Am 9. Dezember 2010 versammelten sich tausende StudentInnen und SchülerInnen vor dem britischen Parlament in London. Hier sollte die Abschlusskundgebung einer Demonstration gegen die Novellierung des Hochschulgesetzes und die damit einhergehende Erhöhung der Studiengebühren stattfinden, über die die britische Regierung an diesem Tag entschied. Wiederholt kam es zu Angriffen der Polizei auf TeilnehmerInnen der Versammlung. Der Student Alfie Meadows erlitt bei einem dieser Übergriffe lebensbedrohliche Kopfverletzungen. Zur Legitimation des als polizeiliche Maßnahme verklärten Übergriffs wurde Alfie Meadows selbst wegen der Beteiligung an gewalttätigen Ausschreitungen vor Gericht gezerrt. Der unverhältnismäßige Angriff auf Meadows ist kein Einzelfall. Wenngleich er in seinem Ausmaß sicher nicht die Regel ist, steht er doch emblematisch für einen Krisenbekämpfungsmechanismus des gegenwärtigen kapitalistischen Systems. Mark Fisher resümiert den Fall Meadows in seinem Buch Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? wie folgt: »Das Kapital war gezwungen, die nackte Gewalt der repressiven Staatsapparate einzusetzen, weil die ideologischen Staatsapparate nicht länger zuverlässig ihren Dienst verrichteten.«
Kapitalistischer Realismus ist eine Malaise, jener zementierte Eindruck der erdrückenden Abwesenheit einer Alternative zum Bestehenden. Keineswegs rezipiert Fisher diese Entwicklung als Sieg eines Systems über andere. Der Kapitalismus blieb lediglich übrig, nachdem alle anderen (Glaubens-)Systeme kollabiert waren. Im survival of the fittest hatte das inhaltsleerste und damit ambivalenteste und flexibelste System die Nase vorn – und mit ihm die Ideologie des kapitalistischen Realismus. Doch ist diese nicht nur notwendig falsches Bewusstsein, sondern auch selbstgewähltes Elend. Für Fisher wollen die Subjekte im festen Glauben an eine allumfassende Freiheit, die sie aus ihrer Freiheit zum Konsum ableiten, die Brille, die ihnen helfen könnte die Realität zu erkennen, selbst nicht mehr aufsetzen. Und wer will es ihnen verübeln? Überzeugendstes aller Argumente: Der Kapitalismus hat in den Ländern, in denen er umfänglich durchgesetzt ist, im Vergleich mit den bisher bekannten und realisierten Gesellschaftssystemen das bisher umfangreichste Maß an Freiheiten zugelassen. Den wohl deutlichsten Ausdruck findet diese Tatsache darin, dass selbst die Kapitalismuskritik Konsumgut geworden ist. AntikapitalistInnen haben sich aus einem Gefühl der Ohnmacht Generation für Generation »dem kapitalistischen Realismus ergeben«. Unfähig, ein alternatives polit-ökonomisches Modell auszuarbeiten, gingen sie dazu über, ihrem politischen Willen in Demons-trationen Ausdruck zu verleihen, auf denen sie »hysterische Forderungen« stellten, an »deren Einlösung sie selbst nicht glaubte[n]«.
Hier setzt die Kernfrage der »Flugschrift« an. Wie lässt sich unter diesen Umständen eine radikal-linke Kritik in Theorie und Praxis überhaupt noch denken? Fisher, ausnahmsweise kein Apologet linker Selbstmarginalisierung, fordert uns alle auf, »die romantische Verbundenheit zu einer Politik des Scheiterns, zur bequemen Position unterlegener Randständigkeit [zurückzulassen]«. Die Essays sind eine spannende Auseinandersetzung mit der Frage, wie man es anstellen könnte, Kritik zu formulieren und zu praktizieren, die nicht vom Kapitalismus inkorporiert werden kann bzw. nicht bereits im Moment des Entstehens präinkorporiert ist.
Fisher widmet sich dabei auch der Diskussion linker Traditionsbestände, deren Vermächtnis jedes vernünftige Nachdenken über eine Alternative erschwert. Besonders prominent sind dabei zwei Stränge: zum einen die Diskussion um die Rolle des Staates im Jetzt und seine Möglichkeit in der Zukunft, zum anderen die Debatte um verkürzte Kapitalismuskritik. Besonders der letzte Aspekt ist erfreulich, da eine differenzierte Auseinandersetzung mit personalisierter Kapitalismuskritik, die den strukturellen Charakter des Games explizit betont ohne die Bedeutung der Player zu negieren, in der internationalen radikalen Linken nicht die Regel ist.
Letztlich bleiben dennoch einige relevante Fragen unbesprochen. So ist es schade, dass Fisher zwar auf die Frage nach der Notwendigkeit eines »neuen (kollektiven) politischen Subjekts« hinweist, zugleich aber nicht über dessen Konstitution reflektiert. Dies verwundert vor allem, weil seine Diagnose der gegenwärtigen Verhältnisse die Menschen als »Sklaven« ihrer eigenen Bedürfnisse beschreibt, wobei die Begehren nicht durch sie selbst produziert werden. Wenn aber unter diesen Bedingungen eine Alternative formuliert werden soll, müssen die Subjekte in ihren Wünschen über den Kapitalismus hinaus denken können. Wie soll das gehen, wenn diese vom Kapitalismus selbst hervorgebracht werden?
Rudi Mental
Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? VSA-Verlag, Hamburg 2013, 117 S., € 12,80.