Die Intellektuellen mögen selten oder fragwürdig geworden sein, gerade keine gute Zeit oder ihren gesellschaftlichen Zenith bereits überschritten haben, das Bedürfnis über sie zu schreiben ist hingegen ungebrochen. Gerade akademisch Beschäftigte scheinen kaum genug von geschichtlichen, soziologischen und zeitdiagnostischen Äußerungen zu dieser schwer bestimmbaren Gruppe zu bekommen. Oft folgen sie dabei dem Bedürfnis, mehr sein zu wollen als Rädchen im akademischen Betrieb, tragen aber gerade damit zu einer Akademisierung der Kritik bei.
Auch der vorliegende Text wird diesem Zusammenhang nicht entgehen, soll aber zu seiner Aufklärung beitragen und seine aktive, politische Neubestimmung denkbar machen. Dazu gilt es einerseits, gegenwärtige Typen von Intellektuellen einzuschätzen und historischen Alternativen gegenüberzustellen, andererseits jedoch, Distanz zu den großen Intellektuellen der bürgerlichen Phase(n) zu wahren. Wenn heute jemand Émile Zola oder Susan Sontag beerben kann, sind es wohl nicht Peter Sloterdijk oder Slavoj Žižek, sondern die Massenintellektuellen des (angeblich) kognitiven und kreativen Kapitalismus, die nicht selten an Hochschulen ausgebildet und sogar beschäftigt werden. Gegen die Akademisierung der Kritik könnte ein neues, bündnisfähiges Klassenbewusstsein der Akademisierten helfen. Sie müssten dazu einerseits eigene Probleme wie prekäre Arbeitsbedingungen jenseits der Professur und den hohen Wettbewerbsdruck durch nur projektbezogene Anstellungen angehen, um andererseits gemeinsame Interessen mit weiteren Gruppen – von der IT-Szene bis in die Sozialarbeit – entdecken zu können. Für die Ziele bestünde einiger Spielraum. Natürlicher Gegner wären die staatlich geschaffenen Hierarchien und Ausschlüsse, die selbst das öffentliche Gut Wissen in die Formen von Konkurrenz und Verwertbarkeit pressen.
Die Hälfte der Wahrheit: Berufs-, Freizeit- und Medienintellektuelle
Zur Diagnose, dass mit den Intellektuellen gegenwärtig etwas nicht stimme, gehört der Hinweis, dass dies bereits öfter bemerkt wurde. Ihr Ende oder ihre fatale Verirrung wird bereits seit den 1920er Jahren immer wieder erklärt. Doch erst seit den späten 1980ern knüpft man die Krise der Intellektuellen eng an ihre Akademisierung. Hatten Lyotard und Foucault noch eher zustimmend eine neue Zeit der Spezialisierung oder der spezifischen Intellektuellen ausgerufen, vermisst man besonders in den USA seit Russell Jacoby die public intellectuals, freie Schreibende, die lesbar und pointiert eine breite Öffentlichkeit ansprechen. Zugleich betont Jacoby, dass die akademisch Etablierten als Gruppe höchstens scheinradikal sein können. Mir scheint dies alles zwar erst die Hälfte der Wahrheit zu sein, doch bevor ich einiges ergänze (und einwende), will ich ausführen, was an dieser Diagnose zutrifft. Dazu eignet sich eine kleine Ad-hoc-Typologie gegenwärtiger Intellektueller, der Einfachheit halber hauptsächlich mit Beispielen aus dem linken Lager.
Beginnen lassen möchte ich sie, anknüpfend an die zurzeit verbreitete Kategorisierung kritischen Denkens als Künstlerkritik, Sozialkritik, immanente oder transzendente Kritik usw., mit dem Typus der »Apparatschikkritik«. Sie stellt sich ein, wenn in der Nachgeschichte früherer Kämpfe akademische Rolle und politische Mission weitgehend verschmelzen – zu beobachten bei US-Intellektuellen wie Richard Rorty, Michael Walzer und Nancy Fraser, aber auch bei europäischen SpezialistInnen für Kritische Theorie und ihre normativen Grundlagen, Soziologie der Kritik und kritische Soziologie. Die VertreterInnen der Apparatschikkritik haben ihre Aufgabe darin gefunden, im Seminar über Herrschaft, Ausbeutung, Ungleichheit, Exklusion, Sexismus, Rassismus und Umweltzerstörung aufzuklären, kennen die maßgeblichen Positionen und Argumente im Feld und fügen gelegentlich neue hinzu. Engagement außerhalb des Campus ist damit nicht mehr zwingend erforderlich. Zwar hilft diese Tätigkeit offenkundig, kritisches Wissen zu sammeln und durchzuarbeiten und kann sogar Spuren im Bewusstsein der Studierenden hinterlassen, politische Gesten sind dabei jedoch bestenfalls hilflos, oft gar heuchlerisch. Wo polit-akademische Gelehrte fast ausschließlich für polit-akademischen Nachwuchs schreiben und reden, ist ihre Politik von vornherein neutralisiert; perfide wird das Spiel, wenn mit der lokal oder konjunkturell gefragten Kritik im Großraum Frankfurt oder New York, in Drittmittelwettbewerben oder an Lehrstühlen, mit Gender Studies oder postkolonialer Theorie akademisch Karriere zu machen ist. Wer das miterlebt, kommt leicht in Versuchung sich in Zeiten zurücksehnen, in denen Antonio Gramsci, Simone de Beauvoir und selbst noch Hannah Arendt die ArbeiterInnenschaft, ein weibliches oder zumindest ein fachfremdes Bildungsbürgertum erreichen konnten.
Publikumsnäher sind die Interventionen von Intellektuellen, die mit geistiger Arbeit ihren Unterhalt verdienen und außerdem politisch aktiv sind. Seit Sartre sieht man hierin den Musterfall: Fachliche, auch literarische Reputation wird für politisches Engagement zweckentfremdet. Ungewollt kritisch beschreibt Jürgen Habermas die gleiche Struktur, wenn er sich und andere als Intellektuelle im »Nebenberuf« begreift: ProfessorInnen belehren in ihrer Freizeit oder für einen Zuverdienst auch das breitere Publikum über politische Fragen. Es ist wichtig zu sehen, dass mindestens zwei Aspekte dieses Musters veränderlich sind. Dominant wird es erst, wenn passende Grundbeschäftigungen bereitstehen, und erst in jüngerer Zeit ist dabei die Arbeitgeberin Hochschule führend. Generationen von teils publizistisch, teils politisch, teils irgendwie Arbeitenden mussten ohne diese Grundlage auskommen (oder waren anderweitig versorgt); zeitweise konnte man sogar direkt als Intellektuelle ein Auskommen finden. Wenn geistig-politisches Handeln stattdessen zum Supplement der Professur wird, setzt das bestimmte Akzente: verdichtete Gruppeninteressen, große Staatsnähe und institutionell eingeübte Haltungen. Inhaltlich bleibt dabei vieles möglich, sogar die Solidarisierung mit nichtakademischen Klassen. Aber der Trend geht zu den politisch unspezifischen Typen, die der Bundeszentrale für politische Bildung gefallen: Fachleute, die gerne über den Tellerrand schauen, oder allgemein Interessierte, die tief besorgt Menschheitskrisen erkennen. Ob Harald Welzer über‘s Klima, Joseph Vogl über‘s Finanzkapital, Hans-Ulrich Wehler über soziale Ungleichheit oder die Türkei schreibt, ist dann beinahe egal. Unterhalb ihrer Privatmeinungen zeichnet sich kein Widerstreit sozialer Kräfte ab, sondern ein Gefüge institutioneller Macht.
Wer abseits davon nach Intellektuellen sucht, findet heute Medienintellektuelle. Sie beackern auch akademische Themen und haben häufig sogar eine Professur, zumindest aber geringes fachliches Ansehen. Bedenkt man zusätzlich, dass sie sich eben durch Erfolg auf dem Kultur- und Meinungsmarkt auszeichnen, kann man von einer tatsächlich dünnen Substanz ausgehen. Beispiele wie Norbert Bolz, Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk, das französische Vorbild Bernard-Henry Lévy oder die bisher letzte deutsche Steigerung Richard David Precht bestätigen diese Beobachtung unmittelbar und müssen hier nicht diskutiert werden. Interessant ist jedoch, dass ihr gehäuftes Auftreten darauf hindeutet, dass Intellektuelle zusehends funktionslos werden. Adornos Frage, ob jemand wirklich etwas vermissen würde, wenn es keine Kulturindustrie mehr gäbe, klingt in diesem Sonderfall angebracht; ich komme darauf zurück. Zunächst soll die Überlegung genügen, ob man als Medienclown nicht auch Freiheiten hat, die seriösen AkademikerInnen abgehen. Dafür lohnt ein Blick auf die Grenzfigur Slavoj Žižek. Seine Texte und Auftritte verbinden theoretische und kulturelle Versiertheit, hohen Unterhaltungswert, Verständlichkeit, Lust am Tabubruch und oppositionellen Geist. Obgleich man den letzten Punkt sogar »konsequent kommunistisch« nennen kann, erhält man bemerkenswert wenige politische Anstöße. Ob Žižek die Toleranz als heimlichen Nichtberührungswunsch entlarvt, Lenin als Modell fürs Anfangen aus dem Nichts lobt oder gegen die ökologische Katastrophe »egalitarian-revolutionary terror« empfiehlt, Slavoj Žižek, Joe Public v the Volcano, in: New Statesman vom 29. April 2010, http://0cn.de/rpyb. Der Gedanke ist wie fast immer gewitzt: Žižek fordert Gleichheit der Emissionsrechte, ihre revolutionäre Durchsetzung und die Furcht verbreitende Denunziation von Verstößen, um dann zu schließen: »Once upon a time, we called this communism.« er gibt sich grundsätzlich extremer, als das größere Gruppen vernünftig wollen oder verbündet mit anderen erreichen können. Das legt den Schluss nahe, dass in seiner Praxis Aufmerksamkeit wichtiger ist als politische Wirkung. Auf einem Buchcover wird er im Pressezitat als »The most dangerous philosopher in the West« angekündigt, wobei die größte Gefahr wohl seiner langweiligeren philosophischen Konkurrenz droht.
Die schwache Alternative: Kulturindustrie für Gebildete
Das bisherige Bild ist sicher übertrieben akademisch gezeichnet. Selbst Žižek erläutert wesentlich seminarfähige Theorien, umgekehrt könnte man einige nichtprofessorale Namen nachtragen: Naomi Klein, Anrundhati Roi, Botho Strauss, Dietmar Dath ... Doch der historische Abgleich lässt wenig Zweifel, dass sich das Gewicht wirklich auf die betrachtete akademische Seite verlagert hat. Man muss nur festhalten, was auf der anderen Seite fortgefallen ist. Zwischen den 1940er und den 1970er Jahren hatte sich in den USA und den europäischen Demokratien eine beeindruckende Reihe von Zeitschriften und Verlagen– vom Partisan Review über Les Temps Modernes bis zum Kursbuch, von Einaudi, Feltrinelli und Gallimard bis Suhrkamp – etabliert, in denen viele ihre Gedanken gegen Bezahlung veröffentlichen konnten. Nicht wenige Intellektuelle haben sich damals durch Beiträge, Editionstätigkeit und Bücher finanziert oder einen Namen gemacht. Berühmte Fälle sind George Orwell, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Günther Anders, Susan Sontag und Hans-Magnus Enzensberger. Das Spektrum war breit und die Anliegen der undogmatischen Linken (Antifaschismus und die Abwendung vom Staatssozialismus, Feminismus, Diskussionen um engagierte Kunst und die Kritik der kapitalistischen Kultur) waren umfassend vertreten. Noch das heutige Verständnis davon, was Intellektuelle sind und sein sollten, lebt von dieser Periode. Eine andere Frage ist, ob man sie zurückhaben will.
Um hier klarer zu sehen, lohnt es, die möglichen Motive zu prüfen. Das in meinen Augen stärkste – soziale Bündnisfähigkeit – stelle ich dabei zurück, um zunächst abstraktere Ziele zu betrachten: Unabhängigkeit, allgemeine Verständlichkeit und allgemeines Interesse. Ihre Analyse ergibt ein ziemlich schlüssiges Bild der beteiligten Bedürfnisse und ihrer Erfüllung. Zunächst ist einiges zu ergänzen: Im Kapitalismus heißt Unabhängigkeit auch außerhalb institutioneller Versorgung auf dem kulturellen Markt überleben zu können; allgemeine Verständlichkeit ist dabei notwendig, um ein hinreichend breites und zahlendes Publikum zu erreichen; soll dieses schließlich mehr geboten bekommen als Unterhaltung, sind allgemein relevante Themen von Politik und kollektiven Traumata über Kunst bis zu Moral, Existenz- oder Lebensstilfragen erforderlich. Insgesamt ergibt das eine Art Sartre-Schablone, die für konservativere Bedürfnisse etwa auch Karl Jaspers ausfüllen kann. Widerstand und deutsche Schuld, engagierte oder nichtgegenständliche Kunst, Existenzialismus als Humanismus und Grenzsituationen des Lebens, die Leere der technischen Zivilisation, der Schrecken der möglichen atomaren Vernichtung und das Elend der Kolonisierten – über all dies werden die Gebildeten der 1950er und 1960er Jahre angeregt durch luzide Abhandlungen viel diskutiert haben. Für Jüngere schlüsselten dann Intellektuelle wie Sontag die neue Körperlichkeit der Popkultur auf, bevor Ende der 1960er die Universität zum bestimmenden Schauplatz zu werden begann. Die knappe Schilderung soll weder die Beteiligten noch ihre Themen lächerlich machen; dennoch bleibt ein fader Nachgeschmack. Der Grund lässt sich mit Sartre benennen: Die Intellektuellen seiner Ära waren nicht auf Themen oder Methoden (nicht einmal philosophische) spezialisiert, sondern »Techniker des Allgemeinen«. Sie blieben so ständig unter den Möglichkeiten, die sie als geistig Arbeitende gehabt hätten. Ihr allgemein gebildetes Publikum (ein entsprechendes gegenwärtiges stellt vermutlich die Zeit-Leserschaft dar) hätte zu viel Wissen und Anspruch auf einmal nicht vertragen. Zudem hätte die steigende Häufigkeit politischer Auftritte die Chancen, sich konsequent zu engagieren verringert, denn auch BildungsbürgerInnen brauchen thematische Abwechslung.
Im Gegenschluss wird verständlich, dass akademische Intellektuelle allen Grund hatten als sie selbst, situiert und spezialisiert statt als allgemein bleibende SprecherInnen der Menschheit in der gebildeten Öffentlichkeit aufzutreten. Mit Foucault konnten sie sich schließlich als spezifische Intellektuelle begreifen, die unmittelbar oppositionell oder subversiv handelten, indem sie ihre geistige (juristische, medizinische, sozialpädagogische, informationstechnische oder akademische) Arbeit umdefinierten. Mit dieser Wendung waren diverse Hoffnungen etwa auf Vielfalt, wirksame Praxis und ein Ende der Bevormundung unterprivilegierter Massen durch einige selbsternannte SprecherInnen verbunden. Das oben gezeichnete Bild akademischer Intellektualität legt nahe, dass die wenigsten davon verwirklicht wurden oder sich auch nur sinnvoll verfolgen lassen. Auch akademische Fachleute sprechen, wenn sie sich politisieren, für andere Gruppen, und eine Institution, die ihren Mitgliedern Lebens- und Bedeutungschancen zuweist, wird von diesen gewöhnlich nicht selbst vital angegriffen. Damit scheint nur die Wahl oder das Lavieren zwischen zwei schlechten Alternativen zu bleiben – und zwar selbst dann, wenn man den Unterstrom sozialer Bündnisfähigkeit explizit macht: Die freien Intellektuellen der Sartreära scheinen nur für die Unterdrückten sprechen zu können, indem sie zugleich zum Bildungsbürgertum sprechen. Die akademischen Intellektuellen der Gegenwart bilden tendenziell sogar einen eigenen, stark staatsverbundenen, wenig auf soziale Koalitionen angewiesenen Stand.
Die Perspektive verschiebt sich allerdings, wenn man die stille Voraussetzung aufgibt, dass Intellektuelle prominente Einzelfiguren sein müssen. Diesen Schritt legt Foucault zumindest nahe, indem er erlaubt, abweichendes intellektuelles Handeln auch diesseits der allgemeinen Öffentlichkeit zu denken: Geistig Arbeitende, die ihre psychiatrischen, (sozial)pädagogischen oder auch wissenschaftsbürokratischen Kontexte umzugestalten versuchen, greifen in Fachdiskurse und Machtordnungen ein, ohne gleich in der Zeitung zu stehen. Weiterhin treten der allgemeinen Öffentlichkeit im Internetzeitalter viele Teilöffentlichkeiten zur Seite, die Diskussionen segmentieren, aber fallweise trotzdem massenwirksam werden. Und die möglichen Intellektuellen organisieren sich schließlich schon lange in AbweichlerInnengruppen (etwa einer nicht neoklassischen Ökonomie), Diskussionskreisen oder politischen Denkkollektiven (von der Mont Pelerin Society, die den Neoliberalismus vorbereitet hat, bis zu den marxistischen Kleingruppen, die in seiner Verfallsphase neu aufblühen) massenhaft selbst. Vor diesem Horizont muss man auch die akademischen Intellektuellen nicht zwingend als ständisch abgeschlossen begreifen. Die Alternative wäre, dass sich zukünftig viele von ihnen als Teil einer Klasse ambivalent freigesetzter, selbst gestalteter und zugleich potenziell überflüssiger WissensarbeiterInnen begreifen.
Mehr als die andere Hälfte: Geistige Arbeit und Unterbeschäftigung
Der Intellektuellenbegriff muss dafür nicht nur geöffnet, sondern auch positiv ergänzt werden. Ein Ausgangspunkt ist, dass die Gruppe der »intellektuell« oder »kognitiv« tätigen Menschen größer wird. Sie programmieren, organisieren, verbreiten Nachrichten und Meinungen, vermitteln oder entwickeln komplexes Produktionswissen. Wer will, kann sie (wie der Postoperaismus und ältere SoziologInnen) unterschiedslos alle als »Intellektuelle« oder »Massenintellektuelle« bezeichnen. Mir scheint es jedoch klüger, in ihnen (einem genaueren Sprachgebrauch folgend) nur mögliche Intellektuelle zu sehen, solange sie bloß ihre geistige Arbeit tun. Um die wirksame Kompetenzüberschreitung einzuholen, die Intellektuelle à la Sartre interessant machte, sind mindestens zwei Ergänzungen nötig. Erstens hilft es, vorrangig technische Intelligenz von professioneller Deutungsarbeit zu unterscheiden, wie sie im weiten Feld von Kirchen, Parteien, Schulen und Hochschulen, Journalismus, Recht, Verbänden, Kunst, Kulturindustrie und Werbung geleistet wird. Zweitens fällt jedoch auf, dass eine Kernfunktion dieser Deutungsarbeit immer schon variabel bzw. umkämpft ist – die politische. So entsteht der Spielraum für die Tätigkeit, an die ich im Folgenden den Intellektuellenbegriff binde: unbeauftragtes Eingreifen in die politische Weltdeutung.
Diese Grundfigur lässt sich gut mit Antonio Gramsci und Karl Mannheim beschreiben, deren gewöhnlich gegeneinander gestellte Intellektuellenbegriffe deutlich von der Linie Zola-Sartre-Habermas abweichen. Mannheim legte dar, dass Intellektuelle, die über politische Themen sprechen, gewöhnlich andere Interessengruppen vertreten, sei dies die UnternehmerInnenschaft oder das BeamtenInnentum. Ihr einziges eigenes Gruppengut – Bildung, Denk- und Schreibtechniken – kann deren Interessen zwar ins Gespräch bringen, aber kein unabhängiges oder allgemeines begründen. Gramsci macht darüber hinaus klar, dass Intellektuelle auch in ästhetischen, wissenschaftlichen und religiösen Kontexten Zustimmung für politische Institutionen, herrschende oder aufstrebende Klassen organisieren. Dabei gibt es Alternativen. Wenn einige in der Wissenschaft werturteilsfrei bleiben wollen und anderen das unmöglich scheint, wenn Kunst repräsentativ angelegt oder kritisch aufgeladen wird, Priester Verantwortung oder Befreiung predigen, ist der Übergang von der Funktionserfüllung zur Funktionsüberschreitung fließend. Dennoch lohnt es, die Anteile von institutionell verlangter und eigenmächtiger bzw. engagierter Deutungspraxis zu gewichten, um etwa den Professor, der Meinungen äußert, von einer Bewegungsintellektuellen auf dem Lehrstuhl zu unterscheiden. Ergänzend kann man Zusammenschlüsse betrachten, deren geistige Praxis offen politisch ist: Denkschulen, Think Tanks, parteinahe Stiftungen, programmatisch ausgerichtete Zeitschriften, Foren und Informationsnetze. Wenn irgendwo Massenintellektuelle wirken, dann in diesem Feld.
Die Frage ist, ob sich hier qualitativ etwas geändert hat, seit stetig mehr professionelle Wissensarbeit geleistet wird. Ich vermute ja und meine aus zwei Gründen. Einerseits bedeutet die bloße Anzahl und die Lage der möglichen Intellektuellen einen Unterschied, ob und wie einige von ihnen sich eigenmächtig ihre politische Rolle suchen. Andererseits verlangt es das wachsende Gewicht kognitiver Arbeit eine Frage neu zu stellen, die schon Gramsci formuliert hatte: »Sind die Intellektuellen eine autonome und unabhängige gesellschaftliche Gruppe, oder hat jede gesellschaftliche Gruppe ihre eigene und spezialisierte Kategorie von Intellektuellen?« Antonio Gramsci, Gefängnishefte Bd. 7, Heft 12, § 1, hrsg. von Klaus Bochmann u.a., Hamburg 1996, 1497. Dabei war für ihn ebenso klar wie für Mannheim, dass DeutungsexpertInnen ohne eigenständige Position im Produktionsprozess bestenfalls für andere Klassen sprechen können – mit der Besonderheit, dass auch diese »organische« Rolle strukturell bedingt ist, und dem Zusatz, dass Gruppen wie der Klerus eine »traditionelle«, ständische Machtposition aufgebaut hatten. Gegenwärtig scheint jedoch, selbst wenn man Übertreibungen abzieht, die (nicht mehr traditionelle) WissensarbeiterInnenschaft selbst eine produktive Gruppe zu bilden. Damit lautet die Frage genauer, ob diese Gruppe organische Intellektuelle neuen Typs hervorbringt. Ich werde beide Punkte zuerst veranschaulichen und dann theoretisch durchgehen.
Das vielleicht beste neuere Beispiel für den Wandel möglicher zu aktiven Intellektuellen ist problematisch. Als die Occupy-Bewegung auftrat, bemerkte man rasch den hohen Anteil Hochqualifizierter und fragte sich, ob so eine echte Massenbewegung aussehen kann. Es ist sogar fraglich, ob bei so wenigen Beteiligten so viel Medienaufmerksamkeit angebracht war. Bemerkenswert bleibt, dass die selbst ernannten 99 Prozent offen für ihre eigenen Belange eintraten und damit Anklang fanden. Am Beginn der Kampagne standen Porträtfotos mit persönlichen Erklärungen, die hohe Qualifikationen gegen schlechte bzw. nicht vorhandene Jobs hielten. Fast könnte man meinen, dass die JournalistInnen hier ihre möglichen eigenen Bewegungsintellektuellen erkannt haben. Jedenfalls ist klar nachzuvollziehen, wie aus intellektuell Ausgebildeten politisch aktive Intellektuelle wurden – durch Unterbeschäftigung. Vergleichsfälle wie die spanischen Indignados, die studentisch geprägten Unruhen in Athen (bereits vor 2011), Rom, Tel Aviv oder Chile legen nahe, dass dies ein weit verbreiteter Vorgang ist. Das intellektuelle Selbstbewusstsein der Beteiligten wäre zu untersuchen.
Schon jetzt scheinen mir allgemeine Schlüsse angebracht: Die Massenintellektuellen der Gegenwart können in Deutungsinstitutionen beschäftigt sein oder sogar Vollzeitjobs in politischen Organisationen haben. Gewöhnlich ist ihre geistige Praxis jedoch dadurch geprägt, dass ihre geistigen Kompetenzen kein festes und anerkanntes Anwendungsfeld finden. Das ist die strukturelle Rückseite der Akademisierung, die unter anderem früher stark limitiertes Führungs- und Orientierungswissen an große Studierendenmassen vermittelt. Humanistische Bildung war nicht zufällig lange der Oberschicht vorbehalten, die zum guten Regieren (im Staat, auf den Landgütern, in den Unternehmen, in Medizin, Recht und Kirche) Überblick und Abgrenzungscodes brauchte. Pierre Bourdieu konnte sogar behaupten, dass Führungspositionen immer mehr bildungsvermittelt vererbt werden. Erst das Massenstudium hat dieses Muster ins Rutschen gebracht, die StudentInnenrevolte hat sogar Antiführungswissen hervorgebracht. Selbst nach der Bolognareform werden Deleuze und Adorno auch an Pädagogischen Hochschulen und in der Provinz gelesen. Das potenziell öffentliche Wissen, das so entsteht, ist in der privat wissensverwertenden Gesellschaft auf zwei Weisen unterbeschäftigt: einerseits in Gestalt der »prekären Intellektuellen« (Anne und Marine Rambach), die sich mit einigermaßen eigenständiger Diskurs- und Kulturarbeit mal finanzieren, mal als Reservearmee anbieten und andererseits in den brachliegenden Fähigkeiten derer, die nicht primär geistige Berufe haben. In beiden Fällen ergibt sich sozusagen automatisch eine Situation, die in Sartres Welt mutmaßlich von individuellen Entscheidungen abhing: Die intellektuellen Potenziale können nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie sich eine für sie nicht vorgesehene Rolle anmaßen.
Was sie dabei aussichtsreich vertreten können, hängt von der Lage der Wissensklasse insgesamt ab: all derer, die mit langjährig erworbenen Kenntnissen und Kompetenzen ihren Lebensunterhalt in abhängiger, staatlich beauftragter oder (schein-)selbstständiger Arbeit bestreiten und die auch unbezahlt den General Intellect? Frei übersetzt: den allgemeinen Wissensvorrat. Marx verwendet den Begriff an einer berühmten Stelle der Grundrisse, die für wissensbasierte Produktion ein Ende des Wertgesetzes, also der entscheidenden Rolle individuell abgeleisteter und entlohnter Arbeitszeit voraussagt. Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin 1983, 602. Heute leiten die PostoperaistInnen aus dieser These einen stark veränderten Charakter bzw. sogar eine Grundsatzkrise des Kapitalismus ab. ausbauen. Aus dem letzten Feld stammt mein zweites, ebenfalls bekanntes Beispiel. In der Softwareproduktion haben sich Programme mit offenem Quellcode eingebürgert, die im Internet kostenfrei zirkulieren, kollektiv und unentlohnt bearbeitet werden und per Copyleftlizenz sogar vor kommerzieller Verwertung rechtlich geschützt sind. Die Regeln bleiben umkämpft, ihre Geschichte ist von Auseinandersetzungen eigentumskritischer und technisch-pragmatischer Gruppen geprägt. Viele ProtagonistInnen arbeiten hauptberuflich bei großen IT-Firmen. Doch ein klassentheoretisch zentraler Punkt ist unübersehbar: Die Produzierenden haben hier ein ziemlich eigenes Verhältnis zu den Produktionsmitteln (die ihrerseits vielfältig analysierbar sind – ein Ansatz folgt unten). Das gilt erneut auch für andere Fälle: Texte und andere Kulturgüter zirkulieren ebenfalls vermehrt kostenfrei, sodass sich kulturindustrielle Konzerne strategisch neu ausrichten müssen. Vielerorts ist umstritten, inwieweit Wissenschaftsverlage und Technikfirmen öffentlich bezahlte Forschungsleistungen verwerten dürfen. Selbst die Finanzierung akademischer Ausbildung gehört in den Problemkreis. Die offene Frage lautet, was die Wissensklasse daraus macht.
Sie könnte Intellektuelle hervorbringen, die ihren sozialen Entwurf formulieren. Bereits die Entstehung der klassischen Intellektuellen wäre ohne neue Berufe im Staatsdienst, an den Hochschulen, im Journalismus und auf dem literarischen Markt kaum möglich gewesen. Sichtbar wurden sie etwa durch die Unterzeichnung des bald so genannten Manifeste des intellectuels in der Dreyfus-Affäre Eine 1898 publizierte Erklärung, die Zolas Kritik an der (antisemitisch motivierten) Fehlverurteilung des Generals Dreyfus unterstützte – kurz darauf begann man von »Intellektuellen« zu sprechen. Mit Verweis auf die Petition kann man sogar die Gruppen eingrenzen, die als Intellektuelle in Frage kommen. So Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997. Seither hat die geistige Arbeit schrittweise an Gewicht und innerer Vielfalt gewonnen. Eine neue Qualität markiert die Annahme von György Konrád, Iván Szelényi und schließlich Alvin Gouldner, die »neue Klasse« der technischen ExpertInnen und humanistischen DeutungsarbeiterInnen sei auf dem Weg zur Klassenherrschaft. Spätestens zu Ende der 1970er Jahre hatte sie zumindest IdeologInnen gefunden: zum einen die PoststrukturalistInnen , die alles, selbst Politik als Text(arbeit) zu verstehen erlauben, und zum anderen die DiskursethikerInnen, die jede legitime soziale Ordnung auf freie, seminarförmige Diskussion gründen wollen. Die akademische Lage bestimmt dabei allerdings deutlich den Rahmen. Die Genannten haben, mit Gramsci gesagt, noch kaum das korporative, gruppenegoistische Stadium verlassen. Selbst die Artikulation von Interessen der Wissensarbeit würde eine breitere Verständigungsbasis erfordern. Zur »Kultur des kritischen Diskurses«, die bereits Gouldner als Leitideologie erkannt hat, müssten gemeinsame Ziele der beteiligten Gruppen treten.
Setzt man bei der Stellung der Produzierenden zu den Produktionsmitteln an, lassen sich dafür drei Ausgangspunkte festhalten. Wissen ist erstens tendenziell kostenfrei reproduzierbar – auffällig etwa bei Formeln für Arzneimittel, deren Verbreitung nur das Patentrecht einschränkt. Kostspielig ist dagegen seine Erweiterung – worauf die Pharmakonzerne viel Wert legen – und seine Vermittlung. Es besteht nämlich zweitens nicht allein in symbolisch kodifizierter, sondern auch in individuell verkörperter Form, also in den Kenntnissen und Fähigkeiten der WissensarbeiterInnen selbst. Wem man solches Wissen zutraut und abnimmt – wer also z.B. Chemieprofessorin oder Laborleiter wird –, hängt drittens nicht nur von Leistungen, sondern von Vertrauensvorschüssen ab, die meistens institutionell geregelt sind. Insgesamt ergibt sich so ein gespanntes Verhältnis zum Eigentum an Produktionsmitteln, aber auch zu Machtpositionen: WissensarbeiterInnen sind auf freie Kommunikation, öffentliche Informationsgüter und Bildungsallmenden angewiesen, aus denen jedoch privat verwertbare Waren hergestellt werden sollen. Sie verkörpern selbst einen Hauptteil der Produktionsmittel und sind dennoch von Auftrags- und ArbeitgeberInnen abhängig. Sie nehmen an der Kultivierung des allgemeinen Wissens teil und gestalten sie zugleich als individuelle Statuskonkurrenz. Einiges spricht dafür, die Interessenpolitik der neuen Klasse an den letzten Faktor zu binden: Gouldner etwa hat sie als Pflege kontrollierter Macht- und Einkunftspositionen beschrieben. Die erweiterte Wissensklasse könnte das bestätigen, indem sie ihre Kräfte weiter auf die Abgrenzung nach unten konzentriert. Ihre Intellektuellen wären dann in Elternvereinen oder Exzellenzinitiativen zu suchen. Doch die Erfahrungen produktiver Kooperation und unbeschäftigten Deutungswissens eröffnen andere Perspektiven: Statt den Wettbewerb um den Wissensstatus anzuheizen, kann man das Gemeineigentum an Wissensbeständen verteidigen – durch Copyleft- und Creative Commonslizenzen, die Freigabe wichtiger Medikamente, berufsfreie Zeit für allgemein nützliche Wissensarbeit, eine politische statt akademische Ausrichtung von Deutungswissen, Sozialforschung ohne Drittmittelkonkurrenz, Hochschulen ohne Professur und vieles mehr. Man kann sich sogar dafür einsetzen, dass die individuell verteilten Wissensproduktivkräfte weniger abhängig organisiert werden, etwa durch Gewerkschaften oder freiwillige Kooperation – muss dann aber mit Abwehr oder Ausnutzung vonseiten des Kapitals rechnen.
Versuche sind wie ausgeführt zu beobachten, von der freien Softwareszene bis in die symbolischen Schichten großstädtischer Rebellion. Neue Massenintellektuelle gäbe es selbst dann, wenn sie scheiterten. Was geschieht, nachdem die ersten Impulse verebbt, geschwächt und vereinnahmt worden sind, hängt jedoch unter anderem davon ab, in welchem Maß die (para)akademischen Intellektuellen ihre Fähigkeiten beisteuern. Sie sollten das verstärkt tun, wenn sie nicht ihrer eigenen Feudal-, Hof- und Ständeordnung ausgeliefert bleiben wollen.
~ Von Tilman Reitz. Der Autor lebt in Jena und arbeitet dort ?als Juniorprofessor für Wissenssoziologie. Zuletzt erschien (Hg., gemeinsam mit Thomas Kroll): Intellektuelle in in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013.