In der Ausgabe 2.08 von Phase 2 beschrieb das bgr Leipzig das »Projekt Zivilgesellschaft« als adäquate Ausdrucksweise der derzeit hegemonialen Form von Vergesellschaftung und gesellschaftlicher Mobilisierung. In der Ausgabe 2.09 stellte hierauf Sven Weicher die These auf, dass es sich bei der derzeitigen gesellschaftlichen Formation mitnichten um eine zivilgesellschaftliche handle, sondern dass die derzeitige deutsche Gesellschaft noch immer am Besten mit dem Begriff der »Volksgemeinschaft« zu bezeichnen sei.(1) In diesem Text wurde exemplarisch für viele antideutsche Gruppen eine Position vertreten, welche die zivilgesellschaftlichen Elemente derzeitiger Vergesellschaftung in Deutschland als Oberflächenerscheinungen bezeichnen, dem sie die Kontinuität der deutschen Volksgemeinschaft, die sich über den Nationalsozialismus gerettet habe, entgegenstellen.
Im folgenden Text bietet das bgr eine Analyse dessen, was Volksgemeinschaft bedeuten kann, wo Kontinuitäten der deutschen Volksgemeinschaft zu verzeichnen sind und wo die Grenzen derartiger Kontinuitäten liegen. Gleichzeitig soll hiermit wiederholt der Begriff der Zivilgesellschaft als die gegenwärtig hegemoniale Form deutscher Vergesellschaftung stark gemacht werden. Als hegemonial, das sei vorangestellt, ist zu verstehen, dass es sich hierbei um das öffentlich Gesagte und gesellschaftlich Sagbare handelt, dasjenige, das Diskursmächtigkeit besitzt. Hegemonial meint dabei nicht, dass es sich um die Mehrheit der Menschen einer Gesellschaft handelt, die diese Form der Vergesellschaftung vertritt, sondern dass diejenigen, die sie vertreten, die entscheidende gesellschaftliche Relevanz besitzen.
Zivilgesellschaft vs. Volksgemeinschaft – Wozu eine Analyse der Gesellschaft?
In der Diskussion um den Begriff der Zivilgesellschaft ist dem bgr häufiger der Begriff der Volksgemeinschaft entgegengehalten worden, ohne deren Elemente näher zu benennen. Das erscheint uns als problematisch, will man diesen Begriff auf die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse anwenden.
Der Begriff der Volksgemeinschaft ist zuvorderst historisch an die Zeit des Nationalsozialismus gekoppelt. Es ist die gesellschaftliche Konstituierung (vor allem) der Jahre 1933–1945, die als Volksgemeinschaft adäquat bezeichnet werden kann und weitläufig auch bezeichnet wird. Das bedeutet nun nicht, dass Volksgemeinschaft nur die Zeit des Nationalsozialismus bezeichnen kann. Die volksgemeinschaftlichen Vorstellungen gesellschaftlicher Formation haben sich bis heute gehalten und es ist zumindest vorstellbar, dass sie als gesellschaftliches Modell, besonders in Deutschland, auch wieder hegemonial werden können. Will man diesen Begriff jedoch auf die heutige Zeit übertragen, müssen die Gründe und Absichten dessen deutlich gemacht werden, was in der Diskussion um die »deutsche Volksgemeinschaft« aber selten der Fall ist.
Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es Positionen gibt, die den Begriff der Volksgemeinschaft nicht unkritisch auf die heutige Zeit übertragen, sondern den Begriff bewusst wählen und begründen. Daneben existieren aber gleichsam eine Menge Positionen, die genau dies nicht tun und stattdessen einen unkritischen Gebrauch dieser Begrifflichkeit an den Tag legen. Hier drängt sich nicht selten der Verdacht auf, dass mittels einer solchen historischen Konstruktion das Heute durch das moralisch starke Argument des Nationalsozialismus desavouiert werden soll. Wenn auch mit Sicherheit nicht gewollt, führt eine derartige Quasi-Gleichsetzung der heutigen deutschen Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Gesellschaft in ihrer Konsequenz auch zu einer Verklärung und letztlich Verharmlosung des Nationalsozialismus.
Auch wenn Berliner Republik und Nationalsozialismus in bestimmten Punkten durchaus vergleichbar sind, diverse volksgemeinschaftliche Vorstellungen gesellschaftlicher Formierung in breiten Teilen der Bevölkerung noch immer en vogue sind und es ebenso starke gesellschaftliche Kontinuitäten zum NS gibt, können diese beiden Vergesellschaftungsformen jedoch nicht gleich gesetzt werden.
Für das bgr ist die Analyse der Zivilgesellschaft genau an jenem Punkt entscheidend, wo verschiedene linksradikale und ex-linksradikale Gruppen in der zivilgesellschaftlichen Rhetorik und Mobilisierung emanzipatorische und progressive Inhalte wittern und sich folgend zu KomplizInnen und KollaborateurInnen dieser Rhetorik und Mobilisierung machen. Geschehen ist dies reihenweise während des »Aufstands der Anständigen« im Jahre 2000, in der kritischen bis zur begeisterten Beteiligung an der Antiglobalisierungsbewegung(2) sowie in der Antikriegsmobilisierung der Jahre 2002/03. Hier gilt es anzusetzen und zu klären, dass die Zivilgesellschaft nicht der progressive Widerpart einer ansonsten nationalistisch, antisemitisch, völkisch etc. konstituierten Gesellschaft ist, sondern ein nationales Großprojekt zur Wiedererlangung deutscher Weltgeltung.
Zivilgesellschaft vs. Volksgemeinschaft – Modi gesellschaftlicher Mobilisierung
Die Begriffe Volksgemeinschaft und Zivilgesellschaft stehen beide für einen bestimmten Modus gesellschaftlicher Mobilisierung und Konstitution. Damit sind sie weder von den gesellschaftlicher Realitäten zu trennen noch sind sie unbedingt deren eindeutige Entsprechung. Sie sind beides zunächst Projekte, die auf eine bestimmte Form gesellschaftlicher Konstitution zielen. Beide Projekte entspringen einer und treffen auf eine Gesellschaft, die (noch) nicht vollständig den ihnen immanenten Vorstellungen von Gesellschaft entsprechen.
So ist die Volksgemeinschaft kein gesellschaftlicher Zustand gewesen, den die Nazis bei ihrem Machtantritt 1933 vorgefunden hätten, sondern musste erst geschaffen werden. Im späten Nationalsozialismus war die Volksgemeinschaft jedoch nicht nur eine Vorstellung, ein Projekt, sondern nahezu vollständig gesellschaftliche Realität.
Das bgr begreift in diesem Sinne also auch Zivilgesellschaft als Modus gesellschaftlicher Mobilisierung, die aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten entspringt und diese als ganze jedoch erst überformen muss. Zivilgesellschaft ist dabei keine Beschreibung der deutschen Bevölkerung, sondern die Beschreibung eines gesellschaftlichen hegemonialen Projekts. Das bedeutet, dass nicht unbedeutende Teile der deutschen Gesellschaft mit dem Begriff der Zivilgesellschaft durchaus adäquat beschrieben sind, dass Zivilgesellschaft jedoch nicht annähernd eine solche gesellschaftliche Totalität darstellt, wie die Volksgemeinschaft Anfang der 1940er Jahre.
Nicht selten wird aber genau jener Fehler begangen, Gesellschaft als einen statischen und nicht als einen dynamischen Begriff zu betrachten. In Folge dessen wird auch der Begriff der Volksgemeinschaft lediglich als die gesellschaftliche Verfasstheit des Nationalsozialismus und nicht als ein spezifisch politisches Projekt gesellschaftlicher Konstitution und Mobilisierung des Nationalsozialismus begriffen. Auch wenn man den späten Nationalsozialismus als durchgesetzte Volksgemeinschaft bezeichnen kann, darf dabei nicht aus den Augen verloren werden, dass dieser Zustand erst herbeigeführt werden musste.
Volksgemeinschaft war ein politisches Projekt gesellschaftlicher Verfasstheit, welches im Jahre 1933 mit der Machtübernahme der NationalsozialistInnen schrittweise versucht wurde umzusetzen. Hierbei haben sich die Nazis auf Volksgemeinschafts-Konzepte bezogen, die so in verschiedenen Formen von allen möglichen gesellschaftlichen Schichten bereits weit vor 1933 formuliert worden waren. Die Nazis haben die bestehenden Konzepte lediglich radikalisiert und zu einer politischen Bewegung gemacht.(3) Ohne die dominanten antiemanzipatorischen Tendenzen der deutschen Gesellschaft bereits vor dem NS zu leugnen, war es für den Nationalsozialismus dennoch ein langer und blutiger Weg, bis die Volksgemeinschaft durchgesetzt war. Es darf nicht vergessen werden, dass die Konstituierung der Volksgemeinschaft wie sie dann in den vierziger Jahren erreicht wurde, nach innen über Inhaftierung, Deportation und Ermordung und nach außen über die Vernichtung von vielen Millionen Menschen vonstatten ging. Und auch nicht, dass es bis in die vierziger Jahre dauerte, bis das nationalsozialistische Regime mit unglaublicher Brutalität die Volksgemeinschaft durchsetzte. Es ist absurd davon zu sprechen, dass die deutsche Volksgemeinschaft bereits 1933 durchgesetzt war. Es bedurfte des permanenten autoritären Impulses der nationalsozialistischen Führung auf der einen und der permanenten gesellschaftlichen Mobilisierung von unten auf der anderen Seite, um die letztendlich erfolgreiche Einheit von Kapital, Volk und Führungsapparat zu stiften.(4)
Ebenso ist auch die Zivilgesellschaft als eine bestimmte Art gesellschaftlicher Mobilisierung zu begreifen. Beide setzten sie darauf, eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaftlichkeit durchzusetzen und sich selbst als gesellschaftliche Realität zu stiften. Sie unterscheiden sich jedoch fundamental darin, was als inhaltliches Ziel dieser Vergesellschaftung angestrebt wird sowie in den Formen, mittels derer diese Ziele umgesetzt werden sollen.
Mittels der Betonung gesellschaftlicher Kontinuitäten der NS-Gesellschaft wird häufig generalisierend versucht nachzuweisen, dass es sich bei der heutigen deutschen Gesellschaft um eine modernisierte Form der Volksgemeinschaft handelt. Der heutige starke positive Bezug auf die deutsche Arbeit, der gesellschaftliche virulente Antisemitismus, die angebliche Aussöhnung von Staat, Kapital und Bevölkerung, sowie die spezifisch deutsche Unterordnung des Eigeninteresses unter das Allgemeininteresse seien hierfür die wesentlichen Kriterien, an welchen sich eine solche Kontinuität zeige. Nun mögen diese Kontinuitäten im Einzelnen durchaus zutreffen. Dennoch ist es nicht nachzuvollziehen, warum dabei häufig all jene Elemente, die sich z.B. ab 1945 fundamental geändert haben, einfach ignoriert werden, so z.B. parlamentarische Demokratie, Bekenntnis zu europäischen Vorstellungen von Kapitalismus und Globalisierung(5), Presse- und Demonstrationsfreiheit etc.
Nun kann es sein, dass jene volksgemeinschaftlichen Phänomene als die wesentlichen deutscher Vergesellschaftung begriffen und diese einer solchen Interpretation entgegenstehenden Elemente als Oberflächenphänomene abgetan werden. Dann müsste jedoch zumindest erklärt werden, warum die gleichen Formen deutscher Vergesellschaftung im NS und heute zu dennoch ziemlich verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungen führen. Eine Erklärung im ersten wie im zweiten Sinne sucht man jedoch weitestgehend vergeblich.
Wenn man nun also Zivilgesellschaft als einen bestimmten Modus gesellschaftlicher Mobilisierung begreift, hat man damit die deutsche Gesellschaft als Ganzes noch nicht erklärt. Es bleibt noch genügend Raum andere Bereiche gesellschaftlicher Aktion zu benennen, die zivilgesellschaftlicher Verfasstheit entgegenlaufen kann bzw. damit gar nichts zu tun haben muss.(6)
Zivilgesellschaft vs. Volksgemeinschaft – Elemente derer Konstitution
Die Volksgemeinschaft der Deutschen war, so ihr Selbstverständnis, Blutgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft und nationalsozialistische Glaubensgemeinschaft. In dieser Lebensgemeinschaft traten so Ideologie, in hohem Maße auch gesellschaftliche Praxis und die Interessen von Klassen, Parteien und Individuen zurück hinter dem gemeinsamen Interesses aller »Volksgenossen«. Explizite Ziele waren Gleichschaltung nach innen und Geschlossenheit nach außen. Die Blutsgemeinschaft habe zu achten auf »Rassenreinheit« und »Volksgesundheit«, die Sozialgemeinschaft sollte Klassengegensätze suspendieren und Ausdruck des Führerprinzips sein. Letztlich ist die Volksgemeinschaft Rechtsgemeinschaft und Recht ist, so Goebbels, »was dem Volk nützt«. Der Gegensatz von Führung und Volk wurde dahingehend aufgelöst, dass der Führerwille gleich Volkswille sei.
Die Volksgemeinschaft zeichnet sich aus durch einen genuinen Volksbegriff, der das ausgeschlossene Andere in Form der Juden und Jüdinnen benötigte. Das homogene Volk war somit Ziel der Volksgemeinschaft. Genau in diesem Sinne ist der Krieg Deutschlands gen Osten zu erklären. Der »Generalplan Ost« sah die »rassische Neuordnung« Osteuropas vor. Die polnische Bevölkerung sollte aufgelöst (entweder ermordet oder »assimiliert«), Juden und Jüdinnen sowie die »Zigeuner« vernichtet und »der neue arische Mensch« (Lebensborn) gezüchtet werden. Die Volksgemeinschaft, da sie sich als Blutsgemeinschaft verstand, war ein vollkommen geschlossenes System. Wer zu ihr gehören konnte, bestimmte sich durch Abstammung und nicht durch Bekenntnis. Die Konstitution der Volksgemeinschaft war mörderisch und vernichtend, nach außen, wie nach innen.
Hiervon ganz wesentlich unterscheidet sich die Zivilgesellschaft. Sie versteht sich als ein weitestgehend offenes Projekt, das die nationale Konstituierung als ein politisches Projekt begreift und die blutsmäßige Bindung negiert. Nicht umsonst war eines der ersten politischen Großprojekte der 1998 an die Macht gekommen Bundesregierung, die sich ganz wesentlich aus ProtagonistInnen der Zivilgesellschaft zusammensetzt, im Jahre 1999 die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts und damit die Abschaffung der völkischen, am deutschen Blut orientierten Nationskonstruktion, die sich bis dahin über das Ende des Nationalsozialismus hinaus gehalten hatte. Für die Zivilgesellschaft ist die Nation eher ein politisches Projekt. Die Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft wird nicht über das Blut, sondern über eine bestimmte gesellschaftliche und politische Partizipation geregelt.(7)
Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in der Tatsache, dass die Zivilgesellschaft weder mit Vernichtung einhergeht noch in einer auch nur annähernd so barbarischen Weise durchgesetzt wird wie die Volksgemeinschaft. Dabei darf dennoch nicht übersehen werden, dass auch die Zivilgesellschaft mörderisch gegen ihre auserkorenen Feinde zu Werke geht, wie der deutsche Angriffskrieg auf Jugoslawien im Jahre 1999 zweifelsfrei demonstrierte. Das der Zivilgesellschaft entgegen gesetzte Andere ist derzeit kein verfestigtes, noch irgendwie interpretiertes jüdisches Prinzip. Die GegnerInnen der Zivilgesellschaft sind den Umständen angepasst je andere. Somit sind die Nazis auch nicht die neuen Juden, wie konsequente Interpretation der heutigen Gesellschaft als Volksgemeinschaft nahe legen würde, und wie es so des öfteren ausformuliert wird, sondern ganz im Gegenteil, das völkische Gegenmodell der Zivilgesellschaft.
Zivilgesellschaft vs. Volksgemeinschaft – Wer schlägt wen?
Einer Bezeichnung der heutigen Gesellschaft als Zivilgesellschaft wird nicht selten entgegengehalten, dass die deutsche Gesellschaft aufgrund der deutschen Geschichte, in der nie eine bürgerliche Revolution stattfand, eine solche auszubilden gar nicht fähig sei.(8)
Diese These beruht auf der Sonderwegstheorie, die Deutschlands Nationsgründung als Ursache eines spezifischen deutschen Weges interpretiert, der in zwei Weltkriegen gipfelte. Diese These rekurriert auf bestimmte historische Formen deutscher Vergesellschaftung, so z.B. die Entstehung des deutschen Nationalgefühls in Abgrenzung zu den durch Napoleon Bonaparte transportierten Werten der Französischen Revolution sowie das nahezu vollständige Fehlen einer bürgerlichen deutschen Schicht zur Zeit der 1848er Revolutionen. Diese Formen existieren so heute jedoch nicht mehr. Weder gibt es eine irgendwie relevante Abgrenzung gegen Frankreich und den Werten der Französischen Revolution, noch kann von dem Fehlen eines deutschen Bürgertums gesprochen werden. Die wesentlichen Zäsuren bestanden in den Jahren 1945, als der deutsche Sonderweg durch die Alliierten beendet wurde, sowie den Modernisierungsschüben 1968 und 1998.
Gegen die Analyse der Zivilgesellschaft betont auch Sven Weicher, dass eine Zivilgesellschaft eine solche ist, die sich selbst organisiert, eine Zivilgesellschaft von oben sei eben keine. Der autoritäre Charakter der Deutschen ist gewiss nicht zu leugnen. Zu vergessen ist auch nicht, dass im Jahre 1945 alle Kräfte, die einer volksgemeinschaftlichen Organisierung der Gesellschaft entgegenstanden entweder im Exil oder ermordet waren und das Fehlen einer nichtvölkischen gesellschaftlichen Schicht über Jahrzehnte nicht zu kompensieren war. Auch wenn sich Formen der Zivilgesellschaft bereits seit 1968 entwickelten, ermöglichte erst die Übernahme der Bundesregierung durch rot-grün die Verwirklichung der Zivilgesellschaft als hegemoniales politisches Projekt. Dabei ist es nicht so, dass die Regierung die Zivilgesellschaft einsetzt, vielmehr wird deren Selbstkonstitution ideologisch und institutionell angestoßen und befördert. Dabei bleibt die Zivilgesellschaft jedoch eine, die sich selbst einsetzt und agiert, auch wenn sie durch den autoritären Impuls, der sie antreibt, häufig nicht als solche erscheint. Da der Erfolg, wie bereits im bgr-Papier »Das Projekt Zivilgesellschaft« dargestellt, besonders auf unterer Ebene teilweise bescheiden ist, gewinnt die Förderung dieser Formen massiv an Bedeutung.
Eine weitere häufig bemühte These zum Beweis volksgemeinschaftlicher Kontinuität ist die kolportierte spezifisch deutsche Einheit von Kapital, Staat und Bevölkerung. Diese angebliche Einheit lässt sich in dieser stringenten Form jedoch kaum finden. Die Interessengegensätze von Teilen der Bevölkerung und des Staates sowie der Wirtschaft, besonders in den späten sechziger und den siebziger Jahren, sind so offensichtlich, dass man sie nicht bestreiten kann. Und wenn auch in kleinerem Maße, so ist die Protestpraxis, seien es Anti-AKW-Proteste, Gewerkschaftsstreiks oder Demonstrationen wie die gegen Sozialabbau am 1. November 2003 in Berlin, deutlicher Ausdruck widerstreitender Interessen. Nicht zu leugnen ist hierbei mit Sicherheit, dass diese Gegensätze in Deutschland nicht das Ganze in Frage stellen, dass der Staat ebenso als Garant der in ihm lebenden Bevölkerung, wie auch des ihn ihm agierenden Kapitals betrachtet wird. Dies zu benennen ist jedoch wenig spektakulär, da es sich hierbei tatsächlich um die Aufgaben des modernen kapitalistischen Staates handelt. Der Staat hat für den Kompromiss zwischen Kapitalfraktionen und Bevölkerung zu sorgen. In diesen Dreierbeziehungen existieren sich widersprechende konkrete Interessen und das allgemeine Verständnis der Einheit der drei Seiten. Der Staat vereinigt und sichert das Gesamtinteresse zum Teil gegen, teilweise aber auch aufgrund einzelner Interessen.
Damit durchaus im Zusammenhang steht die These, dass sich die Volksgemeinschaft durch ihre besondere Volksnähe auszeichne. In Deutschland sei die zunehmende Auflösung der von den Alliierten oktroyierten Distanz von Verwaltung und Bevölkerung zu spüren. Zwar ist es richtig, dass besonders die Grünen sich für mehr Beteiligung einsetzen und dass Gerhard Schröder auf den Hochwasserdeichen den Kontakt mit der Bevölkerung sucht, von einer Auflösung der Distanz zwischen staatlichen RepräsentantInnen und Bevölkerung kann jedoch kaum gesprochen werden. So existiert ein hegemonialer gesellschaftlicher Diskurs darüber, dass die deutsche Bevölkerung weder über eine deutsche Verfassung, noch über die europäische Integration bestimmen, noch in solchen Angelegenheiten wie der Todesstrafe eine Mitspracherecht zugebilligt bekommen solle. Diese Distanz, die 1945 von den Alliierten sowie der damaligen Bundesregierung ganz bewusst eingesetzt wurde, besteht in ihren wesentlichen Elementen bis heute fort. Dass die Zivilgesellschaft tatsächlich eine gewisse symbolische Volksnähe sucht sowie populistisch agiert, ist indes nicht zu leugnen. Zu leugnen ist jedoch, dass es sich hierbei um ein spezifisches Phänomen der Volksgemeinschaft handelt. Vielmehr ist die symbolische Zurschaustellung der Volksnähe für das zivilgesellschaftliche Organisationsmodell entscheidend, soll in diesem doch der Bevölkerung das Gefühl stärkerer politischer Partizipation vermittelt werden, was mit einer distanzierten politischen Verwaltung schwerlich gelingen würde.
Natürlich hat die Volksnähe ihre Grenzen. Wenn in Berlin 100.000 Menschen gegen den Sozialabbau demonstrieren und sich diese zivilgesellschaftlich sensibilisierten Kreise somit gegen die Bundesregierung wenden, wird ihnen die Relevanz für einen Einfluss auf das politische Agieren der Bundesregierung abgesprochen. So ließ Schröder nach dieser Demonstration wissen, dass so etwas zur Demokratie gehöre, dies aber an den Planungen zur Agenda 2010 nichts ändere. Die Zivilgesellschaft ist also in der Lage Widersprüche abzufedern und sie auszuhalten, die Volksgemeinschaft hingegen versucht Widersprüche auszuschließen, zu unterdrücken oder zu vernichten.
Besonders krude wird es, wenn behauptet wird, dass die deutsche Gesellschaft auch heute noch die ökonomischen Widersprüche, das »Realabstrakte« mit »dem Judentum« identifiziert. Es wird behauptet, dass die Identifizierung des Realabstrakten mit dem Judentum der derzeitig entscheidende Umgang mit den inneren Problemen in Deutschland darstellt.(9) Dass dies heute in Deutschland der entscheidende Umgang mit den Widersprüchen des Kapitalismus sein soll, lässt sich nun wahrlich nicht finden. Zwar gibt es in Deutschland eine beträchtliche Kontinuität des Antisemitismus. Das Jahr 1945 bedeutete für diesen als Welterklärungsmodell in Deutschland aber tatsächlich das Ende. Es gibt heutzutage mit Ausnahme weniger Nazis keine ernsthaften Positionen, die innere Schwierigkeiten der Wirtschaft etc. auf Juden projizieren. Ab 1945 fand die Transformation eines hegemonialen antisemitischen Gesamtdiskurses in antisemitische Teildiskurse statt und es entstand ein spezifisch bundesdeutsches Antisemitismus-Tabu. Diese Einheit von virulentem kollektivem Antisemitismus und hegemonialen »Anti-Antisemitismus«, die sich in der derzeitigen Debatte um Martin Hohmann exemplarisch äußert, steht einer Versimplifizierung auf die antisemitische Konstitution der deutschen Gesellschaft im Wege. Wenn es in Deutschland überhaupt reale gesellschaftliche Gruppen gibt, die wahlweise mit dem Realabstrakten identifiziert werden, dann sind es mal die SozialschmarotzerInnen, die für Nichtstun kassieren, dann wieder die Bonzen, die zuviel verdienen oder aber die prassenden RentnerInnen, die unser Geld auf Mallorca verschleudern. Tragende kohärente Diskurse sind diese natürlich ebenso nicht, sondern lediglich Fragmente. Wenn jedoch eine Volksgemeinschaft zu ihrer Konstitution das ausgeschlossene Gegenprinzip benötigt, das mit dem Realabstraktum identifiziert wird und natürlich ebenso artikuliert werden muss, findet sich in Deutschland derzeit nicht annähernd ein solches ausgeschlossenes Anderes. Das bedeutet allerdings nicht, dass es diese Identifikation nicht irgendwann auch wieder geben könnte.
Wo steht der Feind? – Konvergenzen und Differenzen
Wenn wir von der Zivilgesellschaft als derzeit dominierenden Modus gesellschaftlicher Mobilisierung sprechen, heißt das nicht, dass wir die aktuelle deutsche Gesellschaft mit der Zivilgesellschaft gleichsetzen. Klar ist nur, dass der zivilgesellschaftliche Diskurs derzeit der dominierende ist. Mit diesem ist die rot-grüne Bundesregierung 1998 an die Macht gekommen und hat sich ebenfalls mit diesem bei der Bundestagswahl 2002 gehalten. Es ist sicherlich nicht damit zu rechnen, dass es im Falle eines Sieges der CDU bei den folgenden Bundestagswahlen zu einem konservativen Backlash kommt, dafür hat der zivilgesellschaftliche Diskurs zu viel für die Wiedererlangung deutscher Weltgeltung beigetragen. Änderungen der gesellschaftlichen Artikulation wären in einem solchen Fall jedoch dennoch zu erwarten.
Für uns bedeutet die Analyse der Zivilgesellschaft, sich gegen diese zu stellen und sie nicht als progressive Alternative zum völkischen Mob zu verklären. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft ist jedoch eine komplett andere als diejenige der Volksgemeinschaft, was gleichfalls andere Gegenstrategien erfordert, wie z.B. eine stärkere Auseinandersetzung mit linker Geschichte. Dass die Entlarvung der Zivilgesellschaft die Gegnerschaft zum »Aufstand der Anständigen«, zur Antiglobalisierungsbewegung und zur Friedensbewegung bedeutet, haben wir bisher schon häufiger festgestellt und wollen dieses zum Abschluss noch einmal konstatieren. Deutschland bekämpfen heißt auch die Zivilgesellschaft zu bekämpfen, drunter ist es nicht zu haben.
Fußnoten:
(1) Vgl. bgr Leipzig, Das Projekt Zivilgesellschaft, in: Phase 2.08; Sven Weicher, Zivilgesellschaft von oben ist keine, in: Phase 2.09.
(2) Siehe den Beitrag »Der große Perspektivenschwindel« in dieser Ausgabe.
(3) Vgl. Sven Weicher: »Die Beschreibung der Gesellschaft mit soziologischen/politologischen Begriffen wie ›Zivilgesellschaft‹ hat mit Kritik ungefähr genauso viel zu tun wie Sozialarbeit mit der Abschaffung des Kapitalverhältnisses: nichts. […] Zu ›Krieg den deutschen Zuständen‹ braucht es mehr und etwas anderes als die Beschreibung der Gesellschaft unter Nutzung ihrer eigenen begriffslosen Chiffren.« Hiermit unterschlägt er völlig, dass der Begriff der Volksgemeinschaft gleichfalls keine Fremdbezeichnung ist, sondern als Begriff eines bestimmten politischen Projekts von ProtagonistInnen dieses Projekts eingeführt wurde.
(4) Die nationalsozialistische Führung brauchte bis mindestens 1938, bis sie mit der Umstrukturierung der deutschen Verwaltung und der Wehrmacht sowie der endgültigen Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft die Konsolidierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft vollzogen hatte. Der offizielle Stopp des Euthanasie-Programms sowie die Flucht Hitlers nach der Ausschaltung Ernst Röhms und der SA sind nur zwei Marksteine, die belegen, dass das Projekt der Volksgemeinschaft nicht bruchlos umgesetzt werden konnte. Dass die Einfügung in die Volksgemeinschaft von dem Großteil der Bevölkerung, der Eliten und des Kapitals weitestgehend willig vonstatten ging, soll hiermit jedoch mit keinem Wort geleugnet werden.
(5) Zwar existiert ein gesellschaftliches Unbehagen gegen die gegenwärtigen Formen des Kapitalismus und der Globalisierung, die beide als spezifisch amerikanische verschrien sind, an der grundsätzlichen Akzeptanz beider in einer anderen Form ändert dies jedoch nichts.
(6) Die Bemerkung Sven Weichers, dass »bevor das Projekt Zivilgesellschaft dessen Analyse völlig ohne politökonomische Kategorien auskommt, in Phase 2 seine Karriere begann, war in der Veranstaltungsreihe
Arbeiten lassen des bgr und in Phase 2.04 von diesem Thema zu Recht mehr die Rede« war, vernachlässigt die Tatsache, dass sich die Analyse der Zivilgesellschaft und die Analyse der gesellschaftliche Funktion der Arbeit nicht entgegenstehen sondern bestenfalls ergänzen.
(7) Vgl. bgr Leipzig, Das Projekt Zivilgesellschaft, in: Phase 2.08 für eine genauere Bestimmung der Partizipationsformen.
(8) Sven Weicher: »Wegen der ausgebliebenen bürgerlichen Emanzipation kann es in Deutschland schlicht keine solche Zivilgesellschaft geben, wie sie die Soziologie/Politologie zum Beispiel für die USA beschreibt.«
(9) Bei Sven Weicher heißt es, Gerhard Scheit zustimmend zitierend, dass »das Real-Abstrakte, das die Individuen stets auf den Warencharakter ihrer Arbeit zurückwarf, der Wert, […] in Gestalt des Judentums personifiziert und das wirkliche Judentum, als Personifizierung des Abstrakten […] nicht nur verbannt, sondern vernichtet wurde.« Hieraus folgert Sven Weicher: »An dieser Kontinuität haben auch die beiden ›Zäsuren‹, die von den Zivilgesellschaftsanalytikern gern ins Feld gebracht werden und die unter den Labels ›68‹ und ›89‹ firmieren, nichts geändert.«
BgR Leipzig