Das Thema Geschlecht und Kapitalismus ist wohl so alt wie der Versuch, wirtschaftliche Verhältnisse auf den Begriff zu bringen. Schon seit den Anfängen der Frauenbewegung wird sich mithilfe unterschiedlicher theoretischer Ansätze der Frage gewidmet, wie der Zusammenhang zwischen dem Geschlechterverhältnis und den Organisationsformen der Wirtschaft angemessen erfasst werden kann – und ebenso, wie die Abschaffung beider Ungleichheitsverhältnisse zu bewerkstelligen sei. Viel gestritten wurde darüber, ob es eine hierarchische Ordnung zwischen den Kategorien gebe, und somit eine Konzentration auf die Abschaffung einer der beiden gesellschaftlichen »Widersprüche« angemessen sei. Dabei wird die, zumindest stets subtil getragene, Privilegierung des Klassenwiderspruchs, nach dessen Aufhebung sich die Unterdrückung von Frauen quasi automatisch erledige, spätestens seit der Zweiten Frauenbewegung stark angegriffen. Klassischerweise wurde in linken Kreisen mit einem sozialwissenschaftlich angereicherten marxistischen Begriffsinstrumentarium der Zusammenhang von Geschlecht und Kapitalismus innerhalb eines Rahmens verhandelt, der von der Trennung zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre mit eindeutiger geschlechtlicher Zuweisung ausging – Frauen im Haus, Männer in der Fabrik. Dieser Rahmen wird nun im Kontext neuerer Theoretisierungen von Geschlecht und infolge neuer Fragestellungen verändert. Einen öffentlichen Ausdruck fand dies nicht zuletzt auf zwei Konferenzen in Berlin, zum Einen fand im März das aus linken Kreisen organisierte Event Who cares? Queerfeminismus und Ökonomiekritik statt, zum Anderen drei Monate später die akademisch geprägte Konferenz Desiring Just Economies – Just Economies of Desire.Die Programme sind online einzusehen unter: http://www.feministische-oekonomiekritik.org und http://www.desiring-just-economies.de, zuletzt eingesehen am 22.10.2010. Auf beiden Konferenzen war der Name J.K. Gibson-Graham in aller Munde. Es ist das Pseudonym zweier Wissenschaftlerinnen, Julie Gibson und Katherine Graham, Professorinnen in Canberra und Massachusetts, die seit vielen Jahren eng zusammen arbeiten und veröffentlichen. Ihr Buch The End of Capitalism (as we knew it)J.K. Gibson-Graham, The End of Capitalism (as we knew it). A Feminist Critique of Political Economy. Minneapolis 2006., das sie als feministische Kritik der Politischen Ökonomie verstanden wissen wollen, dient einer neuen Strömung des Queerfeminismus als Stichwortgeber und Inspirationsquelle – weshalb wir ihrem Konzept feministischer Ökonomiekritik in diesem Artikel einer genaueren und kritischen Betrachtung unterziehen wollen.
Von feministisch zu queer
Konfrontiert mit einer veränderten Realität, in der nicht nur Frauen endlich über ihre Berufstätigkeit selbst entscheiden dürfen und das auch tun, sondern in der sich gleichzeitig auch die Anforderungen an das arbeitende Individuum teilweise transformieren, wird mit dem Versuch, queertheoretische Ansätze in die Kapitalismusanalyse zu integrieren, ein neues Feld eröffnet. Die traditionellen Begriffe und Denkschienen sollen verlassen werden und das mit Hilfe von neuen, poststrukturalistischen Analyseinstrumenten. Die Ergebnisse sind so vielfältig und ausdifferenziert wie die Ansätze und Strömungen der Gender- und Queerforschung selbst – es wäre unzulässig zu behaupten, wir könnten in diesem Artikel die queerfeministische Ökonomiekritik darstellen. Es lassen sich jedoch einige Grundzüge festhalten, die einen Rahmen geben können.
Was im Zuge des Theoriewandels unter poststrukturalistischen Vorzeichen in den Vordergrund rückte, ist, dass soziale Verhältnisse als Prozesse zu denken und zu theoretisieren sind. Damit fand ein Wechsel der Blickrichtung statt, der nicht nur geschichtliche Entwicklung, sondern auch das Individuum als hergestellt erscheinen lässt. Eine Frau ist nicht eine Frau, weil sie eine Gebärmutter hat, sondern auch und gerade, weil sie sich als Frau verhält und als solche wahrgenommen wird. Dementsprechend werden nicht nur Denksysteme, sondern vor allem Praktiken auf ihre Beteiligung an der Erzeugung von Ordnung und andererseits die Prägung von Praktiken durch herrschende Kategorien untersucht. So wendet sich eine der Strömungen unter dem Terminus »sexuelle Arbeit« der Produktion und Reproduktion von Geschlechterbildern in Arbeitsverhältnissen zu. Die traditionelle Frage nach geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, also welche Tätigkeiten primär von Frauen oder Männern ausgeführt werden und welche Zuschreibungen damit verbunden sind, wird mit Hilfe des Terminus »doppelte Produktion« reformuliert. Untersucht wird, wie in Arbeitsverhältnissen nicht nur Produkte hergestellt werden, sondern zugleich und untrennbar auch vergeschlechtlichte Subjekte.Brigitte Kuster/Renate Lorenz, Sexuell Arbeiten. Eine queere Perspektive auf Arbeit und prekäres Leben, Berlin 2007.
Daneben gibt es aber auch eine präsente Richtung der queerfeministischen Kritik, die stärker auf kollektive Praxis hinaus will, zu denen auch die Publikationen von Gibson-Graham gehören. In ihr wird die Frage: »Was tun?« dominant. Eine der deutschen VertreterInnen ist Friederike Habermann, die mit ihrer »subjektfundierten Hegemonietheorie« praktische Kapitalismuskritik betreiben will, die sowohl auf die Veränderung der Subjekte als auch der Wirtschaftsweisen abhebt. In ihrem Buch Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag zeigt sie die »Vielfältigkeit« alternativer Wirtschaftsformen, unter denen Kommunen, Umsonstläden und Freie Radios ebenso gefasst werden wie Tauschringe, Wikipedia und eine Schwarzfahrerversicherung. Auch sie beruft sich auf Gibson-Graham als Inspirationsquelle. In diesen praxisorientierten Ansätzen wird ein Bedürfnis offensichtlich, sich ein besseres Leben einzurichten. Das ist völlig legitim – sofern damit nicht die positive Überwindung des Kapitalismus als erreicht erklärt wird.
Ein Anfang vom Ende?
Genau das tun aber Gibson-Graham mit ihrem Titel The End of Capitalism. Der Untertitel verspricht eine feministische Kritik der politischen Ökonomie. Ihr Projekt entwickelte sich nach eigenen Aussagen aus einer Kritik an dem dominanten Diskurs über Kapitalismus, den sie in ihrem marxistischen Umfeld, und davon ausgehend in der kapitalismuskritischen Literatur, ausmachen. Kapitalismus werde als ein globales, geschlossenes und einheitliches System konzipiert, aus dem es kein Entrinnen gebe und so jede Praxis von vornherein als konsequenzlos abschreibe. »Kapitalismus wird das Alles und Überall gegenwärtiger kultureller Repräsentation.«Gibson-Graham, The End of Capitalism, 9. Das Ergebnis der Bemühungen, Kapitalismus in seiner Struktur und seinen Funktionsweisen zu begreifen, sei ein »capitalist monster«Ebd., 21. das den Menschen bedrohlich entgegentrete. Selbst das Meiste, was an feministischer Kritik im Laufe der Zeit geleistet worden sei, habe das Monster nur gefüttert, indem untersucht und kritisiert wurde, welche Rolle die üblicherweise von Frauen übernommene Hausarbeit, Kindererziehung, Fürsorge für die Alten und Kranken etc. im System Kapitalismus übernehme, statt sie als eigene Ökonomieformen anzuerkennen und aufzuwerten. »[D]as Projekt, das Biest verstehen zu wollen, hat selbst ein Biest, oder gar ein Bestiarium, hervorgebracht.«Ebd., 3.
Gibson-Grahams Hauptkritikpunkt läuft darauf hinaus, dass in der Gegenwart Kapitalismus als Universalantwort auf jedes gesellschaftliche Verhältnis und jede Veränderung verwendet werde. Sie wiederum wollen einen Gegendiskurs schaffen, der die Vielfalt ökonomischer Formen und Tätigkeiten sichtbar macht, um die Welt mit »friendly monsters«Ebd., 21., »exotic creatures«Ebd., 3. zu bevölkern, die keine Angst mehr machen. Dafür holen sie sich Anleihen aus gendertheoretischen Ansätzen. Zentral ist dabei der Gedanke, dass es sich um ein Dominanzverhältnis zwischen den verschiedenen Ökonomieformen handele, das diskursiv aufgebaut würde. In Anlehnung an den Begriff phallocentric bilden sie den Begriff capitalocentric. Mit Phallozentrismus ist gemeint, dass das Männliche als Norm fungiert, wohingegen das Weibliche nur als sein Anderes oder als eine Ableitung vom Männlichen verstanden werden kann, nicht als etwas Eigenständiges anerkannt ist und so tendenziell abgewertet wird. Diese Denkfigur wird von Gibson-Graham übertragen auf den Bereich der Wirtschaft, von dem sie behaupten, dass hier der Kapitalismus der universale Bezugspunkt sei, auf den hin alle anderen Formen der Güterproduktion und -distribution orientiert seien. Seine Fassung als System, ausgestattet mit einer inneren Logik und verstanden als gesellschaftlich hegemoniale Wirtschaftsform, gilt Gibson-Graham als die Konstruktion einer »Identität«. Parallel zu dem, was die neuere Genderforschung an der Kategorie Geschlecht durchgeführt hat, müsse auch Kapitalismus als Diskurs entlarvt werden. Sie verstehen Kapitalismus als »regulatorische Fiktion«, ein Topos, den sie von Judith Butler übernehmen. Butler verwendet ihn im Kontext der kulturellen Produktion von Geschlechtsidentitäten: »Ihre Konstruktion erzwingt […] unseren Glauben an Natürlichkeit«, sie sind aber »durch Strafmaßnahmen regulierte kulturelle Fiktionen.«Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991, 206. Die zentralen Verfahren der Queer Theory: Deessentialisierung, Dezentrierung und Denaturalisierung werden so von Gibson-Graham auf Kapitalismus angewendet. Analog zur Vorstellung eines natürlichen weiblichen oder männlichen Wesens sehen sie die Vorstellung einer naturgesetzmäßig, inneren Entwicklungslogik des Kapitalismus am Werke, die kritisiert gehört. Die Binarität, die sich im Geschlechterverhältnis als Gegenüberstellung von männlich und weiblich äußere, finde in der Binarität kapitalistisch und nichtkapitalistisch ihre Entsprechung. Die Idee von Gibson-Graham dahinter ist eine dekonstruktivistische Bewegung zu initiieren, und damit die Eindeutigkeiten des kapitalistischen Diskurses zu destabilisieren. Statt von einer monokausalen Entwicklung der Welt auszugehen, solle der Blick für die Komplexität sozialer Vorgänge geöffnet werden. Das bedeutet für die Autorinnen, Formen »nichtkapitalistischer« Ökonomien, z.B. im Bereich des Tauschs – das Schenken, Bezahlungen mit alternativen Währungen, Fischen und Stehlen, im Bereich der Arbeit – Selbstständigkeit, Hausarbeit, Sklavenarbeit und Nachbarschaftshilfe, als nach anderen Regeln funktionierende Ökonomien zu konstruieren, d.h. Kapitalismus als eine Wirtschaftsweise unter vielen zu konzeptionalisieren.
Endlich(e) Identitäten
Gibson-Graham öffnen damit eine Perspektive auf das Ökonomische, die sich nicht auf eine Kapitalismusanalyse beschränken will. Dynamiken und Prozesse, Offenheit und Diversivität werden von ihnen in den Vordergrund geholt. Aber gibt es das Außen des Kapitalismus, so dass er nur eine Form neben anderen ist? Und kann dieses Aussen durch diskursive Veränderungen oder Gegendiskurse geschaffen werden?
Gibson-Graham wollen ein Ende des kapitalozentrischen Denkens erreichen, indem sie es als »regulatorische Fiktion« begreifen, die im Ökonomischen alles auf Kapitalismus hin ausrichte und damit das eigenständige Andere unsichtbar mache. Kapitalismus wird von Gibson-Graham als Diskurs behandelt, der analog zu dem Diskurs funktioniere, durch den kohärente und verständliche Personen konstruiert werden. Die Kritik an der herrschenden Vorstellung, die zugleich als Forderung auftritt, jeder Mensch habe eine fixe, sich durchhaltende Identität als Ausdruck eines Ich-Kerns, wird von ihnen auf Kapitalismus übertragen. Sie wollen damit die Annahme einer inneren Logik als Kern des Kapitalismus angreifen, das Ergebnis ist allerdings, dass sie ihn personalisieren. Funktionsmechanismen und Entstehungsweisen der Identität eines Menschen und der eines ökonomischen Zusammenhangs werden gleichgesetzt. Diese Analogie funktioniert aber nicht, da der Diskurs über Kapitalismus andere Ordnungen hat als der über Personen. Menschen handeln, kommunizieren, denken über sich und andere nach und die Art und Weisen dieses Tuns sind durch sie veränderbar – Kapitalismus besitzt in diesem Sinne keine Handlungsmacht. Gibson-Graham gehen sogar noch einen Schritt weiter und legen eine Identität von Haushaltsgeräten nahe, die ebenfalls dezentriert werden könnte.Gibson-Graham, The End of Capitalism, 31. Aber es ist doch wohl etwas anderes, wenn ich eine Person auf eine Identität – »Das ist eine Frau« – festschreibe, oder z.B. eine Waschmaschine nur als Kosumptionsmittel begreife. Diskursive Dezentrierung personaler Identität mit dem Ziel, Diversitäten sichtbar zu machen, zieht seine Berechtigung aus dem ethischen Anspruch, Menschen nicht in das binäre Zwangssystem des entweder männlich oder weiblich einzusperren, bei der Anwendung auf Gegenstände geht diese Grundlegung verloren.
Eine zweite Schwäche liegt bei Gibson-Graham in der Übertragung des Verfahrens der Deessentialisierung und Denaturalisierung. In Bezug auf die Geschlechter ist damit gemeint, dass sex als biologische, also natürliche, Tatsache angesehen wird, aus der das ganze Bündel sozialer und körperlicher Eigenschaften abgeleitet wird und somit der Natur zugeschlagen wird. Auch hier gibt es grundsätzliche Probleme mit der Analogisierung, denn es gibt einen Unterschied zwischen einer Fetischisierung der Warenform – also auch der Wahrnehmung einer Quasinaturgesetzmäßigkeit des Kapitalismus als naturnotwendig – als Naturalisierung und einer Naturalisierung des sex, oder der Geschlechtsidentität insgesamt!Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 26.
Gibson-Graham gehen davon aus, dass der Diskurs über Kapitalismus seine Überwindung zu denken unmöglich macht: »Es ist die Art und Weise wie Kapitalismus ›gedacht‹ wurde, die es für die Menschen so schwierig machte sich seine ›Abschaffung‹ vorzustellen.«Gibson-Graham, The End of Capitalism, 4. Über die Abschaffung oder Überwindung reden Gibson-Graham allerdings auch sehr wenig, und mit ihrer Beschränkung auf diskursive Verfahren stellen sie darüber hinaus die materiellen Auswirkungen in den Hintergrund. Das von ihnen beschriebene Monster prägt die jeweiligen Lebensbedingungen in großem Ausmaß mit. Selbst wenn die Diversität der Ökonomieformen anerkannt wird – der Zwang, sich an der kapitalistischen Verwertungslogik beteiligen zu müssen, um leben zu können, bleibt bestehen. Manche alternative Ökonomien sind eher aus der Not des Überlebens geboren, als dass sie einer bewussten Dezentrierung des kapitalozentrischen Denkens entsprungen wären und die Momente der Selbstverwertung, der (Selbst)Ausbeutung und Unterwerfung, die einem guten Leben im Wege stehen und auch Teil vieler alternativer Ökonomieformen sind, werden durch die Herangehensweise von Gibson-Graham eher sprachlich verschleiert als bekämpft.
Neue Formen
Der kategorialen Aufweichung unterschiedlicher ökonomischer Verhältnisse, kann eine Veränderung der kapitalistischen Produktionsweisen in den letzten Jahrzehnten anbei gestellt werden, die gerne unter dem Label Neoliberalismus gefasst wird. Die Aufweichung von Arbeitsverhältnissen, neue Unsicherheiten und Flexibilisierungen prägen dabei den Arbeitsalltag. Aber es gibt auch Tätigkeiten, die nicht unter die Kategorie Lohnarbeit fallen, die Teil neoliberaler und damit kapitalistischer Praxen sind, selbst wenn sie nicht unmittelbar der kapitalistischen Produktionsweise unterliegen. So werden auch reproduktive Tätigkeiten in neuen Offenheiten ausgeführt. Wenn hier die klassische Frage nach dem Verhältnis der Geschlechtsidentitäten und der Einteilung der ökonomisch geprägten gesellschaftlichen Sphären gestellt wird, lässt sich konstatieren: Insgesamt ist der Neoliberalismus durch ein Verschwimmen der im Fordismus scharf gezogenen Grenze zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre gekennzeichnet. Die unmittelbare Zuweisung des Männlichen an die Produktion und des Weiblichen an die Reproduktion passt nicht mehr an allen Stellen. Die Diversivität der verschiedensten Ökonomien wird zwar von Gibson-Graham bewusst nicht unter das Raster Produktion und Reproduktion gestellt – die Binarität wollen sie ja gerade auflösen. Aber dabei bleibt die Hausarbeit eine der Stellen, wo sich eine Destabilisierung des kapitalozentrischen Diskurses manifestieren könne.Ebd., 12. Die Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit wird zwar verwischt, wenn andere Ökonomieformen in den Vordergrund geholt werden, aber nicht aufgelöst. Die immanente Veränderung wird ausgeblendet und stattdessen durch die diskursive Dezentrierung eine Aufwertung versucht. Die Stelle, an der sich klassische Analysen des Verhältnisses von Kapitalismus und Geschlechtsidentität treffen, bleibt dabei bei Gibson-Graham, obschon durch die Hintertür, auch die Stelle, an der das empirische Verhältnis Eingang in die Analyse erhält. Aber die Trennung der Sphären, die sie vorschlagen, ist wenig sinnvoll, da sie damit die Sicht auf Veränderungen, die es in den vergeschlechtlichten Zuweisungen von Arbeitsgebieten gibt, verstellen. Ihre Analyse korrespondiert zwar mit der Veränderung der ökonomischen Gegebenheiten, aber sie machen dies nicht explizit: Die Aufweichung der Sphären im Neoliberalismus gehört zur hegemonialen kapitalistischen Produktionsweise. Und auch wenn die unmittelbaren Zuordnungen nicht mehr funktionieren, so benötigt die kapitalistische Produktionsweise dennoch reproduktive Bereiche, die verstärkt ausgelagert werden können und tendenziell häufiger von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeführt werden. Die Transformationen halten durch neue Offenheiten auch neue Zwänge der Selbstverwertung bereit.
Gibson-Graham wollen den Kapitalismus auf Warenproduktion begrenzen und ignorieren eine mögliche Übertragung von Strukturmomenten kapitalistischer Logiken. Auf einer unmittelbaren Ebene legen sie nahe, dass schon dann, wenn ohne Geld getauscht wird, eine kapitalistische Tauschlogik außer Kraft gesetzt werde, obwohl immer noch Äquivalententausch praktiziert wird. Und etwas weiter gegriffen ist fest zu stellen, dass manche Sozialkontakte, die nicht am Menschen (an sich) orientiert sind, sondern an Nützlichkeit für die Karriere, nicht einfach vom Kapitalismus zu lösen sind. Das Leben im Kapitalismus richtet die Subjekte zu, so dass eine eigene Verwertung verinnerlicht oder sogar gewollt ist. Wie sonst ließen sich die Identifizierungen von Arbeitnehmer_innen mit ihrem Job erklären? Oder überhaupt der Wunsch zu arbeiten? Diese Selbstverwertungsmechanismen verschwinden nicht unmittelbar, wenn andere Wirtschaftsweisen praktiziert werden. Was nicht heißt, dass sie so etwas wie anthropologische Konstanten darstellen würden, sondern nur, dass sich die Frage nach einem außerhalb kapitalistischer Logiken komplexer gestaltet, als es von Gibson-Graham nahe gelegt wird. Oder von einer anderen Seite: Wenn von Wechselwirkung, Überformung und Transformation gesellschaftlicher und kapitalistischer Verhältnisse und der Zurichtung der Subjekte ausgegangen wird, lassen sich auf beiden Seiten Strukturmomente finden, die nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. Wie ist es z.B. mit dem Verhältnis Rationalität-Zweckrationalität-Rationalisierung? Es kann wohl nicht davon ausgegangen werden, dass menschliche Vernunft erst mit dem Kapitalismus entsteht, aber in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft erhält sie eine spezifische Form. Das bürgerliche Subjekt wird durch ein Rationalitätsideal gedacht, das mit der ökonomischen Entwicklung korrespondiert: Durch Rationalität wird eine technische Rationalisierung einerseits ermöglicht, andererseits wird sie dadurch verkürzt und an ökonomische Zwecke gebunden. Die kapitalistische Produktionsweise mag begrenzt sein, auch die zugehörigen Denkformen sind (hoffentlich) nicht omnipräsent, aber diese explizit auszuklammern kann Zurichtungen und Selbstzurichtungen verdecken.
Ein Ende vom Anfang
Obwohl Gibson-Grahams theoretische Fundierung in ihrer Herleitung hinkt, sprechen sie einen Punkt an, der in ökonomiekritischen Debatten all zu oft untergeht: Nur auf die Revolution warten und nur das große Ganze kritisieren kann nicht die (einzige) Lösung sein. Die Frage „Was tun?" hat insofern ihre Berechtigung, dass es legitim ist, sich seinen Alltag angenehm einrichten zu wollen und dafür Lebensmodelle jenseits der Norm zu praktizieren. Aber dabei sollte keine verkürzte Kapitalismuskritik als Begründung herhalten müssen, die dies als das Richtige im falschen Ganzen begreift. Mit einer Diskursveränderung können vielleicht neue Ideen entstehen, eine bloße Konstatierung von ökonomischer Diversität ist jedoch noch kein Heraustreten aus den Zwängen kapitalistischer Vergesellschaftung.
Und was wird dabei aus dem Zusammenhang von Geschlechtsidentitäten, Geschlechterverhältnis und Kapitalismus? Während Lorenz und Kuster in ihrem Konzept der Sexuellen Arbeit Phänomene der (Re)Produktion von Geschlechtlichkeit bei der Produktion von Waren untersuchen, und versuchen, der komplexen Verquickung ökonomischer Bedingungen und Formung von Identitäten nachzugehen, bleibt das Verhältnis bei Gibson-Graham weitestgehend ungeklärt. Außer als theoretische Übertragungen von Verfahren aus dem Genderbereich auf den der Ökonomie kommt er eigentlich nur durch die Hintertür der Aufwertung der traditionellen Arbeitsbereiche von Frauen (Pflege, Kinderbetreuung etc.) vor. Die Perspektive auf die jeweiligen Erscheinungsformen von Geschlechtsidentitäten und Eigenschaften in der kapitalistischen Alltagswelt geht bei Gibson-Graham unter. Die unzähligen Analysen und Studien, die sich mit konkreten Ausformungen von Geschlechterverhältnissen und seinen ökonomischen Bedingungen und Konsequenzen befassen, finden keine Berücksichtigung. Sie interessiert weder eine Rückbindung an soziohistorische noch an global unterschiedliche Kontexte und übergehen so diejenige Ebene von Ökonomie, die einem konkret die Lebensbedingungen diktiert. Am Ende vermitteln sie den Eindruck, eine Änderung der Sichtweise auf Kapitalismus schaffe ihn ab. Ob und wie Queer Theory und materialistische Kritik zusammengedacht werden kann, welchen Stellenwert Ökonomie in der Formung von Geschlechtern hat und in welchem Verhältnis kapitalistische Logiken und sex, gender und (vor allem) desire in ihren Theoretisierungen und Terminologien zueinander stehen, ist weiterhin notwendig zu fragen. Die Leerstelle bleibt.
INKA SAUTER UND SONJA ENGEL
Die Autorinnen leben in Leipzig.