Stalingrad

der subjektive Faktor

Im Folgenden wollen wir anlässlich des Jubiläums – die Wahl dieses Wortes in diesem Kontext ist nicht arbiträr – der nachhaltigen Abwehr der „Wehrmacht“ und somit der einsetzenden Vereitelung des deutschen Projektes durch die Rote Armee vor sechzig Jahren – zum Teil mit Widerwillen – ein Paar Gedankenfetzen an den geistig- moralischen Zustand der Besiegten und ihrer Nachkommen, und an die Auswirkungen der Schmach bzw. des glorreichen Sieges von Stalingrad auf die Nachkriegsgesellschaften – sowohl bei den Siegern und ihren Sympathisanten als auch bei den Besiegten und ihrer VolksgenossInnen an der Heimatfront – verschwenden.
Diese – das Psychologische in den Vordergrund rückende – Form des Gedenkens will zumindest ein unmissverständlicher Ausdruck der Verachtung der vor allem in Deutschland favorisierten Art und Weise sein, Stalingrad als ein auf die fatalen und groben Fehler der deutschen Kriegsführung zurückzuführendes Desaster zu verstehen und darzustellen, und dies ohne dabei die geringsten Sanktionen befürchten zu müssen. Nicht einmal das u.U. amüsante Risiko muss in Kauf genommen werden, sich dabei den Ruf ein klein wenig zu ruinieren.
Die inzwischen zum festen Inventar jeglicher sowohl populären als auch wissenschaftlichen Rede über Stalingrad gehörenden Topoi – wie „die Fehleinschätzung der Lage durch die Führung“, „die durch die Landung der Alliierten in Marokko und Algerien erzwungene Umlenkung der in Stalingrad benötigten Reserven nach Afrika“, „die feindliche Haltung des sowjetischen Winters den Deutschen gegenüber“, „Hitlers Ausbruchsverbot an Paulus“, „die ungenügende und letztlich gänzlich ausgebliebene Luftversorgung“ usw. – bedürfen hinsichtlich der tiefenstrukturellen Intentionen dieser Argumentationsmotorik in der Tat keines Kommentars.
Gleichwohl ist wohl in diesem Land der pleonastische Hinweis darauf alles andere als unangebracht, dass jede weitere, noch so kritische und wissenschaftlich durchdachte, objektive historisch- militärstrategische Analyse dessen, was sich zwischen dem 19.11.1942 und 2.2.1943 in und um die Stadt Stalingrad ereignete, nicht nur dem Gedächtnis an Stalingrad absolut unangemessen, sondern auch im günstigsten Falle dessen verdächtig ist, in der durch Stalingrad herbeigeführten Wende nicht den beispiellosen, jahrzehntelang lebensfördernd nachwirkenden Segen erkannt zu haben.
Erkannt und herbeigesehnt wurde dieser Segen jedenfalls von unzähligen Menschen außerhalb des deutschen Kernlands. „Wir haben jede Nacht Radio-Moskau gehört und den Verlauf der Belagerung äußerst gespannt verfolgt. Denn wir wussten, dass, wenn auch diese Stadt fallen würde, alles vorbei wäre. Eine Befreiung wäre in ferne Zukunft gerückt“, so ein Antifaschist aus einem besetzten Land, der den Krieg überstanden hat. So oder ähnlich dachten und hofften Millionen von Menschen in den von Deutschen besetzten Gebieten in ganz Europa. Sie wussten es: Das Ergebnis dieses Kriegsgeschehens würde entscheidenden Einfluss auf den weiteren Kriegsverlauf bedeuten.
Und so war es auch. Die Siegesnachricht breitete sich in den besetzten Gebieten, bei den Partisanen und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern wie ein Lauffeuer aus. Sie hob die Moral bei dem bewaffneten Widerstand, gab ihm einen sprunghaften Impuls, motivierte ihn und erhöhte seinen Impetus gewaltig. Die offiziellen zensierten Nachrichten in den besetzten Gebieten berichteten von einem radikalen Anstieg von Angriffen durch Partisaneneinheiten auf die Wehrmacht und ihre Kollaborateure. Die Wende zu Befreiung war somit eingeleitet. Stalingrad stellt heute für die Bevölkerung der von den Deutschen besetzten Länder sowohl faktisch als auch symbolisch den Sieg gegen den Nationalsozialismus dar, d.h. die Eindämmung und anschließende Stilllegung – weitgehend zumindest – der großdeutschen Tötungsindustrie.
Und die Besiegten? Die Wehrmachtsgefallenen und ihre Angehörigen? Die hinterlassenen Witwen und Weisenkinder im Reich? Die hunderttausenden gefangenen deutschen Soldaten und Ihr Anhang in der Heimat? „Deutsche in den Händen der Russen!“ Der Alptraum jeder anständigen Volksgenossin und Volksgenossen war zu bitterer Realität geworden: Trümmer aufräumen und dabei an den Mann/Vater/Bruder/Onkel/ denken, der in irgendeinem russischen Erziehungslager zur Raison gebracht werden sollte. Damit er emphatisch und effektiv dazu veranlasst wurde, zuchtvolle Abstinenz zu üben, sollte ihm nämlich eingetrichtert werden, dass das Morden ein unrentables, jedenfalls aber ein höchst riskantes Vergnügen ist, dass ihn diese Passion sogar das Leben kosten könnte; und diese pädagogische Anstrengung der Sieger musste einige Jahre dauern, bis einigermaßen sichere Zeichen einer Entsagung erkennbar wurden!
Nicht nur sorgte dieser Umstand für eine Bereicherung der deutschen Schluchzliteratur, sondern auch und vor allem drückte er sich tief und entscheidend in den Seelenhaushalt der deutschen Bevölkerung ab. Die Bilder der kilometerlangen Gefangenenkolonnen, die Präsenz der Russen – aber auch der Amis, der Engländer und Franzosen – in den deutschen Städten, die Gräuelmärchen der aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten knickten – zumindest einige Jahrzehnte lang – die Herrenmenschen zu niedergeschmetterten „armen Würstchen“, die je nach geographischer Lage und den jeweils waltenden Konjunkturparametern zu feurigen Sozialisten (Ost-Zone) oder zu American-way-of-life-Fans wurden, nicht weil sie irgendetwas aufrichtig bereut haben, nicht weil sie ihre Mordtaten als solche eingestanden haben, sondern einzig und allein, weil sie besiegt, entwaffnet, zu Kapitulation gezwungen und besetzt wurden.
Daher ist der Versuch zwecklos, den Deutschen mit Auschwitz beizukommen. Es hat deswegen wenig Sinn, sie mit ihren Vernichtungstaten und –drang zu konfrontieren. Es ist deswegen aussichtslos, sie zu Frieden, Nächstenliebe und zu sonstigen das Appetenzverhalten bändigenden und ersetzenden Verhaltensformen umzuerziehen.
Das einzige, was wirkt, ist, sie an Stalingrad, an die Stadt, die den deutschen Siegeswillen symbolisieren sollte, zu erinnern (und ab und zu an Dresden, je nach Gegend). Das einzig Probate ist, sie nach der russischen Gefangenschaft ihrer Vorfahren zu fragen – als Androhungsvorstufe, als Erinnerungszwang, als Ausdruck der Genugtuung. Genau dies hat sie über 50 Jahre lang in Schach gehalten. So und nur so plapperten sie immer wieder und zu jedem Anlass nach, so was wie „Krieg ist was schlimmes“, „die Schuld der Nazis“, die „uns in die Katastrophe geführt haben“, „die Lehren aus der Geschichte“, „das habe ich nicht gewusst“ usw.
Wenn heute die „Volksbewegung zur Erhaltung der deutschen Friedenszustände“ – kurz: Friedensbewegung – angesichts des drohenden Angriffs auf Irak „nie wieder Krieg“ schreit, so steckt dahinter neben den durch die offiziöse Haltung Iraks gegenüber Israel herbeigerufenen antörnenden Konnotationen als die benigne Komponente Stalingrad. Wenn heute die Sachsen das herzzerreißende, zugleich aber heldenhaft aufopferungsvolle Betteln wegen der – nach der Sintflut – größten Flutkatastrophe aller Zeiten so organisieren zu müssen glauben, wie es gelaufen ist, d.h., nicht umhin können, Spenden mit eisernem Willen und militärischem Drill zu sammeln, dann speist sich dieser Drang nach „Winterhilfsdienst“ aus den Bildern der Niederlage zu Stalingrad.
Nach der Wiedervereinigung allerdings und mit dem immer größer werdenden zeitlichen Abstand zu Stalingrad verblassen leider diese Erinnerungen, die sich jahrzehntelang hervorragend dafür eigneten, das deutsche Betreiben effizient zu hemmen. Die Folgen dieser Amnesie hören sich dann beispielsweise so an:
„Die Deutschen gehen immer rabiater miteinander um, insbesondere mit Minderheiten und sozial Schwächeren. Dies ergab eine neue Studie über den Seelenzustand der Bundesbürger. Demnach sind die Deutschen gestresst, suchen sozialen Halt und blicken auf andere herab, zitiert die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit aus der Untersuchung des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung. Nahezu jeder fünfte Bundesbürger könnte sich demnach von Rechtspopulisten mobilisieren lassen. Über die Hälfte der 3.000 Befragten der Langzeitstudie seien der Ansicht, dass viele Juden versuchen würden, aus dem Holocaust Vorteile zu ziehen und die Deutschen für die Vergangenheit zahlen ließen. Gar 71 Prozent meinten demnach, Moslems sollten in Deutschland nicht nach ihren Glaubensgrundsätzen leben. 16 Prozent meinten, die Weißen seien zu Recht führend in dieser Welt“ (aus der Frankfurter Rundschau, 7.11.2002).
Gewiss, die freiwilligen Dichter, Gelehrten, Historiker usw. werden anlässlich des 60-jährigen Jubiläums allerlei seltsame, und weniger seltsame Texte verfassen. Es gibt nämlich für die deutsche Volksseele zur Verbreitung jeden erdenklichen Mists keine bessere Motivation, keinen besseren Anstoß, als wenn sie sich in der Opferrolle sieht. Die alljährlich – neuerdings aber leider immer gedämpfter – wiederkehrenden Elegien, die das dem Deutschen in Stalingrad und als Stalingrad widerfahrene Unheil beweinen, zeugen von dem leidvollen und berechtigten Groll eines sich ungerecht behandelt Dünkenden, an der Vollendung seines Lebenswerks Gehinderten.
Wir sollten dies getrost und freudig über uns ergehen lassen. Wir sollten sogar dafür Sorge tragen, dass es so bleibt. Wir sollten die Deutschen darin bestärken, sich als Opfer zu fühlen, Opfer einer Konspiration, zum x-ten Mal hinterrücks erdolcht usw. Eine Entgegnung auf diesen Gefühlskomplex mit ominösen Gegenargumentationen – wie z.B. dem im Zusammenhang mit den alliierten Bomben auf Dresden gebrauchten Slogan „Deutsche Täter sind keine Opfer“ – wäre nicht nur peinlich, sondern es bärge auch die Gefahr in sich, dass die Deutschen dies ernst nähmen. Die Bereitschaft dazu, so etwas ernst zu nehmen und anzufangen, sich nicht mehr als Opfer zu sehen, baut sich seit spätestens der Wiedervereinigung rasant und tatkräftig auf. Außerdem impliziert eine solche Gegenargumentation ein aus unserer Sicht äußerst dubioses Bedürfnis, die Bombardierung begründen und rechtfertigen zu müssen. Lassen wir die Grass’ und die Walsers, die nie-wieder-Krieg-Linken und die nie-wieder-Sibirien-Rechten ihr Zeugs auf den Markt bringen.
Anlässlich dieses Jubiläums sollten wir lieber unsere ganze Freude, unsere geballte Nostalgie nach den alten Bildern (s.o.), insbesondere aus der Abschlussphase von Stalingrad, zum Ausdruck bringen. Wir sollten unserer Kreativität und Phantasie freien Lauf lassen, indem wir uns die wichtigste aller Fragen bezüglich der Abwehr des deutschen Betreibens heute stellen: Wie kann man dafür sorgen dass immer und immer wieder, alltägliche Stalingrad-Effekte produziert werden, die denen, die uns gegenüber stehen, das Verlierergefühl wiedergeben, den Besiegtenstatus wieder vermitteln.

Café Morgenland
11.11.2002