Am 21. Dezember 2018 ist der Gesellschaftskritiker Wolfgang Pohrt gestorben. »Er hinterlässt mehr Feinde als Freunde. Das hätte ihm gefallen« schrieb sein Verlag Edition Tiamat anlässlich seines Todes. An Pohrts Kritiken und Einwürfen rieben sich über die Jahre viele, auch in der Phase 2. Er hinterlässt ein umfangreiches Werk, insbesondere in den achtziger und neunziger Jahren ließ er kaum eine linke Gewissheit unkritisiert. Unter anderem die Friedensbewegung und alle, die Deutschland gestalten wollen, bekamen ihre gerechte Polemik. Nach dem Tod seiner Frau 2004 publizierte er mehrere Jahre nicht. Sein Buch Das allerletzte Gefecht von 2011 sollte tatsächlich seine letzte Monographie bleiben. Die bissigen und erfrischend unversöhnlichen Texte Pohrts macht Edition Tiamat gegenwärtig in einer insgesamt elf Bände umfassenden Werksausgabe zugänglich. Sie wird bereits vergriffene Bücher mit Essays und unveröffentlichten Schriften zusammenführen. Sein Verleger Klaus Bittermann erinnert für die Phase 2 an Wolfgang Pohrt.
Es war Anfang der achtziger Jahre als mir die bei Rotbuch erschienenen Bücher von Wolfgang Pohrt Ausverkauf und Endstation in die Hände fielen, die ich begierig verschlang, nicht nur weil ich eine große inhaltliche Übereinstimmung mit seinen Texten feststellte, sondern auch weil da jemand einen neuen Ton anschlug. Der Autor verstand es, seine Thesen und Analysen mit großer Schärfe, Klugheit und Eleganz zu formulieren, kein Wort klang falsch oder deplatziert, er verwendete keine Schaumsprache und keine Weihrauchvokabeln, seine Argumentation traf genau und er nahm keine Rücksicht auf den Gegenstand seiner Kritik. Das hat mich sehr beeindruckt und ich glaube noch heute, dass es keinen begnadeteren Schreiber gibt, der seine politischen Analysen, denen immer etwas Selbstverständliches innewohnte, mit größerer Überzeugungskraft zu Papier bringen konnte und der dabei Witz und Sarkasmus besser einzusetzen gewusst hätte als Wolfgang Pohrt. Seine Vortragskunst hielt sich hingegen in Grenzen. Da hielt er sich lieber streng an das Manuskript.
Dabei nahm Pohrt immer den gegenteiligen oder zumindest einen anderen Standpunkt ein als den, den einzunehmen er Denkfaulheit nachwies, und der von Leuten vertreten wurde, die lieber in vorgefertigten Schablonen dachten oder glaubten, mit dem Weltbild eines Tagesschausprechers ihre Karriere voranzubringen. Und diese intellektuelle Kompromisslosigkeit, diese Unnachgiebigkeit in der Argumentation, sprach mich sofort an, weil ich von der real existierenden Linken sowieso nichts hielt, seit sie sich ein alternatives Lebenskonzept zugezogen hatte, die Grünen und die Friedensbewegung nationale Töne anschlugen und die Nation nicht mehr abschaffen, sondern retten wollten, weshalb auch deren Sprache immer schaumiger und staatstragender wurde. Und deshalb hatte ich schon seit geraumer Zeit nach etwas gesucht, das politisch radikal, intelligent, arrogant gegenüber dem Gegenstand und den Leuten war, die medial und in der Öffentlichkeit den Ton angaben. Und weil seine Texte nie langweilig waren und immer mit einem überraschenden, brillanten Gedanken aufwarteten, konnte ich gar nicht genug davon kriegen. Klar, es gab Marx, Hegel, Adorno, Horkheimer, aber sich an deren Einsichten zu erfreuen und sie zu bestaunen war etwas anderes als sie auch produktiv zu wenden, wie Pohrt das scheinbar mühelos gelang. Die meisten haben das nicht geschafft, die im Unterschied zu Pohrt damit Karriere an der Uni machten, indem sie nur lange genug Klassikerexegese betrieben.
Aus den Büchern Pohrts drang ein Sound, der ein ganz anderer war als der, den ich bislang kannte; unabhängig, erfrischend und nicht darauf aus, korrekt zu sein und die Wahrheit gepachtet zu haben. Die erste Anstreichung in Ausverkauf galt dem Satz: »In einer gedankenlosen Welt ist das Denken wesentlich Hirngespinst. Daher die Esoterik und tendenzielle Nicht-Verstehbarkeit authentischer Theorie, der gelegentlich selbst deren Verfasser zum Opfer fällt. Zwei faule Wochen oder eine Erkältung genügen, die Niederschrift eines Aufsatzes von der Unfähigkeit zu trennen, diesen auch nur noch zu verstehen.« Dass er dieses Apodiktische auch selbstironisch gegen den Verfasser wendete, das war freies, abschweifendes Denken, wobei dieses Denken ihn nicht davon abhielt, vehement darum zu streiten, ob ein Gedanke oder eine Argumentation richtig oder falsch waren. Aber weil sich das zwar alles schön behaupten lässt, man sich mit etwas gutem Willen aber auch ganz andere Inhalte darunter vorstellen kann, hier noch ein paar Stellen: »Die Abschaffung von Herrschaft hieß zweierlei: die Führer und die Massen abschaffen [...]. Die Abschaffung von Herrschaft war inhaltlich bestimmt: als—freilich noch gemeinsam zu entwickelnde—Fähigkeit eines jeden, ohne Partei und Führer gemeinsam mit anderen und notfalls auch allein das Richtige zu tun.«
Endlich verklärte einer mal nicht die Massen als, wenn auch nur potentielles, Subjekt der Geschichte, sondern brachte das Offensichtliche zum Ausdruck, nämlich dass die Massen einem feindlich gesonnen waren (vor allem in der noch in den siebziger und achtziger Jahren nachwirkenden Nachkriegsgesellschaft, in der die Nazis so leben konnten, als wäre nie etwas passiert, und die RAF-Hysterie daran erinnerte, dass sich nicht wirklich etwas verändert hatte, jedenfalls nicht in den Köpfen der Leute, die gerne und sofort einem Erschießungskommando beigetreten wären). Und wenn es nicht anders ginge, dann besser alleine und auf eigene Rechnung handeln, und Pohrt verweist an dieser Stelle auf Johann Georg Elsner, »der ganz allein die Bombe bastelte und deponierte, die im Bürgerbräukeller am 8. November 1939 Hitler erwischt hätte, wenn er programmgemäß geblieben wäre«.
Masse war nach der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus so desavouiert, dass sie sich nicht mehr als Größe behandeln ließ, auf die man sich praktisch oder theoretisch beziehen konnte, um eine politische Veränderung herbeizuführen, und dennoch spekulierte die Linke ganz selbstverständlich darauf, die Massen für ihre Zwecke zu mobilisieren und auf ihre Seite zu ziehen. Von der »unverwüstlichen Kriegsgeneration mit der hohen Kampfmoral im Schlußverkauf« und mit dem »gnadenlosen Überlebenswillen«, die »aus jedem Holzbein eine Waffe« macht, war nichts zu erwarten, schon gar keine Revolution, jedenfalls keine, bei der man selber ungeschoren davonkommen würde. Nicht einmal so etwas Elementares wie Menschlichkeit ließ sich voraussetzen, denn im Deutschland der siebziger Jahre hatte so etwas wie zivilisatorische Standards noch nicht Einzug gehalten und die Linke trug nicht gerade dazu bei, dass sich dies änderte.
In Die schweigende Mehrheit vor der Verwirklichung ihrer geheimen Wünsche durch ihre Opfer bewahren beschreibt Pohrt das verhärtete Kollektiv der Deutschen, das sich von keiner Anwandlung humanen Verhaltens, von keiner Erinnerung an die eigenen Kinder, die sie weich werden ließe, davon abhalten lassen würde, andere zu denunzieren und sich an der verdeckten Menschenjagd bei der Jagd auf die Mitglieder der RAF zu beteiligen. Und auch heute noch ernten Leute wie Thilo Sarrazin großen Zuspruch und landen Bestseller mit Büchern, die die »Überfremdung« und die Hartz IV-Mentalität des Landes anklagen, und die dabei die gescheiterte Existenz des eigenen Sohnes, der in einem Plattenbau im Osten Berlins wohnt und gerne arbeitslos ist, nicht etwa milde stimmt, sondern vielmehr das Material herzugeben scheint, um besonders hart gegen Menschen ins Gericht zu gehen, denen das Schicksal aus welchen Gründen auch immer übel mitgespielt hat. Aber es waren nicht nur die Senioren, die einem das Leben schwer machten. »Um so alt zu werden, wie heute die 20-jährigen sind, hätte ein Mensch früher dreihundert Jahre gebraucht.« Und diesem Phänomen der frühen Vergreisung, die im Gesicht der Menschen häufig sichtbare Spuren hinterlässt, begegnet man immer noch beziehungsweise wieder.
Diese Beobachtungen standen nicht im Fokus seiner Kritik, aber sie waren eine Art Grundrauschen, etwas, das seine Kritik immanent voraussetzte, eine Haltung, in der seine Kritik an den großen und eigentlichen Themen wie die Aktualität des Nationalsozialismus oder die Friedensbewegung und Anti-Atombewegung ihren Ausgang hatte, und von der aus sich eine Kritik manchmal erst richtig einschätzen lässt, manchmal nur Nebensätze und Marginalien, die Hinweise liefern, woher der Impuls seiner Kritik stammt. Dieses Grundrauschen, wie z.B. der Hinweis auf die Schwarze Botin, auf die Flugblätterder Gruppe Subversive Aktion und die Aufsätze von Hans-Jürgen Krahl als Gegengift zum Kursbuch, dessen Weg in »die neudeutsche Klebrigkeit« er einmal beschrieb, waren Hinweise, in welchem Koordinatensystem sich Pohrt bewegte, auch wenn er nie darauf explizit Bezug nahm wie er das bei Adorno, Horkheimer, Benjamin, Arendt und anderen tat. Durch Pohrt lernte ich, der Friedensbewegung, die 1980 in Bonn mit 300.000 Demonstranten ihren Höhepunkt erreicht hatte, nicht einfach nur mit einem Gefühl der Abneigung zu begegnen, sondern sie als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen, das etwas über die deutsche Wirklichkeit aussagte. Er zeigte, dass hinter ihrer hehren Absicht nach Frieden die Sehnsucht nach Nation steckte und dass sich in ihrem Weltbild ziemlich deutliche Hinweise auf völkisches Gedankengut nachweisen ließen.
Damals war Pohrt äußerst produktiv und ich durchforstete ständig alle möglichen Blätter, für die er schrieb, um keinen seiner Artikel zu verpassen. Zweimal erlebte ich ihn in Berlin, einmal am 1. November 1983 im großen Saal der Akademie der Künste, wo er den Vortrag Der Krieg als wirklicher Befreier und wahren Sachwalter der Menschlichkeit über Sinn und Unsinn der Friedensbewegung hielt, gegen die Einwände seiner Mitdiskutanten Thomas Schmid und Fritz Vilmar, und vor allem gegen ungefähr 1.000 Zuschauer, von denen die überwiegende Mehrheit sich über Pohrts Thesen aufregten und dies auch zum Ausdruck brachten. Das andere Mal, ein Jahr vorher, am 5. November 1982, in der Blumenthalstraße 13, einem besetzten Haus, wo er den Vortrag Die Rebellion der Heinzelmännchen hielt. Und wie der Titel des Referats bereits verriet, hatte das wenig zu tun mit der von den Veranstaltern auf einem Flugblatt formulierten Ankündigung: »Besetzte Häuser: Sozialrevolutionärer Ansatz oder Modeerscheinung? Strategien der Schweine und die Rolle der besetzten Häuser! Wie geht’s weiter?« Diese Frage jedenfalls beantwortete Pohrt nicht und die Rhetorik wäre ihm ein Greuel gewesen. Er konstatierte lediglich, aber das war vernichtend genug, weil er den Berliner Häuserkampf als »eine Mischung aus freiwilligem Arbeitsdienst und Rebellion« begriff. Das war mutig. Und auch, dass er diesem Befund folgende Bemerkung vorausschickte, unterschied ihn von Leuten, die ex cathedra verkünden:
»Ich habe weder an dieser Bewegung teilgenommen, noch habe ich sie erforscht oder gründlich studiert, ich habe nicht mit Besetzern gesprochen, nie in einem besetzten Haus gewohnt, und ich besitze keine Dossiers. Ich habe nicht recherchiert, weder im journalistischen noch im kriminalistischen Sinne, und man hat mir daraus einen Vorwurf gemacht. Man hat mir vorgeworfen, die Friedensbewegung, die Alternativen, die Grünen und die Hausbesetzer leichtfertig, gewissenlos und verantwortungslos zu verleumden. Dem halte ich entgegen, daß ein Kommentator oder Kritiker deshalb, weil er keine Macht hat, Urteile zu fällen oder Strafen zu verhängen, auch nicht an die Regeln der Beweisaufnahme gebunden ist, welche die Strafprozeßordnung verlangt. Man trägt keine Verantwortung, wenn man sich Gedanken macht und eine begründete abweichende Meinung äußert, nicht als Kritiker oder Publizist, der keine administrative Macht besitzt. Wenn der Kanzler Unsinn erzählt, dann ist dieser Unsinn deshalb, weil sein Erzähler die Macht besitzt, ihn zu verwirklichen, immer noch wichtig. Wenn ich Unfug schreibe oder rede, so ist dieser Unfug vollkommen bedeutungslos, und man kann ihn getrost als Produkt eines mitteilungssüchtigen Spinners ignorieren.«
Indem er seine eigene Bedeutung als Kommentator relativierte, ließ er gleichzeitig auch alle anderen, die im gleichen Gewerbe tätig waren, nicht gerade in einem vorteilhaften Licht erscheinen, er stellte damit ein Geschäftsmodell in Frage, auf dem auch seine Existenz beruhte, und er gab den Leuten zu verstehen, dass den sogenannten »Experten«, die im öffentlichen Raum ihre Meinung kundtaten, nur die Bedeutung zukam, die man ihnen entgegenbrachte. Er machte das vor einem Publikum aus der eher kritischen Fraktion der Hausbesetzerbewegung, also vor Leuten, die ihm mit Sicherheit näherstanden als jene, die sich in erster Linie billigen Wohnraum ergattern wollten, aber er hatte ihnen trotzdem keine guten Nachrichten zu überbringen.
Ich wartete bereits gespannt auf den nächsten Band bei Rotbuch und als der nicht kam, schrieb ich ihm, ob er vielleicht bei mir seine nächste Essay-Sammlung machen wollen würde. Er sagte sofort zu, weil das Rotbuch-Kollektiv mit einigen seiner Äußerungen im letzten Buch nicht einverstanden war, was zu einem längeren Briefwechsel führte. Ich hatte nun einen Autor, der dem Verlag ein Profil gab, Aufmerksamkeit verschaffte und der andere Autoren zum Verlag führte, wie Eike Geisel, Henryk M. Broder, Christian Schultz-Gerstein, und auch Die Technik des Staatsstreichs ging auf eine Empfehlung von Pohrt zurück.
»Mein Job ist die Ideologiekritik, das habe ich gelernt«, sagte Pohrt 1987 den Stuttgarter Nachrichten. »Die Leute sagen mir, was sie denken und ich sage ihnen, warum das falsch ist.« Aber er wusste auch, dass er damit in eine Sackgasse geriet. »Man tritt in der BRD in eine Phase ein, in der es kein falsches Bewusstsein, sondern die Absenz jeden Bewußtseins überhaupt gibt—was den Job des Ideologiekritikers natürlich schwierig macht.«
Kurze Zeit später kam mit der Wiedervereinigung die Ausländerverfolgung, der Golfkrieg und der Krieg in Jugoslawien, also eine Zeit, in der Pohrt keinen Sinn mehr darin sah, als Ideologiekritiker weiterhin das Feuilleton mit lustigen, kleinen Artikeln über Kulturphänomene zu bereichern.
Aber schon vorher war er immer wieder an seine Grenzen gestoßen, wie 1981, als es schon einmal eine »Ausländerdebatte« gab, die in Deutschland immer wieder periodisch auftaucht, weshalb viele seine Artikel nie wirklich veralten. In Vier Milliarden Ausländer schrieb er: »Es kleiden Politiker [...] ihre Drohung gegen die Ausländer in die Warnung vor der wachsenden Ausländerfeindlichkeit—dieselben Politiker, die nicht im Traum daran denken würden, dem Volkszorn eine Startbahn, ein Atomkraftwerk oder die diplomatischen Beziehungen zu den USA zu opfern. Politiker, die staatliche Restriktionen gegen Ausländer mit der wachsenden Ausländerfeindlichkeit begründen, verbünden sich bedenkenlos mit demselben Mob, den sie ebenso bedenkenlos durch Entzug von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, durch die Aussicht auf höhere Mieten, soziale Deklassierung usw. in die Enge treiben. Die geduldige Hinnahme der eigenen Verarmung und Deklassierung wird bei der Bevölkerung stillschweigend vorausgesetzt, doch wenn die Bevölkerung keine Ausländer mehr ertragen könne, dann—so geben die Politiker zu verstehen—würde man dafür Verständnis haben; Politiker, denen man, nebenbei bemerkt, bei Strafe der Beamtenbeleidigung die Fähigkeit nicht absprechen darf zum simplen Rückschluß: Wenn heute die Ausländer Ursache sind für die Ausländerfeindlichkeit der Deutschen, dann waren damals an Auschwitz die Juden selber schuld. Es hätte sie nur ganz einfach nicht geben dürfen, dann hätte niemand etwas gegen sie gehabt, und dann hätte man sie natürlich auch nicht umgebracht. Vertreiben, verfolgen und töten kann man nicht den, der nicht lebt. Wer lebt, und dies auch noch als Ausländer in Deutschland, hat sich die Folgen selber zuzuschreiben. Das Opfer ist schuld, nicht der Täter. [...] Was hilft‘s, jemanden belehren und aufklären zu wollen, wenn er ein handfestes Interesse daran hat, dumm zu sein oder wenigstens so zu erscheinen. Und diese Leute haben ein Interesse daran, dumm zu sein oder wenigstens so zu erscheinen, weil die Dummheit jene Schlechtigkeit begründet und entschuldigt, zu der sie Lust hätten: die Vertreibung, das Pogrom.«
Und dies gilt auch heute noch als einziges vernünftiges Argument in der Debatte darüber, wie man sich gegenüber der AfD und dem Dresdner Mob nun verhalten solle. Mit ihnen reden? Aber worüber reden? Ihnen zeigen, dass man sie ernst nimmt? Aber bei was ernst nehmen? Sie womöglich gar nach ihren Wünschen fragen? Welche Wünsche? Bei den ganzen gut gemeinten Vorschlägen werden die Augen davor verschlossen, dass an Dummheit und Hass jeder gutgemeinte Ratschlag scheitert, weshalb es nicht hilft, dem Mob irgendwelche Zugeständnisse zu machen, die ihn in seinem Tun nur bestätigen.
Diese Sinnlosigkeit wurde deutlich in einem Beitrag, der als seltener Lichtblick sogar in den Tagesthemen gesendet wurde. Der Bericht befasste sich mit Hassloch, der deutschen Musterstadt, die dem deutschen Durchschnitt auf ideale Weise entspricht, weshalb neue Produkte zuerst in Hassloch getestet werden, bevor sie für markttauglich gehalten werden. Seit dreißig Jahren schon beobachtet die Gesellschaft für Konsumforschung das Konsumverhalten der Bewohner, um Rückschlüsse auf den Rest der Republik ziehen zu können. In Hassloch hatte die AfD mit 18,8 Prozent einen hohen Stimmenanteil erreicht und der Bürgermeister machte sich auf den Weg zu den Einfamilienhäusern, um die Wähler zu fragen, warum sie das getan hatten und was sich ihrer Meinung nach verändern müsse. Wenn sich denn ein einheitliches Bild ausmachen ließ, das den Grund für die Unzufriedenheit offenbart hätte, dann war es eine unspezifische, auf Hass, Neid und Aggression beruhende, dumpfe Ablehnung, also eben kein besonderer Grund, den herauszufinden der Bürgermeister sich auf den Weg gemacht hatte, nichts, womit sich auseinandersetzen und umgehen ließ. Vom achselzuckenden »Weiß ich jetzt auch nicht« bis hin zum Wunsch nach einem starken Mann, der gerne auch gegen die eigenen Interessen regieren dürfe, und einem Mann, der sich darüber beschwerte, dass in den zwanzig Jahren, in denen er in Hassloch lebe, nie ein Politiker zu ihm gekommen sei, um ihn zu fragen, wie es ihm gehe, der also eine Rundumversorgung mit Streicheleinheiten erwartete, reichte die Palette. Nun kann man damit argumentieren, dass solche Sozialcharaktere eben im Neoliberalismus herauskämen, und das kann auch zum Teil zutreffen, es erklärt aber nicht alles. Sicher ist nur, dass es Leute mit derartigen Ressentiments, mit diesem Hass, nicht erst gibt, seit die AfD sich ihnen als Sammelbecken anbietet, denn das Traumschiff oder die Hitparade der Volksmusik gibt es schon länger, die die kulturelle Tapete abgeben, die die Analysefähigkeit der Menschen nicht gerade fördern, denn unbeschadet überlebt niemand diesen Angriff auf die psychische Verfassung und auf die Zurechnungsfähigkeit, falls davon noch Spurenelemente übrig sein sollten. Letztlich unterscheidet diese Leute nichts von denen, die in den Siebzigern als schweigende Mehrheit gehandelt wurden, aber aus ihren Herzen auch keine Mördergrube machten, als sie in einem kleinen Haufen verzweifelter Desperados das sie und alles Deutsche bedrohende große Unheil ausmachten und zur Abwendung dieses Unheils einen autoritären Polizeistaat befürwortet hätten.
Pohrt hat das schon früh erkannt, und er hat daran gelitten, dass er als Ideologiekritiker und in den Neunzigern dann als Soziologe, der das »Massenbewußtsein der Deutschen« erforschte, nicht mehr dagegen tun konnte, als anzuschreiben. Er hat sich dann dazu hinreißen lassen, dem Mob von Rostock-Lichtenhagen das gleiche Schicksal zu wünschen wie dieser es den Ausländern bereitet hatte, als sie drauf und dran waren, das Flüchtlingsheim anzuzünden, und die Staatsgewalt sich eine Woche lang vornehm zurückhielt, weshalb ihm »Furor teutonicus«, »Küchenpsychologie«, »Vulgärmarxismus« und »Germanozentrismus« vorgeworfen wurde. Sicher waren viele seiner Äußerungen nicht wissenschaftlich, vielmehr kamen sie aus einer Verzweiflung und Empörung über die Zustände, aber genau deshalb nimmt man es ihm ab, dass Unrecht in erster Linie nicht etwas ist, für dessen Erforschung man eine Unikarriere einschlagen muss, sondern ein starkes Motiv, praktisch etwas dagegen zu tun oder theoretisch zumindest die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Und dafür wertete er jede Menge Zeitungen aus, referierte und interpretierte sie. Die Wiedervereinigung hatte z.B. dazu geführt, »daß man plötzlich 17.000 entlaufene Väter suchte«, und er konstatierte einen »rapiden Zerfall aller sozialen Beziehungen in der Zone«, die das Märchen, »wie tapfer die Revolutionäre gewesen waren, wie erbittert sie für die Einheit gekämpft« hatten, zu einer Story machte, »die man ohne zu erröten nur in Papua-Neuguinea auftischen konnte«. Aber viel schlimmer waren die Konsequenzen der Ausländerverfolgung in der Zone: »Keineswegs rotteten die Einheimischen sich in der Zone gegen die andersfarbigen Nachbarn im gleichen oder im nächsten Wohnblock zusammen, mit denen sie zu vielen auf engem Raum zusammenlebten. Sondern nach dem Prinzip faschistischer Vollstreckungskommandos gebaute Gruppen spürten Personen auf, die zu finden den Vorsatz, Mobilität, beinahe zielfahnderisches Geschick und eine schwarze Liste erfordert, weil sie in der Zone nicht mal zahlreich genug für eine Minderheit sind und so schwach, daß jede normale jugendliche Streetgang mit halbwegs intaktem Ehrenkodex sie anderswo unbehelligt ließe, weil sie sonst als ein Haufen von Feiglingen verachtet würden.«
Immer wieder wurde Pohrt vorgeworfen, seine Polemik gegen die Deutschen würde beweisen, dass er an deutschem Selbsthass leide und gerade darin würde sich zeigen, dass er deutscher sei als all die Deutschen, die er kritisiere. Der Hass aber, den die Linken und Intellektuellen in seinen sarkastischen und scharfen Formulierungen entdeckt zu haben glaubten, entspringt bei ihm einfach einer Empathie, die in der Weigerung besteht, still da zu sitzen, wenn Ausländer wie in Rostock-Lichtenhagen angegriffen werden, ohne dass staatliche Organe eingegriffen hätten. Weil ihn diese pogromartigen Zustände zutiefst erschütterten als Akt inhumanen Denkens und Verhaltens, ist es ihm unmöglich geworden, sich als beteiligungsloser und vorgeblich objektiver Beobachter den Ereignissen gegenüber zu verhalten. Nicht der in Pohrts Formulierungen ausgemachte Hass ist das Problem, denn als zumeist wirkungsloser und nicht mit den geringsten Machtbefugnissen ausgestatteter Autor hatte Pohrt, wie er selbst immer wieder betont hat, in der Regel keine Möglichkeit, anderen wirklichen Schaden zuzufügen. Schon gar nicht hat die Kritik die Fähigkeit, den anderen zu vernichten oder gar hinzurichten, wie Schriftsteller gerne behaupten, deren Buch verrissen wurde, denn selbstverständlich wird ihnen nie auch nur ein Haar gekrümmt. Vielmehr hielt Pohrt mit den unzureichenden Mitteln des Journalismus fest, von welcher Gesinnung Leute getrieben sein müssen, die andere verfolgen und manchmal auch ermorden, ohne dass es dafür einen Grund wie Habsucht oder Eifersucht gäbe, sondern nur den Hass auf einen anderen, mit dem man nichts zu tun hat, mit dem einen sogar so existentielle Dinge verbinden wie Perspektivlosigkeit und Armut. Der Hass, der Pohrt unterstellt wird, hat jedoch nichts mit dem Wunsch nach Vernichtung zu tun, er ist auch kein Ausdruck zynischer Menschenverachtung, sondern einfach nur die verzweifelte Reaktion eines Menschen, der den straflosen Versuch der Brandstiftung unter Inkaufnahme, dass Flüchtlinge in ihrer Unterkunft verbrennen, und der verharmlosenden Reaktion der Politik und der Kapitulation staatlicher Organe hilflos gegenübersteht.
So wie Pohrt gegen die Mordversuche und tatsächlichen Morde anzuschreiben, setzt vielmehr eine Fähigkeit zur Empathie voraus. In der Verfilmung von Tante Julia und der Kunstschreiber sagt der Aufwiegler und Regisseur von im Rundfunk ausgestrahlten Seifenopern Peter Falk, der mit seinen von großen Gefühlen handelnden Sendungen das Leben als Drama inszeniert und dabei gerne an der bürgerlichen Ordnung zündelt, dass Liebe ebenso brennt wie der Hass, und dass das eine ohne das andere gar nicht existieren kann. Steht man allerdings den wirklich existentiellen Situationen von Menschen, in denen es um Leben und Tod geht, nicht anders gegenüber als einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt, wo der Pressesprecher routiniert sein »aufrichtiges Bedauern« über die als »Ereignisse« verharmlosten Mordversuche ausspricht, dann hat man den idealen Aggregatszustand für den Journalisten erreicht, der sich leicht von einem »intelligenten Computer« ersetzen lässt (der so intelligent allerdings gar nicht sein muss), aber eines wird man von diesem auf keinen Fall erwarten dürfen: Erkenntnis und Fortschritt. »Hass«, schreibt Pohrt in seinem Vortrag über die »Zukunftsangst«, den er am 2. November 1985 in Mainz gehalten hat, ist »eines der wichtigsten Motive für den analysierenden, wörtlich: zersetzenden Verstand, dem wir alle Humanisierung vorgefundener Gewaltverhältnisse durch deren Zerstörung verdanken«.
Klaus Bittermann
Der Autor ist Verleger der Edition Tiamat, www.edition-tiamat.de.