Auf der Pressekonferenz zur Premiere des Films Pourquoi Israel 1972 in New York wurde Claude Lanzmann gefragt, was denn nun seine Heimat sei: Frankreich oder Israel? Lanzmanns Memoiren, die 2009 in Frankreich und dieses Jahr unter dem Titel Der patagonische Hase auf Deutsch erschienen sind, eröffnen dieser Fragestellung einen neuen Horizont.
1925 in eine säkulare jüdisch-französische Familie hineingeboren, kämpfte er in seiner Jugend in der französischen Résistance. Nach dem Krieg studierte und lehrte er in Heidelberg und Westberlin Philosophie und erkundete 1952 erstmalig den noch jungen jüdischen Staat. Mit Israel fühlt sich Lanzmann seitdem stark verbunden. Er lernte dort 1970 seine spätere Frau, die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, kennen. Seine intensive Beschäftigung mit dem jüdischen Schicksal im 20. Jahrhundert – nirgendwo so nah, so spürbar wie in diesem Land – wird sein gesamtes weiteres Schaffen prägen. Vor allem mit der Film-Trilogie Shoa, Pourquoi Israel und Tsahal hat Lanzmann dem Leidensweg der Juden und ihrer nationalen Emanzipation ein beeindruckendes Denkmal gesetzt.
Die biographischen Etappen Claude Lanzmanns sind vielfältig, sein Leben beeindruckend, und es ist ihm gelungen, dieses Leben in eine dichtgedrängte und packende Form zu bringen. So etwa, wenn er von der Zeit im besetzten Frankreich berichtet, als der Vater ihn und seine zwei Geschwister fast schon wahnhaft Nacht für Nacht mit Stoppuhr den Ernstfall einer SS-Razzia proben ließ: im Dunkeln anziehen, wegschleichen und verstecken. Oder wenn er von den geheimen Waffenlieferungen für die Résistance spricht, die er inmitten deutscher Truppen am Bahnhof von Clermont-Ferrand in Empfang nehmen musste. Nach dem Krieg geriet Lanzmann schnell in den Sog des Existenzialismus und des intellektuellen Milieus um Jean-Paul Sartre. Er arbeitete für dessen Le Temps Modernes und kämpfte zusammen mit Sartre und Simone de Beauvoir für ein unabhängiges Algerien. Das Verhältnis der drei liefert viel Stoff für Anekdoten, etwa von ihrer Reise nach Ägypten und Israel 1967 kurz vor Ausbruch des Sechstagekriegs, die den Bruch mit Sartre einleitete, da Sartres Unwilligkeit und Unfähigkeit, Israel nicht aus einer antikolonialen Perspektive her zu beurteilen, Lanzmann zutiefst verstörte.
Lanzmann eröffnet seine Memoiren mit einem Vergleich historischer Hinrichtungsformen. En detail beschreibt er, wie in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Methoden Menschen gehängt, erschossen oder geköpft werden. Die Beschreibung des Todes fungiert für Lanzmann als Negativfolie für sein eigentliches Anliegen: seiner unbändigen Liebe zum Leben Ausdruck zu verleihen. Analog dazu ist seine Film-Trilogie zu verstehen, in der dem Film Shoa, als Schilderung des Todes, die Filme über Israel, die das Leben symbolisieren sollen, gegenübergestellt werden. Das Spannungsverhältnis von Tod und Leben ist für Lanzmann auch in seiner Betrachtung der Israelischen Armee (Tsahal) entscheidend. Die Tsahal hat für ihn »die Gewalt nicht im Blut«, sondern kämpft vielmehr für »das Vorrecht des Lebens, das die Bewahrung des Lebens zum Prinzip macht«. Als Sinnbild dafür dienen ihm die FallschirmjägerInnen der Tsahal, die nicht kahl geschoren sind, sondern Haare auf ihren Köpfen tragen, »und das verändert alles: Auf ihren Gesichtern steht der Ernst mit der Sanftheit im Widerstreit, die Menschenliebe mit der Askese, die Angst mit der Zuversicht« (54). Das nicht zurechtgestutzte Haupt der SoldatenInnen symbolisiere die Individualität und das Leben, und eben dies mache die israelische Armee so besonders. Im Unterschied zu Sartres antikolonialem Blick auf Israel folgt Lanzmann also einem konkurrierenden Narrativ, das Israel als Symbol des Lebens aus der Shoa heraus erklärt und legitimiert.
Insgesamt gewährt Der patagonische Hase einen tiefen Einblick in das Leben eines außergewöhnlichen Intellektuellen. Seien es seine filmreifen Abenteuer oder die zahlreichen Begegnungen mit interessanten und kontroversen Persönlichkeiten wie Gamal Abdel Nasser, Frantz Fanon, Gershom Scholem oder David Grossman, immer gelingt es Claude Lanzmann, mit seiner erstaunlichen Erinnerungsfähigkeit und mit viel – in Hinblick auf seine zahlreichen Liebschaften manchmal zu viel – Liebe zum Detail, den/die LeserIn derart in den Bann zu ziehen, dass dieser/diese ihm selbst seine nicht überlesbare Selbstherrlichkeit verzeiht.
Doch Der patagonische Hase ist mehr als nur das Vermächtnis einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Claude Lanzmanns Leben kann geradezu als paradigmatisch für das jüdisch-diasporische Leben in der Moderne verstanden werden. Denn, wie er selbst schreibt, sind er und sein Werk geprägt von der Dialektik von »Drinnen und Draußen«, vom Leben als säkularer Jude in Frankreich und als französischer Jude in Israel. Zum Objekt seiner Memoiren wählt sich Lanzmann auch weniger die einzelnen Lebensstationen, als vielmehr seine Filme, sein Werk. Die weitestgehend chronologische Erzählung wird immer wieder durch Einschübe zu seinen Filmen unterbrochen, alles wird auf seine Filme bezogen. Und so reagiert er auf die Frage, ob nun Frankreich oder Israel seine Heimat sei, mit der einzig passenden und angemessenen Antwort: »Meine Heimat ist mein Film.«
Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen, Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 682 S., € 24,95.
DAVID KOWALSKI