Tute bianche - tute bene?

Mit weißen Overalls, Schaumstoff, Plexiglasschildern und Helmen passiv bewaffnet, sind die Tute Bianche seit Prag in aller Munde. Spätestens seit Genua haben sich auch in der deutschen Linken Debatten über deren politische Strategie entsponnen. Eine Auseinandersetzung, die grob zwischen zwei Polen schwankt: Denn während einige den Eindruck machen, sie wären auf der Suche nach vielversprechendem Konzept endlich glücklich fündig geworden, reagieren andere mit Verwünschungen über den ihrer Meinung nach zur Schau gestellten Reformismus.

Beispielsweise kritisiert Egon Günther in der jungle world vom 5. September 2001, die Tute Bianche (bzw. deren Aktivistinnen in den Centri Sociali Italiens) würden in der alltäglichen Praxis kaum mehr als lückenfüllende Sozialpolitik betreiben, ihre ohnehin suspekte Verhandlungstaktik sei gescheitert und schließlich, die Tute Bianche sollten ihre autoritäre Vereinnahmung der Bewegung endlich beenden, indem sie statt der beanspruchten Repräsentanz der Multitude endlich darin aufgehen sollen. Denn dann wäre die demokratische Entscheidungsstruktur der Bewegung wieder hergestellt.
Andere wiederum arbeiten sich an dem fehlenden Anspruch auf selbstgewählte Militanz der Tute Bianche ab. Nicht konsequent genug, so die Kritik. Schließlich hatten sich nach Genua einige Tute Bianches von „Gewalt" distanziert. Insofern könnte ihr politisches Konzept keinen Gewinn für eine politisch folgenreiche Strategie bieten.
An der Debatte über die Tute Bianche lässt sich also hervorragend streiten über Konzepte und Strategien der Linken, oder in diesem Zusammenhang genauer, der sogenannten Antiglobalisierungsbewegung. Ist militantes Vorgehen, verstanden als Ausdruck der absoluten Negation des Bestehenden, bereits ein Ziel für sich? Oder soll linke Politik doch auf Vermittelbarkeit ausgerichtet sein? Und was soll überhaupt vermittelt werden und für wen?
 

Was steckt drin in den weißen Tüten?

Dass Vermittelbarkeit eine wichtige Rolle im Konzept der Tute Bianche spielt, ist klar. Symbolische Politik, die auf Kommunikation und Konflikt gleichermaßen abzielt ist gerade das Kernstück ihres Vorgehens. Die Aktivistinnen der weißen Overalls haben damit ihre eigenen historischen Erfahrungen reflektiert. Denn getragen wird die Bewegung vor allem von zwei Strömungen: Einmal von „Ya Basta"-Gruppen , die sich anlässlich des ersten intergalaktischen Encuentros der Zapatisten in Chiapas 1996 gegründet haben. Zum anderen besteht die Bewegung vor allem aus Aktivistinnen, die sich in und um die zahlreichen Centri Sociali in Italien engagieren, die zum großen Teil noch aus den Häuserkämpfen der 70er Jahre stammen. Die damals sehr starke linksradikale Bewegung der Autonomia Operaia (Arbeiterautonomie) erkämpfte sich zu dieser Zeit ihre Freiräume in Fabriken, Schulen und Universitäten. Im Spannungsfeld von
bewaffneten Kampf und der rigiden Repression durch den italienischen Staat wurde die Bewegung jedoch faktisch zerschlagen. Vor diesem Hintergrund kam ein Teil dieser Bewegung zu der Schlussfolgerung, dass die Logik von „Repression - Aktion - Repression" durchbrochen werden muss, um der eigenen Isolation und Zerschlagung entgegenzuwirken. Konflikte sollten in erster Linie als gesellschaftlich-politische und nicht militärische verstanden und geführt werden, da sonst der Sieger der Auseinandersetzung von vorneherein feststehen würde.
Zusammen mit der Vereinigung „Ya Basta" haben diese Gruppen den Versuch unternommen, das zapatistische Konzept für Europa fruchtbar zu machen. Die Rezeption ihres Vorgehens bestimmt heute das Konzept der Tute Bianche. Die Zapatisten hatten mit ihrem propagierten „neuen Internationalismus" ebenfalls versucht, auf historische Erfahrungen, nämlich die Geschichte der Befreiungsbewegungen zu reagieren. Neben dem Scheitern des bewaffneten Kampfes als alleiniger Strategie kritisierten sie die Übernahme staatlicher Macht als Ziel. Echte, d.h. umfassende Emanzipation hätte dadurch niemals gewährleistet werden können. Infolgedessen stehen sie heute für ein politisches Konzept, in dem der bewaffnete Kampf zwar notfalls das Rückgrat politischer Forderungen bieten kann, wo er jedoch als eine Option unter vielen gilt. Ebenso gilt, dass statt Machtübernahme Demokratisierung im Vordergrund stehen muss, dass es darauf ankommt, durch die ständige Erzeugung von Konflikt und Zustimmung, durch die Organisation verschiedener Gruppen und Kommunikation den nötigen Raum für eine politische Weiterentwicklung zu schaffen. Denn bewaffneter Kampf ohne das Einholen ständiger Resonanz könne das eigene Überleben nicht garantieren. Krieg sei nicht die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln, sondern Politik sei die Absorption von Krieg. Den Zapatisten ging und geht es also, kurz gesagt, um „Revolution, die eine Revolution ermöglichen" sollte - preguntando caminamos: der Weg ist das Ziel.
Die Tute Bianche haben in ihrer Rezeption der Zapatisten ebenso wie diese zunächst den Neoliberalismus als Hauptangriffspunkt gewählt. Begründet wird dies mit der veränderten Produktionsweise im „Postfordismus", der eine orthodox-marxistische Interpretation nicht mehr zulässt. Nicht die Auseinandersetzung Arbeiterklasse vs. Kapitalisten bestimme die Konfliktlinien, vielmehr seien heute durch die totale Durchkapitalisierung alle Bereiche menschlichen Lebens betroffen. Hand, Kopf und Herz sind gleichermaßen der Verwertung unterordnet, während gleichzeitig eine anwachsende Masse an Menschen systematisch ausgegrenzt bleibt. Nämlich all diejenigen ohne Papiere, ohne Rechte, ohne Arbeit bzw. in prekären Beschäftigungsverhältnissen etc. Diese Gruppe der "Unsichtbaren" symbolisieren die Tute Bianches mit ihren weißen Overalls, um so den Effekt der Sichtbarkeit zu erzielen - nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass dies die Vermittlung über bürgerliche Medien gerade erst ermöglicht. Konflikte sollen sichtbar gemacht werden, indem politische Forderungen öffentlich gemacht und schließlich mittels „zivilem Ungehorsam" durchgesetzt werden sollen. Der menschliche Körper, der nur als Verwertungsobjekt interessiert, soll nun zum Kampffeld gemacht werden. So drängen sich die Tute Bianches gegen die Polizeireihen, und wenn deren Angriff erfolgt, ist deutlich zu sehen, von wo Gewalttätigkeit ausgeht - vom System eben. Selbstverteidigung ist als Schutz der eigenen Würde erlaubt und auch gefordert. Denn schließlich geht es darum, die zum Objekt Degradierten wieder zu Subjekten zu machen, zu Protagonisten im Konflikt. Ziviler Ungehorsam wird dabei nicht nur als Gegenwehr zum bestehenden Regelsystem und den Unterdrückungsapparat, sondern auch als positives Recht verstanden, sich eigene Freiräume zu erkämpfen und zu verteidigen. Dabei wird unterschieden zwischen Legitimität und Legalität - was erlaubt ist, ist nicht notwendigerweise politisch richtig. Maßgabe ist jedenfalls nicht bürgerliches Recht sondern die eigenen politischen Maßstäbe.
 

Ist was drin für uns?

An diesem Konzept lässt sich viel kritisieren. So können Begriffe wie „Würde", „ziviler Ungehorsam" etc. in Deutschland wohl kaum einen Ansatzpunkt linksradikaler Politik bilden, da sie integraler Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaftstheorie sind (im Gegensatz zu Lateinamerika). Das Konzept der Tute Bianche ist so offen, dass sich unterschiedlichste Strömungen darin einordnen können und dies auch tun - auf Kosten einer in sich konsistenten politischen Position, um die es schließlich gehen sollte. Ansonsten ließen sich die unterschiedlichen Stellungnahmen auch kaum erklären. Ein Beispiel dafür, dass politische Taktik mitunter als genuiner Inhalt verstanden wird, ist die Äußerung eines der Sprecher, Luca Casarini. Er Iegitimiert seine Arbeit als Berater der italienischen Sozialministerin damit. dass der Staat kein Feind mehr sei, den es zu stürzen gelte. sondern der Gesprächspartner, mit dem diskutiert wurden müsse.
Auch die Stellungnahmen zu den Vorfällen in Genua widersprachen sich häufig. Die Grenze zu definieren, ab wann „Selbstverteidigung" in Angriff überschlägt bzw. wie weit diese Selbstverteidigung gehen darf, ist konzeptionell nicht klar. Was tun nach dem politischen Mord an einem Genossen, wie reagieren auf die wahllose Verfolgungsjagd der Polizei? Hier greift politische Symbolik nicht mehr, weil ihr Spielraum verschwunden ist.
Die Tute Bianche lassen sich also in vielen Punkten kritisieren. In Italien selbst sind sie in der Linksradikalen auch sehr umstritten. Doch ist es weniger Kritik an den politischen Inhalten, sondern an ihrer symbolischen Vermittlung und der eingeschlagenen Taktik: Verhandlungen über die Zentren mit den Kommunen, aktive Öffentlichkeitsarbeit mit Medien, Vereinnahmung etc. sind einige Punkte - eine Kritik also, die jeden Pragmatismus zugunsten vermeintlicher Radikalität ablehnt. Es spricht jedoch nichts dafür, sich diesen Positionen anzunähern, wie im genannten Artikel der jungle world. Im Gegenteil: In Bezug auf Italien führen die Overalls neue Politikformen ein und tragen damit zu einer Art Modernisierung der Bewegung bei.
In Bezug auf den Widerstand bei den Gipfeltreffen haben die Overalls ebenfalls einen deutlichen Vorteil. Denn zwar besteht kein Zweifel daran, dass auch der Black Bloc politischen Spielraum eröffnet hat. Die militanten Auseinandersetzungen auf der Straße haben den sog. Globalisierungsprotesten überhaupt erst öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Dieser Raum ist unbedingte Vorraussetzung für die Weiterentwicklung linker Politik. Doch konnte er in keinster Weise gefüllt werden. Wenn also ein militantes Konzept nicht als „Vorarbeit" für andere politische Ziele verstanden werden soll, muss überlegt werden, wie die entstandene Stärke ausgenutzt werden kann. Das heisst, es müssten die Inhalte genauer bestimmt werden, die überhaupt vertreten werden sollen, und vor allem müsste ein Weg gefunden werden, um diese zu artikulieren zu können. In diesem Punktwaren die Overalls schon einen Steinwurf weiter.

Phase 2 Göttingen