Seit der Wiedervereinigung und dem Ende der Blockkonfrontation steht die Linke nicht nur in Deutschland recht hilflos vor der eigenen Marginalisierung. Spätestens mit den politischen Folgen des 11. September wird aber schon die Darstellung der Verhältnisse zu einem massiven Problem: Angesichts heftiger rassistischer Verschärfungen im Rahmen der "Inneren Sicherheit", weltweiter Kriegseinsätze und Phänomenen á la Berlusconi/Haider vor der Haustür fallen sachbezogene Mobilisierungen zu Themen wie Rassismus, Krieg oder Faschismus unter dem Motto "Es wird immer schlimmer" der Verharmlosung zum Opfer.
Das Problem scheint wesentlich darin zu bestehen, dass eine angemessene wie übergreifende Beschreibung deutscher Verhältnisse vor einem Begriff steht, vor dem (noch) zurecht zurückgeschreckt wird: Faschismus. Dennoch ist eine Veränderung des "Systems" derzeit nicht anders vorstellbar, Kommunismus steht jedenfalls nicht an. Um der Entwicklung der BRD seit 89, Rot-Grün und dem 11. September gerecht zu werden ist es aber zwingend notwendig, eine qualitative Veränderung deutlich zu machen.
Hier soll nun auch keine neue Faschisierungsthese aufgemacht werden, sondern, sozusagen mit Blick auf Österreich, der Begriff Postfaschismus in den Blickwinkel rücken. Dieser bezeichnet historisch nicht ein Staatssystem, sondern eine gesellschaftliche Kontinuität, in der BRD das Fortleben von Nazis und entsprechenden Strukturen in der Nachkriegszeit. Vom Nationalsozialismus ist hier zwar sauber zu trennen, von seinen Nachwirkungen muss aber gesprochen werden.
Es geht sozusagen darum, Faschismus als gesellschaftliche und durchaus relevante Strömung in der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft nachzuweisen, und zwar jenseits der Nazis und gerade im "Mainstream". Anders gesagt, es geht um Tendenzen, die allerdings seit der Wiedervereinigung Deutschlands beständig zunehmende Wirkungsmächtigkeit erlangen. Gefasst werden sollen diese Tendenzen, wie gesagt, als Postfaschismus. Dabei soll der Blick weniger auf Personen wie etwa den genannten Berlusconi oder Haider liegen. Vielmehr muss es darum gehen, die Entwicklungen innerhalb der Politik, die durch besagte Personen repräsentiert werden, vor einem analytischen Hintergrund einteilbar zu machen. Denn dass besagte Entwicklungen sich durchaus auch in Deutschland wiederfinden, ist sicher.
Im folgenden soll versucht werden, den entsprechenden Hintergrund materialistisch zu fassen, in der Hoffnung, in einer angemessenen Darstellung der politisch-ideologischen Verfasstheit der derzeitigen Verhältnisse als Angriffspunkt für eine Antifabewegung münden zu können.
Wir sind wieder Wer - Wer ist wieder was?
Das "neue Selbstbewusstsein" des Staates BRD muss nicht erst nachgewiesen werden, es schallt einem von allen Ecken und Enden entgegen. Es in Kategorien zu fassen ist ungleich notwendiger angesichts einer Linken, die beständig vor neue Phänomene des erwachenden Deutschlands gestellt wird - zum Beispiel Kampfeinsätze der Bundeswehr - und an der Sache selbst höchstens den Anstandswauwau machen kann, der die Grünen wieder vor eine neue Zerreißprobe stellt.
Tatsächlich hat Schröder guten Grund, seiner Regierung eine völlig neue Grundlage zu attestieren. In Politik und Ökonomie hat sich einiges getan. Mit dem Ende der Blockkonfrontation wurde, erstmals nach dem zweiten Weltkrieg, endlich wieder die politische Zurichtung eines eigenen wirtschaftlichen Hinterhofes im Ostblock möglich. Das Projekt wurde schon von der Regierung Kohl mit Vehemenz betrieben, insbesondere mit der Aufspaltung Jugoslawiens, kam aber erst unter Rot-Grün so richtig in Fahrt. Zum einen wurde die Militärische Fortsetzung der eigenen Außenpolitik im Inneren überhaupt erst durchgesetzt. Zum anderen wurde mit der Teilnahme an der Anti-Terror Allianz der Spielraum für diese Art des deutschen Engagements potentiell auf Weltniveau befördert.
Die Bedeutung, die das für den deutschen politisch-ökonomischen Rahmen hat, kann kaum überschätzt werden. Die exportorientierte deutsche Wirtschaft hatte der BRD schon lange den Ruf als "political Dwarf, economical Giant" beschert. Und sie krankte beständig an der mangelnden politischen Interessensicherung als "deutsches" Kapital, insbesondere gegenüber dem "amerikanischen", das die sogenannte Globalisierung wesentlich stärker prägte. Mit der hegemonialen Stellung in der EU sind die europäischen Konkurrenten im internationalen Wettbewerb der Staaten ausreichend eingegliedert, und es kann davon ausgegangen werden, dass die herkömmlichen Methoden von Wirtschaftspolitik als Interessenvertretung eines deutschen Kapitals (Diplomatie, Währungspolitik...) wettbewerbsfähig und somit ausgereizt sind. Die kommende Wirtschaftspolitik wird sich daran messen, inwieweit sie zur politisch-militärischen Präkonditionierung mehr oder weniger ferner Regionen nach Vorbild der USA in der Lage ist. Erst der entsprechende Nachweis kann auch zu neuer Geltung im Rahmen internationalerer Organisationen wie IWF oder NATO führen. Bis dahin sind es noch ein paar Schritte.
Eine Nation mit Kapital!
Ein Effekt lässt sich jedoch jetzt schon absehen, nämlich die wachsende Bedeutung des Staates. Abgesehen von etwa Ansehen oder Geltung ist ein wichtiger Punkt das sich ankündigende Wachsen des Staatskonsums, insbesondere durch das Militär. Dies ist deshalb entscheidend, weil die entsprechenden Mehrausgaben des Staates großteils eine Verwertungsgarantie für "treues", soll heißen: deutsch verwaltetes Kapital bedeuten. Gleichzeitig stellt sich der Staat hier für deutsche Kapitalverwalter zunehmend als sinnvolle Investition dar, in der bezahlte Steuern sinnvoll verwandt werden. Eine entscheidendere Rückkopplung kann es für das Agieren als ideeller Gesamtkapitalist wohl kaum geben, die Bedeutung einer solchen Bindung von Nation und Kapital für den Währungs- und Staatshaushalt sind immens. Welches Potential die europaweit zentralisierte Rüstungsindustrie noch bereithält, kann dafür als Gradmesser gelten. Ein weiterer Hinweis muss hier - in aller Kürze - gemacht werden, und zwar auf die Kontinuität deutscher Außenpolitik, gerade in der "normalisierten" Situation als Weltmacht. Wenn die EU das Gelingen dessen markiert, woran Deutschland laut Klaus Kinkel ´94 "in diesem Jahrhundert zweimal gescheitert ist", dann sind der Krieg gegen Jugoslawien und die jetzt anstehenden Einsätze wie auch die Außenpolitik im Allgemeinen nachholende Normalisierungen im Rahmen des gleichen Versuches. So sind nicht nur viele Verbündete die Gleichen wie im gesamten letzten Jahrhundert, auch die grundlegende Strategie hat sich kaum verändert: Die Freundschaft zu den "jungen Völkern" (notwendig unterstützt von dazugehöriger völkischer Ideologie, die dann als Ethnologie auftritt), als Mittel zur Unterteilung bestehender Staaten nach "Ethnien", wie an Jugoslawien vorexerziert. Diese Methode war schon unter Ribbentrop und Himmler Konzept. Dass die Kontinuität sich bis heute hält, ist zweifelsohne eher der ähnlichen geostrategischen Situation geschuldet als bloßer Tradition.
Nichtsdestotrotz wird die vermeintliche alte Völkerfreundschaft gerne als solche verstanden, zuletzt von der UCK. Fischer wird kaum darum herumkommen, damit auch Politik zu machen. Nur kann er es hierzulande noch nicht offen so darstellen. Aber die Betonung muss auf dem "noch" liegen.
Denn sowohl der Garant eines "Treuebonus" für bestimmte Kapitalien als auch die Form der Interessenvertretung durch die Außenpolitik dieser Regierung stellen rationales Vorgehen dar, und dennoch wird in ihnen ein ideologisches Moment sichtbar, mitunter ein spezifisch deutsches.
Volk sein wollen
So hat Kapital, und mit ihm zunächst auch die Kapitalistin, von sich aus keinerlei Bindung, etwa an eine Nation, was ja unter anderem als "Globalisierung" oft genug festgestellt wird. Die Anpassung der nationalen Wettbewerbsstaaten an dieses Prinzip wird oft genug auch als Widerstand dagegen ausgegeben, geht es doch in jedem Fall um die oben beschriebene Bindung zwischen Staat und Kapital. Der Kitt, der diese Bindung herstellt, bedarf notwendig einer ideologischen Begründung, die eine Gemeinsamkeit zwischen Staat und bestimmten Kapitalien überhaupt erst herstellt. So können einzelne Kapitalistinnen durchaus einen Wettbewerbsvorteil aus ihrer nationaltreuen Gesinnung ziehen. Ein Vorgang, der übrigens keineswegs auf das "große" Kapital beschränkt bleibt, sondern gerade die Arbeit wie den (potentiellen) Arbeiter als Teil von Kapital miteinbeziehen muss. Diese - notwendig falsche - Ideologie ist grundsätzlich die nationale Identität, die sich sowohl durch unterschiedliche Methoden als auch mit unterschiedlichem Erfolg konstituiert. Die allerdings durchaus immer ihren Niederschlag in der "materiellen Basis" findet, womit wieder auf Deutschland zurückgekommen werden soll.
Die hiesige Ausprägung der beschriebenen "Notwendigkeit" einer nationalen Identität kennzeichnet sich durch ihre enorme Umfassung gesellschaftlicher Bereiche. Die Forderung nach Kooperation, dem Zurückstecken eigener, spezifischer Interessen etwa als Arbeiter, Frau oder Linker zu Gunsten des höheren Wohls des Volkes, das auch gerne als Gesellschaft schlechthin bezeichnet wird. Die Maßstäbe, die hier etwa durch das Bündnis für Arbeit gesetzt wurden, finden sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wieder, etwa bei der Familien- und Sozialpolitik, die sich nach wie vor an der unerwähnten Idee vom gesunden Volkskörper orientiert, in der jedes Milieu funktional zu sein hat für die Gesamtheit. Die deutsche Identität stellt sich als extrem geschlossen dar, was nicht zuletzt an diversen politischen Bewegungen deutlich wird, auch und gerade den Linken. Interessenvertretung kann so überhaupt nur unter dem ständigen Nachweis erfolgreich sein, dass die jeweilige Klientel auch zu den Deutschen gehört und gehören will. Wo dies scheitert, kann auch keine Anerkennung von Interessen stattfinden, höchstens eine Art Faktenhandel um einen echten oder vermeintlichen Nutzen, der durch die betroffene Gruppe hergestellt werden kann. Die Debatten um Greencards und Zuwanderungsgesetze waren eindrückliches Beispiel für einen solchen Anerkennungshandel, an dem unter anderem auch das spezifische Problem der "Ausländer" deutlich wurde.
Linke Bewegungen konnten sich, wie insbesondere die Atomkraftgegner und die Friedensbewegung, immer dafür entscheiden, einen Kampf für ein besseres Deutschland zu führen, zum Beispiel eines ohne Atomkraft. Wo diese Entscheidung ausblieb, ging bis jetzt noch jede Bewegung zugrunde. Die mehr oder weniger beteiligten linksradikalen Kräfte mussten das Feld immer dann räumen, wenn diese Entscheidung erst einmal getroffen war. Was im deutschen Korporatismus nicht aufgehen will oder kann, hat zu verschwinden, was für die Betroffenen derzeit vor allen Dingen Marginalisierung bedeutet.
Dabei zeitigt die deutsche Gesellschaft diese Prozesse mit einem ungeheuren Elan. Ob es nun um die Leistungen deutscher Schüler, Kampfhunde oder Nazis geht, die kollektive Betroffenheit mündet stets in einem ansehnlichen Mobilisierungspotential, das wesentlicher Bestandteil der "großen" Politik ist. Die Fähigkeit, die fast schon regelmäßig durch Deutschland ruckenden Aufschreie etwa über den neuesten pädophilen Straftäter in Politik umzumünzen, ist Trumpf und Voraussetzung einer jeden ernstzunehmenden politischen Karriere. Diese Form von Politik mag etwas besonderes Deutsches sein oder auch nicht, die Geschlossenheit, mit der das Zusammenspiel von Politik, Medien und den oft als "Stammtische" verharmlosten Volksmassen funktioniert, ist in ihrer Normalität genau der Punkt, an dem sich eine qualitative Entwicklung deutlich machen lassen kann. Die Frage, die sich stellt angesichts eines neuen deutschen "Selbstbewusstseins", das durchaus auf neuen Objektivitäten fußt, also einer Verschiebung in der Ideologie nationaler Identität lässt sich hier vielleicht am besten verdeutlichen.
Vom Damals ins Danach
Es ist Spekulation, ob die sich in der Angst vor Milzbrand und Ulrikes Mörder zusammenfindende Volksmasse der Option Stoiber bedarf oder nicht, wenn auch womöglich eine interessante. Sie könnte den Überschlag markieren von Postfaschismus in demokratischen Faschismus. Die sozialdemokratische Regierung schafft die "Einheit" über den Ethos der (implizit immer deutschen) Arbeit und lässt die ausgrenzenden Momente dieser Gemeinschaftsherstellung im Kopf des Rezipienten. Die christdemokratische/soziale Variante wird hier expilizit, etwa mit der "Überfremdung", was durchaus einen Unterschied machen könnte, wenn sie sich erst einmal im Chefsessel findet. In jedem Fall verweist der Verlauf von Politik in Deutschland überall da, wo Gemeinschaft erkannt oder verlangt wird, auf die völkische Mobilisierung und damit auf den größten Erfolg derselben: den Nationalsozialismus. Hier liegt auch die Vergleichbarkeit der deutschen und österreichischen Verhältnisse, wobei Haiders Explizität sogar schon den vorsichtigen Verweis auf die "gute, alte Zeit" nicht mehr scheut.
Und die Zustände sind seit dem 11. September in beschleunigter Bewegung, und der oben erwähnte Elan kommt mit dem Erlangen eines neuen Selbstbewusstseins nicht etwa zum Erliegen, sondern findet um so dringlicheren Handlungsbedarf vor, seien es die Bedürfnisse des deutschen Heeres oder die noch weitergehende Verdächtigung Nichtdeutscher im Zeichen der Inneren Sicherheit. Wohl jede einzelne Klausel der Otto-Kataloge kann als Erklärung an den guten Deutschen gelesen werden, als jemand, der sich nichts vorzuwerfen hat, dringend Schutzbedürftig zu sein.
Eine Saturiertheit kann die deutsche Gemeinschaft allem Anschein nach gar nicht erlangen, sie findet zueinander in der großen Aufgabe oder auch im Angesicht der großen Bedrohung, oft genug ist beides eh das Gleiche.
Angesichts der Massivität dieser Entwicklung läuft jede politische Bewegung Gefahr, mit- und weggespült zu werden. Um einen radikalen Bruch überhaupt noch möglich zu machen, ist der Verweis auf den Ursprung der derzeitigen Form von Politik als Verweis auf die immer noch bestehenden Voraussetzungen von Faschismus und eben auch Auschwitz notwendig. Der Begriff vom Postfaschismus soll genau dies leisten. Einer Antifa oder auch einer antifaschistischen Linken kann gar keine andere Möglichkeit mehr offen bleiben, wenn sie sich allein die theoretische Möglichkeit auf Widerstand im Angesicht des "Aufstands der Anständigen" bewahren will. Dies wird nicht automatisch zu einer neuen gesellschaftlichen Wahrnehmbarkeit oder gar Relevanz führen, aber es bietet die Möglichkeit einer Wiedergewinnung von Subversivität, oder anders gesagt, die Volksgemeinschaft da zu pieksen, wo es weh tut. Eine Intervention etwa, wie jüngst auf einer Walser Veranstaltung, zielt hier genau in die richtige Richtung, wie der Rahmen der Möglichkeiten für praktische Kritik allgemein vorerst bei den Wortführern der Normalisierung liegen wird, solange eine größere Mobilisierung gegen die Rituale der nicht so neuen deutschen Nation nicht in greifbare Nähe rückt. Wenn es eine Notwendigkeit für eine Antifa als Bewegung gibt, dann ist sie hier zu suchen.
Phase 2 Göttingen