungsgegnerInnen hingegen fordern vor allem eine wirksame marktorientierte Regulierung.

Der Immigration Reform and Control Act von 1986 ließ schon im Namen erkennen, dass es fortan hauptsächlich um die Regulierung und Reduzierung der Zuwanderung gehen sollte. In Kalifornien haben so genannte illegale EinwandererInnen seit 1994 keinen Anspruch mehr auf soziale Dienste und Hilfeleistungen, während im selben Atemzug die steigende Kriminalität und Armut der Hispanics als Indiz für fehlenden Integrationswillen interpretiert werden. Das neue Einwanderungsgesetz von 1996 befasste sich insbesondere mit der so genannten illegalen Einwanderung. Parallel dazu zeichneten sich auch bei MigrationsoptimistInnen eine Abkehr vom Ideal des Melting Pot und eine Hinwendung zum ethnischen Pluralismus und Partikularismus ab. Die VerfechterInnen des Multikulturalismus billigen den einzelnen Minderheiten die Bewahrung und Fortbildung ihrer jeweiligen kulturellen Identität zu, möchten ihnen jedoch Kritikfähigkeit und Toleranz vermitteln und keinesfalls die Integration erzwingen. Die hier suggerierte Annahme, gesellschaftliche Integration würde am Integrationszwang scheitern, missachtet die Tatsache, dass in den USA, wie in jeder kapitalistischen Gesellschaft auch, Arbeit und Konsum Grundvoraussetzungen gesellschaftlicher Teilhabe sind. Ebenso blind scheinen Einwanderungsgegner gegenüber der fiskalischen Tatsache, dass die billigsten Arbeitskräfte, die so oft problematisierten »Illegalen«, für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten mittlerweile existenziell sind. Beide Seiten kolportieren den seit längerem bestehenden Widerspruch zwischen politischer Absicht und fiskalischer Realität: Denn eine der Hauptursachen gesellschaftlicher Segregation migrantischer Gruppen ist die ökonomische Exklusion einer vom Arbeitsmarkt geförderten Klasse der »working poor«. Ferner leben die legalen und illegalen EinwandererInnen auf einem Gehaltsniveau, das gesellschaftliche Teilhabe kaum möglich macht. Individuen dieser Schichten bleiben dadurch wesentlich stärker auf Familienzusammenhalt und Netzwerke nationaler und ethnischer Gruppen der Herkunftsländer angewiesen. Die Aussichten auf gesellschaftlichen Aufstieg liegen für sie in utopischer Ferne.

Der Preis einer Tomate

Mit dem Inkrafttreten des Immigration and Nationality Act von 1965 wurde auch das Bracero-Program beendet, unter dem seit 1942 zeitlich begrenzt etwa 250.000 mexikanische GastarbeiterInnen für die Ernte von Wein, Tomaten, Äpfeln, Zitrusfrüchten und Gemüse ins Land gelassen wurden. Nach der Beendigung dieses Programms schoss die Zahl der »illegalen« EinwandererInnen in vergleichbarem Umfang schlagartig in die Höhe, da die ehemaligen Saison- und GastarbeiterInnen nun versuchten, illegal über die Grenze zu ihren ehemaligen Arbeitgebern zu kommen. Dauerhaft hatte das Bracero-Programm einen »doppelten Hunger des Marktes« produziert: erstens den Bedarf der ArbeitgeberInnen an billigen Arbeitskräften, denn die entstandenen Billigjobs wurden von Einheimischen als unzumutbar abgelehnt, und zweitens den Bedarf der KonsumentInnen an billigen Produkten. Seither konnte man beispielsweise im Agrarsektor der Ersten Welt zu Bedingungen der Dritten Welt produzieren. Man hatte eine neue Klasse der »working poor« importiert, die sich fortan zu einem beachtlichen Maß aus so genannten »Illegalen« rekrutierte, deren Anzahl mit der fortschreitenden Informalisierung der Arbeit und entsprechend konjunktureller Zyklen an- und abschwoll. Unter den gegebenen Voraussetzungen ruinieren »illegale« Arbeiter mexikanischer und brasilianischer Herkunft ungewollt den Agrarexport der zu Hause gebliebenen Bauern gleich mit, so dass Letztere am Ende häufig Ersteren folgen. Die Wirtschaft Mexikos ist den Export von Arbeitskräften und die regelmäßigen Überweisungen von Mexikanern in den USA mittlerweile dermaßen gewöhnt, dass Wirtschaftsreformen vernachlässigt werden. Zusätzlich führten die Deindustrialisierung, der Abbau der industriellen Fertigung und ihre Verlagerung in die Schwellenländer zu einem merklichen Downsizing des Arbeitsmarktes und zu einer Art »Wal-Marting« des Lohnniveaus. Amerikanische Unternehmen, die unter normalen ökonomischen Bedingungen und vor allem bei Normallöhnen längst ausgewandert wären, können dank der migrantischen Arbeiterschaft in den USA selbst zu Drittweltlöhnen landwirtschaftliche Produkte herstellen. Um sich ein Bild davon zu machen, was »Normallohn« in diesem Sektor meint, sei hier auf die jüngsten Erfolge der legalen TomatenpflückerInnen in Florida verwiesen: Burger King hat mit der Coalition of Immokalee Workers ein Abkommen geschlossen, nun einen Cent mehr pro Pfund (450 g) gepflückter Tomaten zu zahlen.The Economist, Nr. 39, 2008. Inklusive dieser ersten Lohnerhöhung nach dreißig Jahren müsste ein Pflücker utopische 15 Körbe a 32 Pfund täglich abliefern, um auf den in Florida geltenden Mindestlohn von 6,79 Dollar zu kommen. Burger King zeigte sich zudem offiziell beschämt, dass zwei Mitarbeiter die Pflücker online als »bloodsuckers« und »lowest form of human life« bezeichnet hatten. Abgesehen von Taco Bell und McDonald's, die bereits seit einem Jahr einen Cent mehr pro Pfund zahlen, ist man weiter hartnäckig. Die Bio-Supermarktkette Whole Foods – Lieblingsladen amerikanischer NaturliebhaberInnen und PhilanthropInnen – zahlt die »Ein-Cent-Lohnerhöhung« zum Beispiel nicht, macht aber weiter durch Jute-Taschen mit dem Aufdruck »Feed the Children« auf Probleme der Armut und Unterversorgung aufmerksam.

Be My Guest Worker

Alle seit 1986 im Zehnjahresrhythmus verabschiedeten Reformen des Einwanderungsgesetzes, die abgesehen von einer einmaligen Amnestierung illegaler EinwandererInnen 1986 vor allem die Militarisierung der Grenzen vorantrieben, waren gemessen an dem Ziel, die illegalen EinwandererInnen aus Zentral- und Mittelamerika und der Karibik loswerden zu wollen, kontraproduktiv. Denn die ehemals zirkuläre Migration einzelner Männer führte zu einer längeren Aufenthaltsdauer oder zum Verbleib ganzer Familien in den USA. Verständlich, da infolge der Militarisierung der Grenzübertritt ein weitaus höheres Risiko darstellt. Erst recht bleibt man lieber gleich vor Ort, wenn man mit einem teuren Schlepper die Grenze überquert hat, und holt die Familie auf demselben Weg nach. Die illegale Einwanderung nahm deshalb ab Ende der achtziger Jahre nicht trotz, sondern wegen staatlicher Maßnahmen zu. Das Geschäft mit der Migration ist nach wie vor lukrativ, wenn auch zunehmend gefährlich. Würde man die zirkuläre Migration zulassen, so die Prognosen, würden um die fünfzig Prozent der mexikanischen ArbeiterInnen zurückkehren, da das Ziel der ArbeitsmigrantInnen zumeist die Verbesserung der Lebenssituation im Herkunftsland sei.Ostendorf, Einwanderungsland USA? Inzwischen hat die illegale die legale Einwanderung überholt, die Zahl der illegalen Arbeiter in den USA wird auf circa elf bis zwölf Millionen geschätzt, mehr als die Hälfte von ihnen stammen aus Mexiko. Abgesehen davon, dass die Präsenz von Illegalen die technologische Entwicklung im Agrarsektor hemmt, profitieren viele AmerikanerInnen als ArbeitgeberInnen und KonsumentInnen in zweifacher Hinsicht von dem Strukturwandel des Niedriglohnsektors infolge legaler und illegaler Migration. Jenseits der Landwirtschaft decken vor allem Frauen und Kinder den Bedarf an billigen Arbeitskräften in der Kinderbetreuung und Haushaltsführung durch die nunmehr globalisierte weibliche Arbeitsteilung.Arlie R. Hochschild, Global Care Chains and Emotional Surplus Value, in: Will Hutton, Anthony Giddens (Hrsg.), On the Edge. Living with Global Capitalism, London 2000, 130–146. Die amerikanische Gesellschaft hat sich einen durch den Arbeitsmarkt gestützten »illegal habit« der »working poor labor« regelrecht angewöhnt, selbst hochrangige PolitikerInnen, die sich offiziell gegen Einwanderung und Überfremdung wenden, müssen von Zeit zu Zeit ihren Posten räumen, weil ihre illegalen Haushälterinnen aufgeflogen sind. Der vorherrschenden wirtschaftlichen Logik folgend sieht es zudem so aus, als wäre es lohnender, die Arbeit in bestimmten Sektoren würde illegal bleiben, weil sie ansonsten einfach wesentlich teurer wäre.»Escape from LA: Los Angeles is Losing Illegal Immigrants. That 's Bad News«, in: The Economist, Nr. 29, 2007. Aus dieser Perspektive erklären sich auch derzeitige Allianzen von EinwanderungsbefürworterInnen aus Unternehmenskreisen und migrantischen InteressensvertreterInnen. In Texas wendet man sich vereint gegen die Durchsetzung des 2006 verabschiedeten Einwanderungsgesetzes und fordert eine pragmatische und geschäftsfördernde Reform des Migrationsgesetzes.www.txeir.org. Den konservativen BefürworterInnen einer liberalen Einwanderungspolitik – den VertreterInnen des Big Business, der Agrarwirtschaft, der Zitrus-Industrie, der Restaurants und Hotels – sagt es selbstverständlich nicht zu, dass seit 2006 Razzien in Großunternehmen mit illegalen Beschäftigten zugenommen haben. Auch die Öffentlichkeit zeigte sich empört darüber, dass im Rahmen des von George W. Bush durchgesetzten Einwanderungsgesetzes Familien auseinandergerissen werden sollen, indem illegale Migranteneltern, deren Kinder in den USA geboren wurden, abgeschoben werden können. Einwanderung wird immerhin von rund sechzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung für gut und wichtig gehalten und ist nach wie vor Teil des amerikanischen Selbstverständnisses. Bei den letzten Kongresswahlen 2006 verloren all die Kandidaten, die diesbezüglich einen harten Kurs propagierten; die Wähler folgten stattdessen einer moderaten und weniger restriktiven Einwanderungspolitik. Selbst wenn Fragen der Einwanderung und Assimilation politische Evergreens sind, eignen sie sich in den USA nicht für einen Parteienstreit. Sogar konservative republikanische Abgeordnete bemängeln die schleppende Gewährung von Asylanträgen seit 9/11 wie auch die Interpretation des Patriot Act durch das Department of Homeland Security als zu eng und moralisch nicht vertretbar.Ostendorf, Einwanderungsland USA?, 17. Nichtsdestotrotz zeigen Umfragen aber auch, dass sich MigrantInnen zunehmend unwillkommen fühlen, einen Anstieg der Xenophobie wahrnehmen und Angst vor Deportationen haben.Nogales, A Turning Tide?, in: The Economist, Nr. 30, June /July 2008. Diejenigen, die ehemals an der Grenze einfach zurückgeschickt wurden, wandern nun unter Umständen ins Gefängnis.

Dies ist bestimmt nicht der einzige Grund, warum in Grenznähe zu Mexiko in den letzten sechs Monaten ein Rückgang gefasster Personen ohne gültige Papiere um siebzehn Prozent zu verzeichnen war. Und auch der Zaun entlang der mexikanischen Grenze hat sicher nicht allzu viel damit zu tun, dass die Summe Bargeld, die über Jahre aus den USA nach Mexiko gesandt wurde, ebenfalls spürbar gesunken ist.Ebd. Vielmehr sind ins Stocken geratene Migrationsströme mit der schwächelnden amerikanischen Wirtschaft und der im Mai dieses Jahres auf 5,5 Prozent gestiegenen Arbeitslosigkeit in Verbindung zu bringen. Der Konjunktureinbruch im Baugewerbe beispielsweise ist besonders für die hohe Zahl der hier tätigen MigrantInnen schmerzvoll. Laut einer Studie des Pew Hispanic Center ist die Arbeitslosigkeit bei Latinos 2007 auf 8,4 gegenüber 7,5 Prozent im Vorjahr, bei gleichzeitigem A

bfall des Lohnniveaus im Bausektor, angestiegen.<sup>Ebd. Die Migration von billigen Arbeitskräften bleibt auch bei wirtschaftlichen Einbrüchen in üblichen Zielländern notwendig und wird bei konjunkturellem Bedarf an billigen Arbeitskräften erneut zunehmen, was insbesondere auch für die überalterten Gesellschaften in Europa zu erwarten ist. Die Länder Lateinamerikas hingegen werden vorerst jung und arm bleiben, und deshalb wird es auch nicht an denjenigen mangeln, die ihre mit mehr Menschen als Arbeit ausgestatteten schmutzigen und verarmten Slums verlassen wollen. Die Vielfalt der Armuts-»Kulturen«, die sich in den Zielländern der »working poor« etabliert haben und von rechten EinwanderungsgegnerInnen als Ausdruck der Assimilationsweigerung, von BefürworterInnen des Multikulturalismus als Indiz des gewünschten ethnischen und kulturellen Pluralismus interpretiert werden, sind also auch Effekt genannter ökonomischer Bedingungen. Eine zunehmend positive ethnische Selbstzuschreibung an den Rändern der amerikanischen Gesellschaft ist vor diesem Hintergrund nicht gleichzusetzen mit der Wahl kultureller Freiheit, sondern auch Ausdruck eines Gefangenseins im Multikulturalismus. Nachdem der Multikulturalismus nach 9/11 gegenüber dem kulturellen Konservatismus in die Defensive geraten war, ist mit der Wahl Barack Obamas die Renaissance der Vielfalt um der Vielfalt willen zu erwarten – die Toleranz gegenüber kultureller als auch sozioökonomischer Differenz.

PHASE 2 LEIPZIG