Überlegungen zu Lohnarbeit, Emanzipation und Revolution

Aus Anlass diverser Jahrestage

Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen 1789, Peterloo-Massaker auf dem  St. Peter's Field bei Manchester am 16. August 1819, Einführung des Frauenwahlrechts in verschiedenen europäischen Ländern 1918/19, Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen 1918 [u.a.]

Seit Anfang der Nullerjahre erfreut sich der Terminus emanzipatorisch in Teilen der postautonomen und neueren sozialdemokratischen Linken einer gewissen Beliebtheit. Von den sechzigern bis in die neunziger Jahre verband die Linke den Begriff Emanzipation vor allem mit dem Kampf der Frauenbewegung(en). Davon zeugt das in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangene Pejorativum »Emanze«. Seit Ende der neunziger Jahre ersetzte Emanzipation für manche aus den Neuen Sozialen Bewegungen hervorgegangenen bzw. von diesen beeinflussten mehr oder weniger radikalen linken Gruppen das Wort »Revolution«. Nach der globalen politischen Niederlage der Linken Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre klang »revolutionär« in vielen Ohren nur noch pathetisch. Durch die Selbstdesavouierung des Parteikommunismus mit seinem Kult um die Oktoberrevolution und aufgrund der selbstkritischen antinationalen/antideutschen Auseinandersetzung mit der Politik des radikalen Flügels der Neuen Linken wirkte der Begriff altbacken und angesichts der internationalen Verhältnisse auch größenwahnsinnig. Mit der ersatzweisen Verwendung von emanzipatorisch markiert sich seitdem eine Linke, die ein Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen ablehnt und Antifaschismus, Kapitalismuskritik, Feminismus, Antirassismus, Umweltschutz und den Kampf gegen Antisemitismus und Trans- und Homosexuellenfeindlichkeit als gleichberechtigte Tätigkeitsfelder ansieht.

Von ihren politischen VorgängerInnen, teils von ihren eigenen politischen Biographien, distanzieren sich diese Linken durch eine Absage an eine romantische Sicht auf politische Umstürze, Bewegungen, Kämpfe, Militanz etc. und die explizit formulierte Anerkennung des Faktes, dass bestimmte Resultate bürgerlich-demokratischer Vergesellschaftung historische Fortschritte darstellen. Politische AkteurInnen und Prozesse sind für sie daran zu messen, ob sie diese Mindeststandards bewahren und ausbauen. Dies definiere, welche Politik als emanzipatorisch gelten kann oder eben nicht. Darüber hinaus bleibt der Begriff jedoch eine Leerformel, die auf eine zukünftige, bessere Gesellschaft verweist, ohne zur Diskussion über ihre Gestalt bzw. den Weg dorthin allzu viel beizutragen. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, überblicksartig nachzuvollziehen, was Emanzipation im 19. und 20. Jahrhundert bedeutete und auf welchen sozioökonomischen Prozessen sie beruhte, um einen Beitrag zur Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen von Emanzipation heute zu leisten.

Das bürgerliche Subjekt

Mit der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsweise entwickelte sich ein neues gesellschaftliches Subjekt: Es besaß Produktionsmittel als Kapital im Privateigentum, d. h. die ausschließliche Verfügungsgewalt über diese Produktionsmittel, und konnte sie zur Erzeugung von Mehrwert nutzen, ohne dass feudale HerrscherInnen daran Rechte geltend machen konnten. Als die Protagonisten dieser neuen Subjektivität in bürgerlichen Revolutionen die Epoche feudaler Herrschaft politisch beendeten, definierten sie ihre Träger als männlich. Der Text der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 macht deutlich, dass les hommes tatsächlich nur die Männer meinte.Christiane Gerstetter, Menschenrechte gleich Männerrechte? Feministische Menschenrechtskritk, in: Forum Recht 19 (2001), 52-55.

Im Kern bestimmte sich die bürgerliche Subjektivität juristisch und politisch durch das Recht zur Mitwirkung an der Willensbildung in der res publica, also dem Gemeinwesen, ausgedrückt im aktiven und passiven Wahlrecht, und in der Privatautonomie, die es erlaubte, nach eigenem Gutdünken und frei von feudalen Fesseln über individuelles Eigentum zu verfügen. Diese Rechte standen zu Beginn der bürgerlichen Herrschaft grundsätzlich nur Männern eines bestimmten Alters, die über ein bestimmtes Mindestmaß an Kapital verfügten, zu. Alle anderen verblieben in einem inferioren sozialen Status bzw. wurden in diesen gezwungen. Im Bild des »reichen alten weißen Mannes« als Inhaber politischer und ökonomischer Macht taucht dieses Faktum in aktuellen Diskursen als Karikatur wieder auf.

Der Kampf um Emanzipation

Die Anstrengungen der großen soziopolitischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts hatten diese Bürgerrechte, also formal gleiche politische Partizipationsrechte und Privatautonomie, zum Ziel. Der Kampf für das Wahlrecht überhaupt bzw. gegen das Zensuswahlrecht war zentrales politisches Anliegen von ArbeiterInnen-, Frauen- und schwarzer Emanzipationsbewegung in den Vereinigten Staaten. Aber auch die Privatautonomie, vor allem das Recht über die eigene Arbeitskraft tatsächlich frei zu verfügen und in der Lage zu sein, als EigentümerIn aufzutreten, musste von diesen Gruppen erst errungen werden. Die Bewegungen konnten sich historisch immer dann durchsetzen, wenn es ihnen gelang, mittels der qua Lohnarbeit erfolgten Einbindung in den Prozess der Mehrwerterzeugung eine politische Machtposition zu entwickeln.

Eine Sonderrolle spielten dabei die Emanzipationsbestrebungen von Schwulen und Lesben. Auch hier ging es um den BürgerInnen-Status, nämlich ein Ende der Kriminalisierung und volle Privatautonomie (konkretisiert im Recht, Eheverträge abzuschließen). Der Unterschied zur Ausgangslage oben genannter Bewegungen ist, dass männliche bürgerliche Homosexuelle durch den Akt der Kriminalisierung aus dem Kreis der bürgerlichen Subjekte individuell, quasi »künstlich«, ausgegrenzt werden mussten. Das rechtliche Regime, dem (männliche) Homosexuelle unterworfen waren und sind, zielte und zielt darauf ab, Homosexualität zum Verschwinden zu bringen. Die Verweigerung bürgerlicher Rechte für ArbeiterInnen, Frauen und Schwarze wollte diese hingegen nicht aus der Gesellschaft eliminieren. Sie waren geduldet, sollten jedoch wissen, »wo ihr Platz ist«.

Die Proleten werden Citoyens

Dem bürgerlichen Subjekt als Eigentümer an den Produktionsmitteln entstand in Form der ProletarierInnen ein Gegenüber, dass die für die Kapitalverwertung nötige menschliche Arbeit zu erbringen hatte und hat. Weil diese Arbeitskräfte sowohl frei vom Besitz an Produktionsmitteln als auch frei von feudalen Verpflichtungen (und Sicherheiten) waren, traten sie bei Karl Marx unter dem Rubrum des »doppelt freien Lohnarbeiters« ins Blickfeld der Kritik. Tatsächlich war der »doppelt freie Loharbeiter« so frei lange nicht. Die Verfügung über die Ware Arbeitskraft war weit stärker reglementiert, als z. B. der Verkauf von Land, Rohstoffen und Maschinen. So unterwarf der britische Masters and Servants Act von 1823 bis 1875 ArbeiterInnen einer strikten staatlichen Kontrolle, beschränkte die Freiheit, Arbeitsverhältnisse zu beenden oder zu verändern und sah bei Verstößen Haftstrafen vor.Robert Steinfeld, Free Wage Labor and the Suffrage in nineteenth Century England, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 123 (2006), 266-283. Das Recht, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen, d. h. mit anderen TrägerInnen der Ware Arbeitskraft Kartelle zum Zwecke des Verkaufs derselben zu bilden, wurde den ArbeiterInnen anfänglich grundsätzlich verweigert. Weder durften sie wählen oder gewählt werden, noch politische Vereinigungen gründen.

Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts ist der Kampf um genau diese Rechte: Vereinigungsfreiheit, unbeschränkter Wechsel des Arbeitsplatzes, Wahlrecht. Fast vergessen ist heute die einstige Bedeutung des Kampfes um das Wahlrecht für die ArbeiterInnenbewegung. So geht die marxistische Debatte um den Massenstreik auf die belgischen Generalstreiks für das allgemeine Wahlrecht zurück.Janet L. Polasky, A Revolution for Socialist Reforms. The Belgiuan General Strike for Universal Suffrage, Journal of Contemporary History 27 (1992), 449-466. Auch in seinen weniger radikalen Formen beruhte der Kampf stets auf der Verfügung über die für die Kapitalverwertung notwendige menschliche Arbeitskraft als Druckmittel. In diesen Auseinandersetzungen geriet die historische Linke (Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien) zum Transmissionsriemen und übersetzte das ökonomische Kampfpotenzial der ProletInnen (»Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will«) letztlich in bürgerliche Subjektivität. Ihre erfolgreiche Aneignung veränderte die Klasse und ihr Bewusstsein dramatisch. Davon künden einige Textstellen bei Marx, vor allem aber bei Friedrich Engels, die heute und angesichts der Realität des allgemeinen Wahlrechts mitunter komisch wirken. Engels äußert etwa die große Erwartung, das allgemeine Wahlrecht garantiere faktisch den Sieg der proletarischen Partei.So: »[...] die deutsche Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung [...]. Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, [...] bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden ›Gewalthaufen‹ der internationalen proletarischen armee. Diese Masse liefert schon jetzt über ein Viertel der abgegebnen Stimmen; und wie die Einzelwahlen für den Reichstag, die einzelstaatlichen Landtagswahlen, die Gemeinderats- und Gewerbegerichtswahlren beweisen, nimmt sie unablässig zu. [...] Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhundert den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht.« Freidrich Engels, Einleitung zu Kalr Marx' »Klassenkämpfe in Frankfreich 1848 bis 1850« (1859), MEW 22, 509-527, 524.

Frauenbewegungen im Kampf um bürgerliche Subjektivität

Mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft veränderten sich auch Geschlechterverhältnisse. Diese waren und sind durch den Ausschluss der Frauen von der neuen bürgerlichen Subjektivität gekennzeichnet, ein Prozess, der durchaus gewaltsam erfolgte. Wo Frauen versuchten, bürgerliche Subjektivität zu erlangen, wurden ihre Bemühungen repressiv erstickt.So starb Olympe de Gouges (1748-1793), die die Errungenschaften der Revolution von 1789 auch Frauen zugänglich machen wollte, am 3. November 1793 unter dem Fallbeil. Frauen waren sowohl in ihrer Privatautonomie beschnitten (zumindest als Verheiratete mussten sie die Kontrolle über ihren Besitz dem Ehemann überlassen, durften Lohnarbeit nur mit dessen Zustimmung ausüben und ihr Zugang zu Bildung und Lohnarbeit unterlag strengen Restriktionen) als auch von der Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen. Die inferiore gesellschaftliche Stellung macht sich damals wie heute an der Verweigerung der reproduktiven Selbstkontrolle fest.

Im 19. Jahrhundert bildeten sich Frauenbewegungen einmal innerhalb der Arbeiterklasse—im Umfeld der bereits existierenden, männlich geprägten proletarischen Organisationen—, aber auch im weiblichen Bildungsbürgertum, das entstand, als erste Studiengänge und akademische Berufe für Frauen geöffnet wurden. Die Selbstbestimmung als Ziel der verschiedenen Frauenbewegungen definierte sich durch Privatautonomie, Wahlrecht und reproduktive Selbstbestimmung. Streiks und gewerkschaftliche Organisation waren wichtiger Bestandteil dieser Kämpfe.Statt langer Literaturlisten sei an dieser Stelle auf den Internationalen Frauentag, den 8. März verwiesen, der, aus dem Kampf der proletarischen Frauenbewegung für das Frauenwahlrecht hervorgehend, seine datumsmäßige Fixierung durch Streiks Petrograder Arbeiterinnen im Jahr 1917 erfuhr.

Es waren jedoch die beiden Weltkriege, in deren Gefolge in den meisten europäischen Staaten das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Die Kriege veränderten die Beschäftigungsstruktur weiblicher Arbeitskräfte gravierend. Sie übernahmen nun vakante Stellen in der Rüstungsindustrie sowie in Bereichen der Schwerindustrie, die traditionell die Heimstatt der organisierten ArbeiterInnenklasse waren und in denen diese strategische Arbeitskämpfe führte. Die so erlangte zumindest potenzielle Machtstellung im Produktionsprozess tauschten die Frauen nach den Kriegen gegen das Recht auf politische Mitbestimmung.Zur spezifischen Entwicklung in einzelnen europäischen Ländern: Blanca Rodríguez-Ruiz/Ruth Rubio-Marín (Hrsg.), The Struggle for Female Suffrage in Europe. Voting to Become Citizens, Leiden 2012. Mit der Erlangung des Wahlrechts war der Prozess der bürgerlichen Subjektwerdung der Frauen jedoch noch lange nicht abgeschlossen. In der BRD etwa dürfen Frauen erst seit 1977 ihren Arbeitsplatz ohne Zustimmung des Ehemannes wählen. Die Kämpfe um Privatautonomie und Selbstbestimmung fanden häufig auf der Basis von Lohnarbeit statt. Dafür ist der isländische Frauenstreik vom 24. Oktober 1975 nur das prägnanteste Beispiel: Beinahe 90 Prozent der erwachsenen weiblichen Bevölkerung Islands legte für einen Tag die Arbeit nieder. Noch die Forderung nach Lohn für Hausarbeit, die Feministinnen in den siebziger Jahren erhoben, verweist auf die Bedeutung der Lohnarbeit als Basis weiblicher Emanzipationsbestrebungen im 20. Jahrhundert. Die Kampagne versuchte, die durch den Verkauf von Arbeitskraft erreichte Machtposition auf den Bereich der unbezahlten Hausarbeit auszuweiten bzw. das Machtgefälle zwischen allein lohnarbeitenden Männern und zusätzlich unbezahlte Hausarbeit leistenden Frauen aufzubrechen.

Das Civil Rights Movement in den Vereinigten Staaten

Die Vereinigten Staaten retteten das feudale Prinzip personaler Herrschaft über die Ware Arbeitskraft in Gestalt der Sklaverei in den Kapitalismus hinüber. Nachdem diese Form der unfreien Arbeit im Ergebnis des US-amerikanischen Bürgerkrieges 1865 abgeschafft worden war, sollten im Rahmen der sogenannten reconstruction des Südens auch dort bürgerlich-demokratische Verhältnisse unter Einschluss der schwarzen Bevölkerung etabliert werden.Zum revolutionären Charakter dieses Prozesses: Howard Fast, Freedom Road, New York 1944. Dieser Versuch scheiterte allerdings. Zwar waren die Schwarzen keine SklavInnen mehr, doch wurden sie auch nicht zu BürgerInnen. Die rassistische Gesetzgebung der Jim Crow Laws (1877—1964) beschränkte sowohl ihre Beteiligung am politischen Prozess als auch ihre Privatautonomie. Sie erlaubte es Weißen, faktisch ungestraft Gewalt gegen Schwarze auszuüben, die versuchten, bürgerliche Rechte zu erlangen.

Im 20. Jahrhundert, mit Beginn der industriellen Massenproduktion, zogen Millionen Schwarze aus den agrarischen Südstaaten in die industriellen Zentren des Nordens. Mit der Entwicklung der Vereinigten Staaten zur modernen Industrienation bildeten diese Zentren den strategischen Ort der Mehrwertproduktion. Nicht dass Schwarze Lohnarbeit leisteten, denn das taten sie nach der Abschaffung der Sklaverei auch in der Agrarwirtschaft des Südens, sondern wo, gab damit den Ausschlag für die weitere Entwicklung. Die wachsende Bedeutung afroamerikanischer Arbeitskräfte in der Industrieproduktion veränderte ab den dreißiger Jahren die politischen Kraftverhältnisse. Schwarze ArbeiterInnen kämpften sich in die Gewerkschaften: Symbolisch steht hierfür die Aufnahme der von schwarzen Eisenbahnangestellten gegründeten Brotherhood of Sleeping Car Porters in die American Federation of Labor im Jahr 1935.

Während des Zweiten Weltkrieges bauten schwarze ArbeiterInnen die Machtstellung in den Gewerkschaften aus. Trotz Rückschlägen nach Kriegsende bildete diese Position die Basis für die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre. Finanzielle Ressourcen, juristische Unterstützung, Öffentlichkeitsarbeit und der politische Einfluss der Gewerkschaften waren insbesondere für die Verabschiedung des Civil Rights Act (1964) und des Voting Rights Act (1965) entscheidend.

Emanzipation via Lohnarbeit in der Krise

Seit Ende der achtziger Jahren führten politische Umstürze, Revolten und Aufstände, die häufig mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts analogisiert wurden—vor allem das Ende des Realsozialismus in Osteuropa und der UdSSR sowie der Arabische Frühling—, nicht zu einer Ausweitung bürgerlicher-demokratischer Vergesellschaftung. Stattdessen erheben sich zwischen Weichsel und Pazifik und vom Rif-Gebirge bis zum Himalaya auf den Resten der Modernisierungsregimes des Realsozialismus und der Entkolonialisierung alle Stufen des Übergangs zu und allerhand Mischformen aus personaler und Bandenherrschaft. In den alten Industrienationen des »Westens« sind die maßgeblichen soziopolitischen Bewegungen, die unter den Bedingungen der aktuellen ökonomischen und politischen Krisen entstehen, grundsätzlich solche, die der abstrakten Gleichheit aller StaatsbürgerInnen ablehnend gegenüberstehen. Mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Radikalitätsgraden wollen sie die Bürgerschaft (verstanden als vollumfänglich gewährte Privatautonomie und Wahlrecht) von Frauen, »Schwarzen«,»Schwarze« in Anführungsstrichen, weil es recht unterschiedliche Gruppen sind, die in den jeweiligen Gesellschaften die Rolle des rassistisch abgewerteten Bevölkerungsanteils spielen müssen. Armen, Homosexuellen usw. einschränken.

Die Diskussion um die Gründe dieser Entwicklung hat sich zumindest im Hinblick auf die westlichen Industrienationen in den letzten Jahren auf die Politik der Linken fokussiert. Der Vorwurf lautet, sie habe sich von der ArbeiterInnenklasse und ihren Bedürfnissen abgewandt—in Frankreich wie auch Deutschland hat dies prominent Didier Eribon in Retour à Reims vertreten. Die Linke versucht nun teilweise mit einem Comeback des Klassenkampfs, einer »Neuen Klassenpolitik«, diesen Weg zu revidieren. Tatsächlich sehen die Entwürfe im Kern die voluntaristische Rückkehr zu Politiken des 19. und 20. Jahrhunderts vor. Ob dies unter der aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen erfolgversprechend ist, ist zweifelhaft. Denn der hier sehr grob skizzierte historische Zusammenhang zwischen Lohnarbeit und Emanzipation verweist auf ein höchst aktuelles Problem: Wenn soziale Gruppen, denen die Grundlagen bürgerlicher Subjektivität vorenthalten werden, nicht in der Lage sind, aus ihrer Unabdingbarkeit für die Profiterzeugung gesellschaftliche Machtpositionen zu erringen, dann steht ihnen der Entwicklungsweg der hier beschriebenen Emanzipationsbewegungen nicht mehr offen.

Zwar ist mittlerweile der größte Teil der Weltbevölkerung vom Verkauf seiner Arbeitskraft abhängig. Die Mehrzahl dieser Lohnabhängigen ist jedoch nur noch auf sehr prekäre Weise in die Mehrwertproduktion integriert. Nach Ansicht einiger TheoretikerInnen führen die technologischen Entwicklungen der »vierten industriellen Revolution« global zur Zunahme einer Überschussbevölkerung, bringen also Menschen hervor, die faktisch nicht mehr für die Kapitalverwertung benötigt werden. Zum Einstieg in dieses Diskussion empfehlenswert: Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Reflexionen über das Surplus-Proletariat. Phänomene, Theorie, Folgen, 6. März 2016, https://kosmoprolet.org/de/reflexionen-ueber-das-surplus-proletariat-phaenomene-theorie-folgen Diese Überschussbevölkerung hält sich auf alle möglichen Arten und Weisen über Wasser, von Subsistenzlandwirtschaft über prekäre Jobs, Kleinhandel, Arbeitsmigration und Rücküberweisungen, Kriminalität etc. Diese Tätigkeiten werden nicht ausgeübt, weil sie zur Mehrwertproduktion beitragen, sondern um des bloßen Überlebens willen. Dabei bildet dieses Surplus-Proletariat keinen von den übrigen Lohnabhängigen klar geschiedenen Bevölkerungsteil. Die Grenzen sind fließend. Viele stehen mit einem Bein in der einen Gruppe und mit dem zweiten in der anderen.

Das Surplus-Proletariat verliert also in der Tendenz die Eigenschaft, Träger der Ware Arbeitskraft zu sein. Damit fehlt ihm aber zugleich die aus dieser speziellen Ware abgeleitete ökonomische und später politische Macht. Und die bildete, wie gezeigt, die Basis der emanzipatorischen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts. Deswegen entsteht im Osteuropa der colorful revolutions ebenso wie in den Gesellschaften des arabischen »Winters« eben keine massenhafte neue staatsbürgerliche Subjektivität als Fundament funktionierender Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Stattdessen stehen die Trägerschichten dieser Revolutionen vor der Wahl, zu emigrieren oder sich am Kampf um die lokalen Rentenquellen zu beteiligen, und damit die Barbarisierung der Verhältnisse mit voranzutreiben.

In den Industrienationen Europas und Nordamerikas erweist sich zudem, dass die Erlangung bürgerlicher Subjektivität für die hier genannten Gruppen immer prekär war und immer davon abhing, den erlangten Status auch verteidigen zu können. Davon zeugt aktuell etwa der Umstand, dass in den Vereinigten Staaten mit der Einführung formeller Regelungen, wie z.B. Ausweispflichten, oder durch eine repressive Kriminalitätspolitik in Verbindung mit dem Entzug des Stimmrechtes für Verurteilte de facto das Wahlrecht mittelloser Schwarzer infrage gestellt wird. Hierzulande greifen wiederum Beschränkungen, denen Hartz-IV-EmpfängerInnen hinsichtlich Wohnortwahl und Arbeitsaufnahme unterliegen, tief in die Privatautonomie der Betroffenen ein.

Wo das Nachdenken erst anfängt

Bei allem radikalen Pathos, bei aller Inbrunst, Erlösungshoffnung und revolutionärem Überschwang: Die drei großen Emanzipationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts überwanden eben nicht die auf der Mehrwertproduktion beruhende bürgerliche Gesellschaft, verfolgten in der Breite ihrer jeweiligen Basis auch nicht dieses Ziel. Sie erkämpften vielmehr ihre jeweilige Integration in die bürgerliche Gesellschaft, indem sie bürgerliche Subjektivität auch für die zuvor aus ihr Exkludierten öffneten. Dies gelang, weil diese Ausgeschlossenen unverzichtbar für die Erzeugung von Mehrwert waren und sich zumindest auf dieser Ebene mit den Bourgeois vergleichen konnten. Heute befinden wir uns in einer welthistorischen Situation, in der vieles dafür spricht, dass die Entwicklung der Produktivkräfte eben dieser Form von Emanzipation die Grundlage entzieht. Wenn das stimmt, führt kein Weg zurück ins 19. und 20. Jahrhundert, in die goldenen Zeiten der beschriebenen sozialen Bewegungen, ja überhaupt zurück zu dieser Form von Emanzipation. Ein Leben in Freiheit und Gleichheit wäre dann auf anderen, noch unbekannten Wegen zu erkämpfen. The future is tatsächlich unwritten.

Marek Winter

Der Autor lebt im Berliner Umland und beschäftigt sich mit der Geschichte und Gegenwart sozialer Bewegungen.