Am 2. August 1914 notierte Franz Kafka in sein Tagebuch: »Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.« Franz Kafka, Tagebücher 1910–1923, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1973, 261. Diese lakonische Kommentierung eines im Rückblick epochalen Ereignisses war in paradigmatischer Weise Ausdruck einer weit verbreiteten Wahrnehmung. Die Ahnung von der bevorstehenden Katastrophe des Weltkrieges war unter den europäischen Bevölkerungen nicht weit verbreitet. Gleichwohl gehörte Kafka zu den wenigen Intellektuellen, die sich von der nationalistischen Euphorie nicht anstecken ließen, sondern den Krieg und dessen AdeptInnen von Herzen verachteten. Wenige Tage später notierte er: »Ich entdecke in mir nichts als Kleinlichkeit, Entschlußunfähigkeit, Neid und Haß gegen die Kämpfenden, denen ich mit Leidenschaft alles Böse wünsche.« Tagebucheintrag vom 6. August 1914, in: ebd., 262. Kafkas Interesse an jüdischen Fragen und seine Nähe zum Zionismus sind vielfach verbürgt. Das Schauspiel, das in Prag kurz nach Beginn des Krieges auch von der jüdischen Bevölkerung aufgeführt wurde, verabscheute er nun jedoch zutiefst: »Patriotischer Umzug. […] Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges. Ausgehend von jüdischen Handelsleuten, die einmal deutsch, einmal tschechisch sind, es sich zwar eingestehen, niemals aber es so laut herausschreien dürfen wie jetzt.« Ebd. Kafkas Wahrnehmung, dass die nationalistische Mobilisierung von den jüdischen Bevölkerungsteilen der Habsburgermonarchie ausginge, war nicht ungerechtfertigt. Ein Blick über die Grenze, ins Deutsche Reich, offenbart, dass es auch hier jüdische Intellektuelle, Geistliche und Organisationen waren, die in besonderer Weise den kommenden Krieg verherrlichten.
Der Erste Weltkrieg, so wird im Folgenden argumentiert, galt bei den deutschen Juden an seinem Beginn als entrée billet in die deutsche Gesellschaft, als der Auftakt zur Vollendung der Gleichstellung. Bereits kurze Zeit darauf verwandelte er sich jedoch zum Ausweis der verweigerten Emanzipation. Das Ende des Krieges hinterließ nicht nur ein vielfach zerbrochenes deutsch-jüdisches Selbstverständnis, sondern auch eine globale politische Konstellation, in der den Juden ihr Platz verweigert wurde. Das Versprechen der Emanzipation schien gebrochen zu sein, noch bevor Deutschland die Gleichstellung der Juden widerrief und mit der Vernichtung des europäischen Judentums begann.
»Eilet freiwillig zu den Fahnen!« – Die deutschen Juden und der Krieg
Nachdem Deutschland am 1. August 1914 dem Russländischen Reich den Krieg erklärt hatte und die deutschen Intellektuellen eine bis dahin nicht gekannte Kriegsbegeisterung ergriff, war auch die jüdische Bevölkerung zur Stelle, um Volk, Kaiser und Vaterland ihre Treue und Opferbereitschaft zu bekunden. Noch am Tag der Kriegserklärung veröffentlichten die größte jüdische Organisation, der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), und der Verband der deutschen Juden eine Erklärung unter dem Titel »An die deutschen Juden!« In dieser hieß es unter anderem: »Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterlande zu widmen! Eilet freiwillig zu den Fahnen!« An die deutschen Juden!, in: Im deutschen Reich, September 1914, 339. Die Erklärung wurde in allen großen jüdischen Zeitungen veröffentlicht und durch einen weiteren Aufruf der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und des Reichsvereins der deutschen Juden ergänzt: »Deutsche Juden! In dieser Stunde gilt es für uns aufs neue zu zeigen, dass [sic] wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören. […] Wir erwarten, daß unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt.« Deutsche Juden!, in: Jüdische Rundschau vom 7. August 1914, 343.
Am 5. August fand in allen Synagogen, zur gleichen Zeit wie in den christlichen Kirchen, ein Gottesdienst statt, der die deutsche Sache des Krieges heiligen und die Soldaten segnen sollte. Der Bettag am 5. August, in: Allgemeine Zeitung des Judentums vom 14. August 1914, 385–388.
Nicht nur die jüdischen Organisationen, auch die jüdischen Intellektuellen ergriffen Wort für die vorgeblich erhabene Sache des deutschen Krieges. In ihren Worten, die der Sprache des deutschen Idealismus entliehen zu sein schienen, klang vor allem die Begeisterung für das innerliche Erlebnis des Krieges mit. Die Historikerin Selma Stern notierte drei Wochen nach Kriegsbeginn in ihr Tagebuch, dass sie »mitgezittert [habe] in der Begeisterung der ersten Tage, in dem einzig großen nie dagewesenen Rausch des Volkes.« Selma Stern, Tagebucheintrag vom 21. August 1914, zit. n. Marina Sassenberg, Selma Stern (1890–1981). Das Eigene in der Geschichte. Selbstentwürfe und Geschichtsentwürfe einer Historikerin, Tübingen 2004, 105. Einige Monate später notierte sie in ähnlicher Diktion: »Kriege sind wie große Leidenschaften […] Sie wühlen alles auf, zerstören viel und schaffen Gutes!« Selma Stern, Tagebucheintrag vom 18. Dezember 1914, zit. n. ebd., 105 f.
Auch Arnold Zweig, der sich bis dahin durchaus als Kritiker des wilhelminischen Kaiserreichs ausgezeichnet hatte, wurde nun in den Sog des Kriegsrauschs gezogen. Am 27. August 1914 schrieb Zweig an Helene Weyl: »Ein jauchzendes, tollkühnes Entzücken vibriert in mir, wenn ich die Zeitungen lese. […] Das große Deutschland ist wieder da, die klare ungeheuer geniale Kälte der Kantischen Intuition und das Feuer Beethovenscher Allegretti und Scherzi spukt in der deutschen Kriegführung, die tragende Ordnung ›romanisch‹-deutscher Fassaden und der gefaßte, schweigsame Griffel Holbeinscher Zeichnungen gibt sich kund im Rhythmus des organisatorischen Lebens der Daheimgeblieben[en] – und über allem hängt die furchtlose Nähe des Todes (und des Teufels-Schreckens) aus Dürers großem Blatt.« Georg Wenzel (Hrsg.), Arnold Zweig (1887–1968). Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, mit unveröffentlichten Manuskripten und Briefen aus dem Nachlaß, Berlin/Weimar 1978, 62. Selbst der orthodoxe Rabbiner Joseph Wohlgemuth sprach von der »seelischen Erhebung« des Krieges. Joseph Wohlgemuth, Der Weltkrieg [1914], in: ders., Der Weltkrieg im Lichte des Judentums, Berlin 1915, 5–22, hier: 12.
Die Romantisierung des Kriegserlebnisses als Katharsis des Einzelnen und des Kollektivs teilten die jüdischen mit den nichtjüdischen Intellektuellen. Die jüdische Kriegsbegeisterung speiste sich darüber hinaus jedoch aus zwei weiteren Quellen, die den Krieg zu einem gerechten Krieg um die Sache des Judentums zu machen schienen. Zum einen war dies das verhasste russländische Zarenreich als Kriegsgegner der Deutschen. Seit der Ermordung Zar Alexanders II. im Jahr 1881 und verstärkt schließlich durch die gescheiterte Revolution des Jahres 1905 tobten unzählige Pogromwellen durch das riesige Zarenreich, während die Juden staatlicherseits zugleich diskriminiert und vertrieben wurden. Zehntausende Juden fanden in diesen Aufwallungen den Tod, Millionen emigrierten in den Westen. Als Deutschland dem Zarenreich den Krieg erklärte, preisten die Juden den nun bevorstehenden Feldzug gegen die »Herrscher des Landes der staatlich organisierten Judenverfolgung«, gegen die »kosakische Vormacht des finstersten Mittelalters«. Heinrich Loewe, Feinde ringsum!, in: Jüdischer Rundschau vom 7. August 1914, 343. Der C.V. stellte fest, dass »ein Kampf gegen Barbarei und Unkultur mit diesem Kriege verbunden ist« und der Zionist Heinrich Loewe schrieb, man habe »mit den Barbaren des Ostens noch eine besondere Rechnung zu begleichen. Das Blut der Juden, ihrer Märtyrer und Glaubenshelden, dampft seit Jahrhunderten vom russischen Boden zum Himmel empor.« Ebd.
Und ganz entscheidend wurde mit dem Krieg die Hoffnung verbunden, die ins Stocken geratene Judenemanzipation könne im gemeinsamen Kriegserlebnis von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen sich vollenden. Ausgangspunkt dieser Hoffnung waren der von Kaiser Wilhelm II. am 4. August ausgerufene Burgfrieden und seine Äußerung, keine Parteien und Konfessionen mehr zu kennen, sondern nur noch Deutsche.
Mit der Reichsgründung des Jahres 1871 war den deutschen Juden zum ersten Mal in kollektiver Weise die Emanzipation, die vollständige rechtliche Gleichstellung, gewährt worden. Die deutsch-jüdische Gemeinschaft hatte sich 1871 auf dem Höhepunkt der Akkulturation und der Integration in die deutsche Gesellschaft befunden. Es war die Hochphase des deutsch-jüdischen Bürgertums. Der Reichsgründung folgte jedoch schon kurz darauf der Gründerkrach und diesem die Entstehung des politischen Antisemitismus. Die rechtliche Gleichstellung war zwar erreicht, die soziale Integration erodierte in den Folgejahren jedoch erheblich. Waren die deutschen Juden 1871 noch davon überzeugt, dass die rechtliche Gleichstellung nur ein Schritt auf dem Weg zur vollständigen gesellschaftlichen Emanzipation darstellen würde, zeigte sich alsbald, dass es der letzte Schritt gewesen sein könnte – der Höhe-, damit aber auch Wendepunkt der jüdischen Geschichte in Deutschland. Anfang des 20. Jahrhunderts war von der Euphorie der 1860er und frühen 1870er Jahre fast nichts mehr geblieben. Im öffentlichen Sektor waren Juden kaum vertreten, an Professuren, Offiziers- oder Staatskarrieren war praktisch nicht zu denken und die Kampagnen, die die Rücknahme der Gleichstellung forderten, wurden aggressiver und mächtiger. Der Krieg, so die weitverbreitete Hoffnung des Jahres 1914, könne diesen Abwärtstrend eventuell noch stoppen und das Versprechen der Judenemanzipation erfüllen.
Arnold Zweig schrieb euphorisch: »Ich nehme meinen leidenschaftlichen Anteil an unseres Deutschland Geschick als Jude, auf meine mir eingeborene jüdische Art mache ich die deutsche Sache zu meiner Sache; ich höre nicht auf, Jude zu sein, sondern ich bin es immer mehr, je wilder ich mich freue, je tiefer ich empfinde, je heftiger ich nach Aktivität dränge.« Arnold Zweig an Helene Weyl, 27. August 1914, in: Wenzel (Hrsg.), Arnold Zweig, 63. Und Selma Stern notierte: »Zum ersten Mal empfinde ich Heimat und Vaterland, fühle mich deutsch, erlebe vergangene Zeiten doppelt, indem ich die Gegenwart hundertmal erlebe.« Selma Stern, Tagebucheintrag vom 27. August 1914, in: Sassenberg, Selma Stern, 105.
In der Zeitung des C.V. Im deutschen Reich wurde dieser Hoffnung noch stärkerer Ausdruck verliehen. Das Versprechen der Judenemanzipation sei »noch bis in die jüngsten Tage hinein […] nicht Tat geworden«, hieß es dort. Vielleicht würde der Weltkrieg erreichen, was den Juden zuvor noch verweigert wurde: »Ein in der Weltgeschichte beispielloser Krieg einigt unser bedrängtes Vaterland, schafft mit einem Schlage für alle seine Bürger gleiches Recht, zwischen allen Schichten den Gottesfrieden. […] Hoffentlich für immer werden nun die feindseligen Finsterlinge verstummt sein, die den freudig Gut und Blut fürs Vaterland opfernden Juden in Friedenszeiten die bürgerliche Gleichheit bestreiten, die sie als Fremdlinge ausschreien, als Minderwertige entrechten wollten. Hoffentlich!«
Das nachgesetzte »Hoffentlich!« zeigte aber bereits den Zweifel. Denn die »Geschichte des Judentums«, so hieß es weiter, sei »nicht dazu angetan, Optimisten zu schaffen.« Unter den Waffen, in: Im deutschen Reich, September 1914, 341–343, hier: 343. Der Zweifel zeigte sich aber auch an anderer Stelle, in kleinen, fast unscheinbaren Mitteilungen in der jüdischen Presse. So forderte der C.V. seine Mitglieder »dringend« auf, »alles auf die Beteiligung der Juden am Kriege Bezügliches mitzuteilen, da der Umfang der Beteiligung der deutschen Juden an dem Feldzuge für spätere Zeiten festgestellt werden muß.« An die Ortsgruppen und Mitglieder des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Im deutschen Reich, September 1914, 339. Auch der Verband der deutschen Juden veröffentlichte einen fast gleichlautenden Aufruf. Jüdische Rundschau vom 7. August 1914, 344.
»Drückeberger« – Die Kündigung des Burgfriedens
Die diesen Aufrufen eingeschriebene Sorge, es würde den Juden vorgehalten werden, sich vor dem Kriegsdienst zu drücken, sollte sich alsbald bestätigen. Waren noch im Sommer 1914 in einigen Reservebataillonen Juden befördert worden, war dies schon ab 1915 nahezu hinfällig. Juden wurde der Offiziersrang anhaltend verweigert. Erfolgte diese Verweigerung meist ohne Angabe von Gründen, ist der Fall des jüdischen Offiziersanwärters Maximilian Horwitz ein seltenes Dokument des tiefsitzenden Antisemitismus. Dessen Vorgesetzter erklärte, Horwitz besäße »in seinem Äußeren, in seinem ganzen Auftreten sowohl als Vorgesetzter als auch als Kamerad die Eigenschaften, die der Volksmund ›jüdisch‹ nennt, in so hohem und ausgeprägten Maße, dass sie direkt lächerlich wirken. Einen mit einem derartigen die Autorität schädigenden Gebrechen behafteten Mann zur Beförderung zum Offizier vorzuschlagen war pflichtgemäß unmöglich.« Zit. n. Jacob Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt a.M./New York 2007, 49.
Die verweigerten Beförderungen wurden in der jüdischen Öffentlichkeit mit größerer Sensibilität registriert, als die alltäglichen Witzeleien, Demütigungen und Zurücksetzungen in den Gefechtsständen und der Etappe. Während der Alltagsantisemitismus als Residuum einer absterbenden Ideologie gedeutet werden konnte, galten die Beförderungen als zentraler Ausweis einer staatlichen Praxis vollkommener Gleichstellung. Aufschluss über die Geisteshaltung der deutschen Generalität gibt ein Dokument, das im Jahr 1926 in der Zeitschrift Der Jude veröffentlicht wurde. Der Offizier Rudolf G. Binding hatte die Beförderung des jüdischen Soldaten K. gegenüber seinem Vorgesetzten durchgesetzt, der die »unerträglichen jüdischen Eigenschaften« K.s moniert hatte. Obwohl Binding damit zu den wenigen im Heer gehörte, die die Beförderung eines Juden durchsetzten, war ihm dieser Fall nicht zur Verallgemeinerung angetan, hätten doch »viele Fälle« bewiesen, »daß sich die Juden oft nicht zu Offizieren und Befehlsstellen eignen.« Binding war »überzeugt, daß er [der Jude] innerlich kein Offizier ist.« In der Tradition der aufgeklärten GegnerInnen des Antisemitismus bestätigte er die »jüdischen Eigenschaften«, die »es gerade um ihretwillen« unmöglich machten, »sie zu Offizieren zu machen«, sah in diesen jedoch die Produkte einer Fehlentwicklung, die durchaus korrigierbar sei: »Es ist […] als ob man von einem durch Inzucht auf gewisse bestimmte sich immer wieder durchsetzende Eigenschaften gezüchteten Wesen verlangen würde, es solle plötzlich Eigenschaften äußern, die ihm nach dem für es angewandten Zuchtsystem gar nicht eigen sind.« Rudolf G. Binding, Zwei jüdische Offiziere im großen Kriege, in: Der Jude, Sonderheft »Antisemitismus und jüdisches Volkstum«, 1925, 110–113.
Diese Nichtbeförderungen wären vielleicht noch zu ertragen gewesen, schlimmer wog jedoch die gesellschaftliche Stimmung, die sich zunehmend gegen die Juden richtete. In Eingaben hoher Militärs an das Kriegsministerium, in Zeitungen und öffentlichen Pamphleten sowie im deutschen Reichstag wurde ab 1915 immer offener der Vorwurf dargebracht, die Juden würden sich vor dem Frontdienst drücken und sich stattdessen in den sogenannten Kriegsgesellschaften Die Kriegsgesellschaften waren staatliche Planungs- und Koordinierungsstellen, die von privaten Unternehmen getragen wurden und die der Kontrolle der für die Kriegführung zentralen Bereiche dienten: Ernährung, Rüstung, Energie etc. Bei Kriegsende existierten schließlich 200 Kriegsgesellschaften mit ungefähr 30.000 Angestellten. am Krieg bereichern. Die Propaganda gegen die Juden in diesen zur Kriegführung unabdingbaren Einrichtungen wurde so stark, dass sich 1915 Walther Rathenau und 1916 Carl Melchior aus diesen zurückzogen. Schon ab 1915 forderte der einflussreiche antisemitische Alldeutsche Verband die Aufkündigung des Burgfriedens und die »Bestrafung« der Juden. Der bis heute in Deutschland hoch angesehene Abgeordnete der Zentrumspartei, Matthias Erzberger, machte das antisemitische Raunen schließlich hoffähig, indem er im Oktober 1916 einen Antrag an den Reichskanzler einbrachte, den Anschuldigungen nachzugehen und »dem Reichstag alsbald eine eingehende Übersicht über das gesamte Personal aller Kriegsgesellschaften zu unterbreiten und zwar getrennt nach Geschlecht, militärpflichtigem Alter, Bezügen, Konfession.« Wortlaut des Antrags von Matthias Erzberger und drei weiteren Zentrumsabgeordneten, 16. Oktober 1916, zit. n. Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 54.
Dies wäre allerdings gar nicht nötig gewesen. Fünf Tage zuvor hatte das Kriegsministerium bereits einen folgenschweren Erlass verfügt, der zunächst jedoch geheim blieb – ein Erlass, der in der deutsch-jüdischen Geschichte der Moderne als eine der wichtigsten Zäsuren zählen kann, der Erlass zur sogenannten »Judenzählung«. In der Präambel hieß es: »Fortgesetzt laufen beim Kriegsministerium aus der Bevölkerung Klagen darüber ein, daß eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke. Auch soll nach diesen Mitteilungen eine große Zahl im Heeresdienst stehender Juden verstanden haben, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front […] zu finden.« Erlass des Kriegsministeriums vom 11. Oktober 1916, zit. n. Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 63. Um diese »Klagen« und »Mitteilungen« zu prüfen, sei die Konfession aller Soldaten zu prüfen und dem Kriegsministerium bis zum 1. Dezember 1916 mitzuteilen. Öffentlich wurde der Erlass schließlich am 2. November 1916 und evozierte zurückhaltende parlamentarische, hitzige öffentliche und empörte internationale Debatten und Reaktionen. Auch wenn das Kriegsministerium beteuerte, die Zählung sei keiner antisemitischen Intention entsprungen, sondern im Gegenteil dazu gedacht, den antisemitischen Anschuldigungen mit gesichertem Zahlenmaterial entgegenzutreten, war das Signal in der Welt und nicht mehr zu revidieren: Der Burgfrieden war gebrochen, gleichzeitig das Versprechen der Emanzipation, die Gleichstellung ohne Ansehung konfessioneller Unterschiede zu garantieren. Das antisemitische Gerücht, durch keine Fakten gesichert, reichte aus, die Juden des Heeres und damit das gesamte deutsche Judentum an den Pranger zu stellen.
Als dem Kriegsministerium die Gefährlichkeit des Erlasses aufging, war es zu spät – der Angriff war vollzogen und konnte in seinem symbolischen Gehalt nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das Ministerium verfügte später, es sei mit der Erhebung der Daten keine Entlassungen und Versetzungen zu rechtfertigen und es entschied, die Ergebnisse nicht zu veröffentlichen. Die antisemitische Verschwörung hatte nun alles in der Hand, was sie brauchte: das Gerücht, den Erlass und schließlich die Verheimlichung der Ergebnisse, um die Juden zu schützen.
»Judenzählung vor Verdun« – Der Schock des Jahres 1916
Für die Juden war das Ereignis ein Schock, der sich tief in die je individuelle und kollektive Psyche einschrieb. Ernst Simon, einer der prominentesten deutschen ZionistInnen der zwanziger und dreißiger Jahre, schilderte 1919 sein »Kriegserlebnis« zwischen Ekstase der Anfangszeit, Ernüchterung im Verlauf und dem Schock der »Judenzählung«. Als der Krieg begann, meldete sich Simon freiwillig zum Kriegsdienst. Er hoffte, dem alltäglichen, demütigenden Antisemitismus der Schulzeit nun endlich zu entfliehen und im deutschen Volk anzukommen. Er hoffte und glaubte, »nun endlich hineinzuwachsen in das Leben dieses fremden und geliebten Volkes.« Doch schon bald sank die Stimmung, sprachen die Kameraden von »jüdischen Drückebergern«, versuchten die Juden wiederum eifrig und doch vergeblich das Gegenteil zu beweisen. Der Schock kam im November 1916: die »Judenzählung« und mit ihr der Zusammenbruch der Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose oder zumindest eines Miteinanders: »Der Traum von Gemeinsamkeit war dahin, mit einem furchtbaren Schlage tat sich vor uns zum anderen Male die tiefe, nie verschwundene Kluft auf, die nicht durch gemeinsames Leiden und Bluten, nicht durch gemeinsame Sprache und Arbeit, nicht einmal durch gemeinsame Zivilisation und Gesittung überbrückt werden kann […]. Dies alles traf uns nun mit der vollen Schärfe eines fürchterlichen Erwachens: wir waren zum zweiten Male entwurzelt. […] Wir schwebten vollkommen haltlos in der Luft, zwei Kreise tangierend, beide berührend, in keinem heimisch, seelisch steril: eindimensional.« Ernst Simon, Unser Kriegserlebnis (1919), in: ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, 17–23, hier: 20. Das uneingelöste Versprechen der Emanzipation, sein Widerruf in der »Judenzählung«, die Virulenz des Antisemitismus haben aus dem Deutschen den Juden Ernst Simon gemacht. Er sei »aus einem entjudeten Ästheten zum Zionisten« geworden. Ebd., 18. Als ihm das Deutsche entrissen wurde, habe ihn das Judentum und der Zionismus aufgefangen: »Wir hatten unsere Heimat wiedergefunden, wir waren wieder Juden geworden.« Ebd., 22.
Auch wenn die Sprache dieses Textes vom Pathos der zionistischen Jugendorganisationen jener Jahre durchdrungen ist, steht er stellvertretend für eine Generation deutscher Juden, für die der Weltkrieg und die »Judenzählung« zum Erweckungserlebnis und Wendepunkt deutsch-jüdischer Existenz wurden – ihrer eigenen und allgemein. Auch Arnold Zweigs anfängliche Kriegsbegeisterung und sein Patriotismus wurden spätestens 1916 von der »Judenzählung« besiegt, die ihn in den Schützengräben vor Verdun heimsuchte.
Im November 1916 veröffentlichte er die Kurzgeschichte »Judenzählung vor Verdun«, in der sich die ganze Enttäuschung des deutschen Judentums in zynischer Weise spiegelte. Der Todesengel Azrael erscheint eines Nachts auf den namen- und steinlosen Gräbern vor Verdun und ruft: »Auf zur Zählung, ihr toten Juden im deutschen Heer!« Die toten und verstümmelten Leichen fanden sich müde und mit Unverständnis zur Zählung ein, fragend, warum man sie, die doch gedacht hatten für das »Große Vaterland […] zu sterben und zu ruhn«, nicht schlafen ließe. Doch der beigebrachte Schreiber lässt nicht gelten, was die Juden fordern: »Die Statistik fragt, wieviel von euch Juden sich vom fernern Krieg gedrückt ins Grab.« Arnold Zweig, Judenzählung vor Verdun, in: Wenzel (Hrsg.), Arnold Zweig, 555–557. Die Zählung der toten Juden vor der Hölle von Verdun, wo auch tausende Juden ihr Leben ließen, symbolisiert die Tiefe der Enttäuschung Zweigs, der er in einem Brief an Martin Buber Ausdruck verlieh: »›Judenzählung‹ war eine Reflexbewegung unerhörter Trauer über Deutschlands Schande und unsere Qual.« Hatte er noch zum Beginn des Kriegs in ekstatischer Euphorie davon gesprochen, wie er im Kollektiv der Deutschen und im Idealismus des Deutschen voll und ganz aufgehen würde, wollte und konnte er sich selbst nun nur noch als »Zivilgefangenen und staatenlosen Ausländer« bezeichnen. Arnold Zweig an Martin Buber, 15. Februar 1917, in: ebd., 74.
Den recht typischen jüdischen Weg vom glühenden deutschen Patriotismus der ersten Kriegstage über die unendliche Enttäuschung ob der Virulenz des Antisemitismus bis zur Unsicherheit über die eigene Zugehörigkeit zwischen »Deutschtum« und »Judentum« ist auch Selma Stern gegangen. 1914 hatte sie vom »Rausch des Volkes« geschrieben, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben »Heimat und Vaterland« empfinde und sich deutsch fühle. Wenige Jahre später war davon nicht mehr übrig als Enttäuschung, innere Zerrissenheit und die Hinwendung zum Judentum, die gleichzeitige Abkehr vom Deutschtum bedeutete. »Durch uns moderne Juden geht ein tiefer Riß. Nirgends sind wir zu Hause; dem Staat, dem wir mit der Seele angehören, sind wir Fremde«, notierte sie im Herbst 1917 in ihr Tagebuch. Tagebucheintrag vom 24. September 1917, zit. n. Sassenberg, Selma Stern, 111 f. Ein Jahr später war zwar das Gefühl des Fremdseins geblieben, aber das Judentum hatte sich nun als mögliche neue Heimat eröffnet, da den Juden Deutschland als solche wohl verschlossen bliebe. Zwar stehe sie noch immer »zwischen zwei Welten, der deutschen und der jüdischen«, hätte nun aber »nicht mehr dies Gefühl des Fremdseins dem Judentum gegenüber wie früher. Ich will in ihm heimisch werden. Ich will seine Kultur auf mich wirken lassen.« Tagebucheintrag vom 25 August 1918, zit. n. ebd., 109.
»Nationale Minderheiten« – Die Juden nach dem Krieg
Als der Krieg mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 beendet wurde, mussten die deutschen Juden erkennen, dass der Antisemitismus nicht in den Schlachten des Krieges untergegangen war, sondern im Gegenteil neuen Aufschwung erhalten hatte. Die Nachkriegsjahre waren geprägt von der antisemitisch gefärbten Propaganda über die »Novemberverbrecher« und über die »Schuld der Juden« an der deutschen Niederlage. In den revolutionären Unruhen nach 1918 fand der Antisemitismus neue Nahrung für seine Obsessionen einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung. Personen wie Rosa Luxemburg, Kurt Eisner oder Gustav Landauer wurden 1919 wegen ihrer kommunistischen Einstellungen und wegen ihrer jüdischen Herkunft ermordet, Walther Rathenau 1922 allein deshalb, weil er Jude war.
Der jüdische Bankier Max Warburg hatte den Ministerposten, den ihm der Kanzler Max von Baden 1918 anbot, mit den Worten abgelehnt, »dass das deutsche Volk niemals einen Juden in einer solchen Position ertragen würde«. David Farrer, The Warburgs, London 1974, 75. Rathenau hingegen akzeptierte, wurde zunächst Wiederaufbau- und später Außenminister und musste diese Entscheidung mit dem Leben bezahlen – Warburg hatte auf tragische Weise Recht behalten. Rathenau sollte damit der erste und der letzte jüdische Minister in der Weimarer Republik, ja in der deutschen Geschichte überhaupt bleiben. Die deutsche Gesellschaft und die deutsche Politik waren nicht bereit, Juden als gleichwertige Staatsbürger zu akzeptieren. Diese bittere Erkenntnis, die sich in den Jahren 1914 bis 1923 manifestierte, eröffnete für die deutschen Juden alte und neue Wege: die Rückkehr zur jüdischen Religion, Kommunismus/Sozialismus, Zionismus und Nationaljudentum. Die Weimarer Republik war gekennzeichnet von einer »jüdischen Renaissance«, an die vor 1914 niemand geglaubt hätte.
Begünstigt wurde diese durch die internationalen Entwicklungen nach dem Ende des Kriegs. Bis dahin war Zionismus vor allem eine spirituelle, kulturelle Bewegung gewesen, deren Zugriff auf Palästina ein philanthropischer war: langsame jüdische Besiedlung des Landes vornehmlich durch Ankauf von Ländereien, finanziert durch jüdische Philanthropen der Diaspora, hier ganz besonders Edmond James de Rothschild, oder philanthropischen Organisationen wie der Jewish Colonization Association. Dies änderte sich jedoch grundlegend unter den Bedingungen des Krieges. Die revolutionären Entwicklungen in Russland von Frühjahr bis Herbst 1917 ließen den baldigen Austritt Russlands aus der Kriegskoalition gegen die Mittelmächte befürchten. Als sich Ende Oktober 1917 der revolutionäre Umsturz der Bolschewiki ankündigte, der am 7. November schließlich mit dem Sturm auf das Winterpalais begann, geriet Großbritannien in Panik. Ein Austritt Russlands könnte den fast sicher geglaubten Sieg doch noch gefährden. In dieser Situation erließ Großbritannien am 2. November 1917 die berühmte Balfour-Deklaration. In einem Brief des britischen Außenminister Arthur James Balfour an die Zionistische Organisation bzw. Edmond James de Rothschild, hieß es, dass die »Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk […] von der Regierung Seiner Majestät mit Wohlwollen betrachtet [wird]. Sie wird ihr Bestes tun, um das Erreichen dieses Zieles zu erleichtern.« Arthur James Balfour an Edmond James de Rothschild, 2. November 1917, Jewish Virtual Library, http://0cn.de/z40r. Unmittelbarer Hintergrund dieser Erklärung war also die antisemitisch gefärbte Wahrnehmung der britischen Regierung, Zugeständnisse an die Zionistische Organisation würden die jüdischen ProtagonistInnen der Bolschewiki dazu veranlassen, Russland weiter an die Entente zu binden. Dass das »Weltjudentum« nicht so funktionierte, wie man sich das im Foreign Office gedacht hatte, machte endgültig der Frieden von Brest-Litowsk deutlich.
Das unmittelbare Ziel wurde mit der Deklaration also nicht erreicht, der Krieg jedoch gewonnen, das historische Palästina von den britischen Truppen eingenommen sowie das Osmanische Reich geschlagen und für immer zerstört. 1920 erhielt Großbritannien das Völkerbundmandat über Palästina, das nach der Abtrennung Transjordaniens 1923 ungefähr dem Gebiet des heutigen Israels (inklusive der besetzten Gebiete) entsprach. Aus der zionistischen Utopie war nach dem Krieg plötzlich eine reale Option, ein politisches Ziel geworden.
Doch nicht nur das Osmanische Reich, auch die beiden anderen dynastischen Vielvölkerreiche Osterreich-Ungarn und Russländisches Reich zerfielen. An ihre Stelle traten in Ost- und Südosteuropa neue Nationalstaaten, wie Polen, Ungarn, Österreich, Litauen, Lettland, Estland, die Tschechoslowakei und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929: Königreich Jugoslawien). Ein Großteil dieser Staaten drängte nach dem Krieg auf ethnische Homogenisierung, ein Umstand, der in den Pariser Vorortverträgen durch eine einmalige Regelung Rechnung getragen werden sollte: den Minderheitenschutzverträgen. In diesen wurden Staaten wie Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei oder Griechenland auf den Schutz ihrer nationalen Minderheiten verpflichtet. Nationale Minderheiten waren dabei expressis verbis auch die Juden Ost- und Südosteuropas. Ausschnitte aus den Minderheitenschutzverträgen: Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1960, 231–235. Diese Verträge waren maßgeblich von jüdischen Organisationen Ost- und Südosteuropas und der Vereinigten Staaten von Amerika, vereinigt im Comité des Délégations Juives, stipuliert worden. Waren die global verschiedenen Judenheiten bis dahin als religiöse, als konfessionelle oder als sprachlich-kulturelle Einheiten begriffen worden, waren sie nun in verschiedenen Staaten Europas nationale Minderheiten per Dekret.
»Zeitenwende« – Vom Ende der Emanzipation
Diese Entwicklungen nach dem Ende des Krieges waren für die Judenheiten dramatisch. In Ost- und Südosteuropa wurden Juden als »nationale Minderheit« begriffen, in Palästina war ihnen von Großbritannien die Errichtung einer »nationalen Heimstätte« versprochen worden. Die Nationalstaaten Europas und auch die Vereinigten Staaten von Amerika drängten nun jedoch zunehmend auf nationale Homogenisierung und Abschottung. Die Staaten, denen die Minderheitenschutzverträge oktroyiert wurden, versuchten diese – mit Ausnahme der Tschechoslowakei – zu unterlaufen. Der massive Ansturm von ImmigrantInnen nach Kriegsende veranlasste die Vereinigten Staaten schließlich, mit der eigenen Tradition als Einwanderungsland zu brechen und Einwanderung drastisch zu reduzieren. Mit dem Immigrationsgesetz von 1924 war es den Juden Ost- und Südosteuropas kaum noch möglich, nach Amerika einzuwandern. Doch nicht nur die Vereinigten Staaten, auch alle anderen europäischen Ländern schlossen im Verlauf der zwanziger und dreißiger Jahre sukzessive ihre Grenzen für die Einwanderung. Das wichtigste Mittel, das Juden über Jahrhunderte besaßen, um ökonomischer Armut und politischer Verfolgung zu entfliehen, war weggefallen.
Die Juden Deutschlands standen nun vor verschiedenen Herausforderungen. Die Vollendung der Emanzipation war ihnen in Krieg und Nachkrieg von der deutschen Gesellschaft und Politik verweigert worden. Den politischen Unruhen der Jahre 1918 bis 1923, die von einer massiven antijüdischen Gewalt begleitet waren, folgten zunächst die sogenannten »ruhigen Jahre« der Weimarer Republik 1924 bis 1929, die jedoch nur auf der Oberfläche eine Stabilisierung bzw. Verbesserung der jüdischen Situation bedeuteten. Die deutschen Juden hatten weiterhin mit antisemitischer Propaganda und mit beschränkten Aufstiegsmöglichkeiten in staatliche und öffentliche Positionen zu kämpfen. Gleichzeitig verschlechterte sich die ökonomische und politische Situation der osteuropäischen GlaubensgenossInnen rapide. Im Verlauf der zwanziger Jahre löste sich die »Judenfrage«, wie es zeitgenössisch auch unter Juden genannt wurde, von ihrer nationalen Beschränktheit und wurde zu einem globalen Phänomen. Die jüdische Situation Ende der zwanziger Jahre wurde schon damals in einem Ausspruch paradigmatisch charakterisiert: »Die Welt ist geteilt, in diejenigen Länder, in denen Juden nicht leben können und denjenigen, in die sie nicht einwandern können.«
Ab 1929 schien sich diese Situation noch einmal dramatisch zuzuspitzen. Die Metapher der »Zeitenwende« – oder auch »Weltendwende« – war schon während des Ersten Weltkriegs aufgekommen, um die epochalen Veränderungen zu kennzeichnen, die mit dem Krieg erwartet wurden. Nach dem Krieg wurde sie zu einem stehenden Begriff, der jenen Epochenbruch abbilden sollte. In den jüdischen Debatten der Zeit war seine Verwendung ambivalent. Die Zeitenwende konnte mit Bedrohung verbunden werden, aber auch mit Hoffnung und Zuversicht. Als Beispiel soll hier allein Isaac Breuer, der bedeutendste Vertreter der deutschen Neo-Orthodoxie der zwanziger und dreißige Jahre, aufgeführt werden. 1918 schrieb er über den sich dem Ende entgegenneigenden Krieg: »Eine Weltkultur liegt in Trümmern. Eine Weltkatastrophe ohnegleichen hat das alte Staatensystem zersprengt und die Gemüter in ihren Gründen erschüttert. Aber siehe, aus dem ungeheuren Schutt, der heute das Antlitz der Erde deckt, züngelt von Land zu Land, weithin sichtbar, die fahle Flamme des Judenhasses empor.« Isaac Breuer, Judenproblem, Vierte Auflage, Frankfurt a.M. 1922 [zuerst: Halle 1918], 42. Obwohl ihm der Krieg eine »Weltkatastrophe ohnegleichen« war und ihm besonders die »fahle Flamme des Judenhasses« besorgte, sah er in ihr dennoch die Hoffnung auf bessere Zeiten: »Kein Zweifel: Nie gewesenes ist im Entstehen begriffen. […] In vielhundertjährigen, aus unserer und der Dinge Schuld zusammengeballten Menschheitsdunst hinein ist ein Blitz geschlagen, der einen neuen Himmel heraufbringen wird, wie ihn in solcher Reinheit ein sterblich Auge noch nicht geschaut. […] In den Moderduft des europäischen Leichenfeldes mischt sich messianischer Hauch: Erlösung der Menschheit, der Einzelnen wie der Nationen, durch den ewigen Friedensbund freier Völker.« Isaac Breuer, Messiasspuren, Franfurt a.M. 1918, 8.
Die Ambivalenz der Einschätzung des Ersten Weltkriegs als epochalen Bruch war damit schon in den Analysen Breuers selbst angelegt. Seine hoffnungsvolle Aufladung wurde jedoch von der Geschichte selbst revidiert. Als die NSDAP in den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 mit 18,3 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft wurde, erklärte Breuer die Geschichte der Emanzipation für beendet. Die Kämpfe der Juden, ihre Auswege in Reformjudentum und Zionismus waren gescheitert, weil die deutsche Gesellschaft sich den »Judenhass« des Nationalsozialismus zu eigen gemacht hatte: »Das Böse ist stark geworden in Deutschland, weil die Guten schwach wurden. Es gibt viel fanatischen Haß in Deutschland und wenig fanatische Liebe. Das deutsche Volk, das dem jüdischen Volks so manches zu geben hatte: grauenvoll ist es, zu sehen, auf welchem Tiefstand einzelne seiner Teile angelangt sind. In der Erinnerung an Kant und Goethe krampft sich auch das jüdische Herz zusammen.« Issac Breuer, Die Lage des deutschen Judentums. I. Hitler, in: Nachalat Zwi, Jg. 1, H. 1, November 1930, 24–27, Zitat: 27. Der immerwährende und immer stärker werdende Hass auf die Versuche der Juden, in der deutschen Gesellschaft Aufnahme zu finden und schließlich der Triumph der NSDAP im Jahre 1930 war ihm bereits »das Fazit hundertjähriger Emanzipationsgeschichte.« Ebd., 26. Über zwei Jahre vor der sogenannten »Machtergreifung«, so Breuer, fühlten Deutschlands Juden »den Boden unter ihren Füßen wanken, wie bei einem fortdauernden, leise und dennoch immer spürbaren Erdbeben. Deutschlands Juden denken, zum ersten Male seit einem Jahrhundert, an den – Wanderstab der Urahnen, den sie längst im Museum für jüdische Altertümer hinterlegt hatten.« Ebd., 24.
~ Von David Jünger. Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und lehrt und forscht zu jüdischen Emanzipationsdebatten in den 1920er und 1930er Jahren sowie zur Zusammenarbeit amerikanisch-jüdischer Organisationen mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren.