Im Nachgang an die als Battle of Seattle überschriebenen Proteste gegen das Treffen der Welthandelsorganisation Ende 1999 veröffentlichte die New York Times einen längeren Beitrag unter dem Titel Anarchismus, die Idee die nicht untergehen will. Der Autor erzählt darin die Geschichte des Anarchismus in Europa und Amerika als eine zahlloser Niederlagen, manch temporärer Siege, insbesondere aber als eine von bemerkenswerter Langlebigkeit. Trotz seiner historischen Schlappe gegenüber dem Marxismus, blutiger Verfolgungen und drohendem politischen Exitus, erhalte sich die Idee einer Gesellschaft ohne Chef und Staat mit respektabler Beharrlichkeit. Und tatsächlich: Wendet man den Blick von der unermesslichen Flut allgemeiner Berichterstattung hin zu Beiträgen, Stellungnahmen und Einschätzungen anarchistischer AktivistInnen und TheoretikerInnen, so wird Seattle auch aus der Binnenperspektive als Zeitenwende interpretiert. Die massenhafte Mobilisierung und die Vielzahl unterschiedlicher Protestformen, die der Bewegung eine große mediale Resonanz über die erfolgreiche Verhinderung der WTO-Tagung bescherten, übte eine immense Strahlkraft auf die Linke weltweit aus. Am Ende des 20. Jahrhunderts war der anarchistischen Bewegung ein symbolträchtiger Auftritt sondergleichen gelungen. Dass bei genauerer Betrachtung nur wenige ausgewiesene AnarchistInnen die Proteste vorantrieben und im Rückblick ein leiser Zweifel an ihrem eigentlichen Einfluss aufkam, tat dem mit Seattle einsetzenden Höhenflug des Anarchismus keinen Abbruch.
Bis dato ließ sich dessen Renaissance maßgeblich aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklären, mit deren Niedergang zugleich die wirkmächtigste linke Utopie zu Grabe getragen wurde. Aus der Asche des Realsozialismus erhob sich der Anarchismus wie ein struppiger schwarzer Phönix – sicherlich nicht unglücklich, aus dem Schatten des autoritären großen Bruders hervorzutreten und unwillig, sich mit dem erklärten »Ende der Geschichte« und dem Triumph des Kapitalismus abzufinden. Überdies konnte ihm zu Gute gehalten werden, keinerlei Mitschuld am Scheitern der großen Utopie getragen zu haben.
In Gestalt der Antiglobalisierungsbewegung zog nun erneut die Idee einer herrschaftsfreien, nicht-kapitalistischen, staatenlosen und basisdemokratischen Weltgesellschaft von Seattle nach Prag, über Nizza nach Göteborg und Genua bis sie schließlich 2011 in den Zucotti-Park von New York einzog. Andernorts, wie etwa in Argentinien, wurden nach der Wirtschaftskrise 2001 verstärkt Fabriken besetzt und Formen kollektiver Selbstverwaltung erprobt. Doch auch abseits der gut dokumentierten Ereignisse in den Metropolen waren libertäre Ideen ins Blickfeld gerückt: Schon der 1994 anhebende Aufstand der ZapatistInnen im mexikanischen Chiapas forcierte Ideen basisdemokratischer und autonomer Selbstorganisation und sollte die neue globale Bewegung inspirieren. So diffus und heterogen diese Bewegungen und deren Ziele in einzelnen Situationen erschienen, so sicher galt der Selbst- und Fremdwahrnehmung nach die Zuschreibung »anarchistisch«. Zuletzt ließ sich dies an den Occupy-Protesten in Amerika beobachten, deren vorgebrachte Gegenwartsanalyse (»We are the 99%«) und angewandte Organisations- und Praxisstrukturen (human-microphone und general assembly) eindeutig eine anarchistische Handschrift trugen. Hinzu kommt, dass der gegenwärtige Popstar der Bewegung David Graeber mit verschiedenen seiner Bücher weit über das sonst übliche Klientel hinaus Bekanntheit erlangte und libertäre Ideen über Staat, Reichtumsverteilung und Kapitalismus mithin vor großem (Fernseh-) Publikum diskutiert werden. Eine Vielzahl der vorgetragenen Ansichten über die Hintergründe kapitalistisch produzierten Elends – wie die Neigung zur manichäischen Vereinfachung oder die Fokussierung auf das vermeintlich böse Finanzkapital – lassen jedoch aufhorchen und am emanzipatorischen Gehalt anarchistischer Kritik zweifeln. Die vorliegende Phase 2 nimmt sich daher die historischen Grundlagen und zeitgenössischen Analysen der AnarchistInnen vor, um den Ursachen für die häufig moralisierenden und naiven Erklärungen nachzuspüren, und fragt: Was taugt der Anarchismus?
Wird hierfür das schwer durchschaubare Dickicht anarchistischer Strömungen, Selbstverständnisse und Rivalitäten auf Verbindendes hin abgeklopft, springen zunächst die klassischen und leicht modifizierten Positionen der Gründerväter Michail Bakunin, Pierre-Joseph Proudhon, Errico Malatesta et al. ins Auge. Ausgangspunkt aller Kritik und Utopie ist ihnen die Überwindung des Staates. Als ultimativer Ausdruck von Herrschaft, Gewalt und Unterdrückung versperre jedwede Form von Staatlichkeit den Weg zu individueller und kollektiver Emanzipation. Getragen von einem emphatischen Begriff des Individuums, dessen Potenziale zur Ergreifung eigener Freiheit und Souveränität durch den repressiven Charakter des Staates blockiert würden, bildet seine Abschaffung die notwendige Voraussetzung allumfassender Freiheit. Bakunin etwa forderte trotz mancher inhaltlicher Überschneidung zum Marxismus an diesem Punkte die unmittelbare Zerschlagung des Staates in der Revolution. Befürworteten die MarxistInnen die Erhaltung des Staates in den Händen des Proletariates für die Phase des revolutionären Übergangs, sah Bakunin in der Beibehaltung dieses Gefüges die Gefahr der Reproduktion und des Fortwährens von Machtstrukturen unter anderen Vorzeichen. Staat und Regierung, so die Auffassung von Bakunin und anderen, stehen der Gesellschaft immer als äußere Institutionen gegenüber, deren vorrangige Funktion darin bestehe, die eigene Machtposition und die damit verbundenen Interessen gegen Volk und Gesellschaft durchzusetzen. Folgerichtig verwirft der Anarchismus neben den repressiven Organen des bürgerlichen Staats auch dessen Formen von Repräsentation und Willensbildung als nicht im emphatischen Sinne basisdemokratisch. Die delegierte Repräsentation gewählter PräsidentInnen und Parlamente, aber auch politische Parteien weist der Anarchismus zurück. Als bloße pseudo-demokratische Fassade würden diese Institutionen in Wahrheit dafür Sorge tragen, die Menschen von den eigentlichen Machtzentren und der Erlangung wirklicher Souveränität fernzuhalten. Derart von direkter Partizipation enthobene Räume politischer Debatten lehnt der Anarchismus ab, da sie Modus und Verlaufsform von Entscheidungsfindung bereits in ein vorgefertigtes (parlamentarisches) Korsett zwängen und damit einem basisdemokratischen Prinzip widersprächen. Dem ausgemachten Gegensatz zwischen Repräsentation und Willensbekundung werden in anarchistischer Theorie und Praxis kooperative oder Rätestrukturen entgegengesetzt. In der unmittelbaren Einbeziehung des/der Einzelnen sollen sie die Zentralisierung von Entscheidungs- und Machtbefugnissen verhindern und damit zugleich einen alternativen Weg zum Sozialismus aufzeigen. In der Geschichte des Anarchismus finden sich im 19. und 20. Jahrhundert in Ländern wie Frankreich, Russland, Mexiko, Deutschland, Italien und Spanien verschiedene Ereignisse, in denen libertäre Ideen innerhalb der Arbeiterbewegung an Einfluss gewannen und Formen der Selbstorganisation praktiziert wurden. In einigen der Länder wie Spanien oder Italien schlug der Anarchismus in Form anarchosyndikalistischer Gewerkschaften Wurzeln und konnte trotz verheerender Angriffe von Nationalsozialisten und Faschisten nach Ende des Zweiten Weltkrieges an abgerissene Traditionen anknüpfen.
In Bezug auf die konstatierte Wiederbelebung spielt dieses Erbe keine unbedeutende Rolle, greifen doch die zeitgenössischen Forderungen von Antiglobalisierungsbewegung und Occupy wie angedeutet unmittelbar auf theoretische und praktische Traditionsbestände zurück.
Dass der Anarchismus im deutschsprachigen Raum bekanntlich sowohl historisch wie auch aktuell innerhalb der (radikalen) Linken weniger Einfluss ausübt als beispielsweise in Amerika oder Griechenland, verweist nicht zuletzt auf das Fehlen dieser Anknüpfungspunkte. Das mag unter anderem daran liegen, dass sich der Anarchismus dauerhaft eher in rural geprägten Gesellschaften etablieren konnte und darüber hinaus die Hegemonie marxistischer und sozialistischer Strömungen wenig Raum für Alternativen ließ. Zudem vermochte es der Anarchismus im Gegensatz zum Marxismus nicht, sich abseits politischer Kleingruppen im akademischen Betrieb der Bundesrepublik zu etablieren und dort zu überwintern. Dies wiederum verweist auf die fehlende theoretische Debatte und Fundierung anarchistischer Ansätze, die dem Widerstreit mit der Kritischen Theorie oder dem Marxismus hätten standhalten können.
Im einleitenden Beitrag widmet sich Ewgeniy Kasakow diesen Leerstellen, indem er dem demonstrativen Pluralismus und betont undogmatischen Selbstverständnis des Anarchismus auf den Zahn fühlt und nach den Folgen für Theorie und Praxis fragt. Seit jeher warb der Anarchismus damit, über keinen abgeschlossenen begrifflichen und analytischen Apparat zu verfügen, sondern sich und seine Kritik als prozesshafte Idee ständig voranzutreiben. Aus der Furcht, Dogmen zu produzieren wurde es vermieden, Texte zu kanonisieren oder Grundsätze anarchistischer Kritik zu fixieren. Resultat dieser Haltung, so Kasakow, ist nicht nur eine fehlende inneranarchistische Debatte um Deutungen und Begriffe, sondern in der Folge eine frappierende Begriffslosigkeit gegenüber zentralen Merkmalen kapitalistischer Gesellschaft. Exemplarisch führt der Autor dies am Beispiel des Staates vor, der vielfach über eine schlichte moralische Setzung verurteilt oder als der eigenen Utopie zuwiderlaufendes Machtinstrument zurückgewiesen wird.
Peter Bierl nimmt sich einer weiteren Leerstelle an. In Marx empfiehlt Bakunin geht Bierl dem landläufig erhobenen Vorwurf nach, der Anarchismus hätte im Gegensatz zum Marxismus auf dem Feld der Ökonomiekritik keine belastbaren theoretischen Arbeiten hervorgebracht, sondern begründe seine Ablehnung gegen die kapitalistische Warengesellschaft mit moralischen oder schlicht falschen Analysen. Neuere Publikationen anarchistischer AutorInnen bestätigen dies. In den von Bierl diskutierten Veröffentlichungen werden individualistische Ansätze anarchistischer Praxis zu Lasten einer ökonomischen Analyse bevorzugt, außerdem eröffnen die nach wie vor bemühten Ansätze zur Zins- und Spekulationskritik von Silvio Gesell und Piere-Joseph Proudhon breite Anschlussmöglichkeiten für antisemitische Kapitalismuskritiken. Selbst bei dem erwähnten Klassenprimus anarchistischer Theorie, David Graeber, kann Bierl keine befriedigende Analyse ausmachen. Die vollkommene Absenz tragfähiger ökonomiekritischer Kategorien und eines kohärenten Verständnisses des kapitalistischen Produktionsprozesses führten auch bei ihm vielfach zu plumpen Kritiken und gefährlichen Fehlschlüssen über Börsianer, Finanzeliten und neoliberale Technokrat-Innen.
Nicht alle Kritik am Anarchismus trifft jedoch ins Schwarze, argumentiert Hendrik Wallat in seinem Beitrag. Vor allem der Freiheitsbegriff von Errico Malatesta und Isaak Steinberg sei reflektierter als es die landläufige Meinung über den Anarchismus suggeriert. An Malatestas Schriften erbringt Wallat systematisch den Gegenbeweis für den vielfach erhobenen Vorwurf eines unterkomplexen oder proto-liberalen Begriffs von Freiheit. Er zeigt auf, dass Malatesta die im Liberalismus angelegte Notwendigkeit der Verteidigung des Privateigentums durch den Staat sehr wohl erkennt und damit auch die Grundlage der Klassengesellschaft. Dem Trugbild gewahr, wendet sich Malatesta deutlich gegen den Liberalismus und pocht mit der anarchistischen Auffassung von Freiheit auf die Überwindung des Staates.
Carl Melchers rekonstruiert in Bandiera Nera die bislang wenig beleuchtete Verbindung zwischen Anarchismus und Faschismus. Während die Idee »der totalen Freiheit von Herrschaft und die Ideologie der totalen Freiheit zu Herrschen« sich zunächst einmal philosophisch diametral zu widersprechen scheinen, findet Melchers markante historische und ideologische Überschneidungspunkte. Es sei alles andere als Zufall, dass der Faschist Benito Mussolini anfänglich Syndikalist war. Schlaglichtartig zeigt Melchers an drei Beispielen – der Rolle der Mythus-Theorie Georges Sorels, Bakunins »atheistischen Protestantismus« und Netschajews »Politik der Rache« – Einflüsse, Inspirationen und Parallelen, die das Verhältnis der beiden politischen Philosophien jenseits kompromissloser Gegnerschaft auszeichnen. Kaum eine öffentliche oder private Diskussion über den Anarchismus kommt ohne die Gewaltfrage aus. Ob in der historischen Rückschau mit dem Verweis auf die »Propaganda der Tat« oder in Hinblick auf die zeitgenössischen Auftritte des schwarzen Blocks, die Frage nach dem Verhältnis zur Gewalt im Anarchismus ist unvermeidlich. Holger Marcks widerspricht in Pfade in die Gewalt entlang der internen Debatte der gängigen Auffassung, innerhalb der anarchistischen Bewegung und Diskussion könne von einem Primat der Gewalt gesprochen werden. Trotz der zahllosen Versuche des insurrektionalistischen Flügels, Militanz als taktisches Mittel der Massenmobilisierung zu popularisieren, blieb ihre Anwendung insgesamt betrachtet marginal. Bemerkenswert ist die Gewaltfrage im Anarchismus jedoch insofern, als es innerhalb der Bewegung – im Gegensatz zu vielen theoretischen Aspekten – an diesem Punkte eine lebhafte Debatte über das Für und Wider ihrer Anwendung und ihres Nutzens gegeben zu haben scheint.
Olaf Kistenmacher untersucht in »Zionist« kann man sein, das Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus, das bisher kaum Gegenstand eingehender Auseinandersetzungen gewesen ist. Findet sich im Marxismus ausgehend von Marxens Zur Judenfrage eine breite und umfänglich dokumentierte Debatte über die Bedeutung von Judenfeindschaft, Kapitalismuskritik und gesellschaftlicher Emanzipation, bildet dieser Konflikt im Anarchismus bislang eine Leerstelle. Anhand jüngst wiederveröffentlichter Texte, vornehmlich aus den 1970er und 1980er Jahren, untersucht Kistenmacher die Positionen von AnarchistInnen zu Zionismus, Antisemitismus und Holocaust. Er rückt Selbstzeugnisse jüdischer AnarchistInnen in das Blickfeld, denen im Gegensatz zu manchen ihrer kommunistischen GenossInnen gemein ist, sensibler und weniger nachsichtig auf die Anfeindungen gegenüber Juden und Jüdinnen reagiert zu haben. Während KommunistInnen vielfach den Direktiven aus Moskau und der sozialistischen Doktrin folgten, wonach es sich beim Antisemitismus nur um ein zu vernachlässigendes Phänomen des Übergangs handele, beschreibt Kistenmacher AnarchistInnen als konfrontativer und unbefangener im Umgang mit derlei Angriffen.
In Assimilierte Revolution? fragt G. B. Taylor nach dem Verhältnis des vornehmlich amerikanischen Anarchismus und dem »neuen Geist des Kapitalismus«. Ausgehend von der Entstehung der New Left in den 1960er Jahren schildert er den Neoanarchismus als Versuch, abseits des autoritären Auftretens des Marxismus, den Kampf gegen Kapitalismus und Staat ohne das enge Korsett doktrinärer Parteien fortführen zu können. Wie vielerorts vermochte sich der (Neo-)Anarchismus auch in Amerika als undogmatischere und nachsichtigere Gegenkultur zu profilieren, deren unkomplizierte Integration von Ansätzen direkter Demokratie, Feminismus und Ökologie dem pluralen und heterogenen Charakter der Neuen Linken entgegen kam. Taylor weist indes darauf hin, dass es dieser in die Breite gehenden Bewegung an zentralen Einsichten über das Verhältnis von Kapitalismus und Staat mangelt. So spiegelt sich in zahlreichen Ansätzen die freiwillige Übernahme von Anforderungen und Zumutungen des neoliberalen Kapitalismus wider. Als Beispiel führt er Projekte wie Food not Bombs, Nachbarschaftsgärten oder Umsonstläden an. Auf unfreiwillig affirmative Art und Weise unterstützen diese die kritikwürdige Haltung des Staates, sich zunehmend seiner fürsorglichen Rolle zu entledigen und stattdessen seinen Bürger-Innen Selbstverantwortung aufzubürden.
Jenseits der grauen Theorie versucht die Phase 2 im Interview mit Julia Hermann von der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Berlin (FAU Berlin) einen Einblick in die anarchosyndikalische Gewerkschaftsarbeit und den Stellenwert anarchafeministischer Positionen zu erhalten. Hermann zufolge handelt es sich beim Anarchismus um eine überwiegend patriarchale Strömung, was ebenfalls auf seinen gewerkschaftlichen Arm den Anarchosyndikalismus zurückfällt. Zwar treten in den letzten Jahren dezidiert feministische Themen wie Reproduktion und Care Work verstärkt auf die Agenda, im Vergleich zum traditionellen Bild des männlichen Normalarbeiters finden derlei Zusammenhänge jedoch nur wenig Beachtung. Dies drückt sich nicht nur in der theoretischen, sondern auch in der praktischen Arbeit der Gewerkschaften aus. Es gäbe noch keine griffigen Konzepte und Ansätze dafür, wie etwa unbezahlte Care-Arbeit von Frauen problematisiert und überwunden werden könne.
Die Gruppe La Banda Vaga liefert einen geschichtlichen Abriss des Rätekommunismus und diskutiert seine Chancen für aktuelle Interventionen. Mit dem System der Räte habe es innerhalb der Arbeiterbewegung eine durchaus beachtete Alternative zur parlamentarischen Repräsentationsform gegeben, auch wenn diese dem Druck aus der Arbeiterbewegung selbst nicht standhalten konnte. Starken Gegenwind erfuhr die Idee beispielsweise von Lenin und den Bolschewisten, womit der Artikel einen im Schwerpunkt bislang nicht erwähnten Verdienst des Anarchismus aufruft – dessen Bolschewismuskritik. Frühzeitig erkannten die VerfechterInnen der Räte nach der russischen Revolution 1917 die Neigung der Bolschewisten zur autoritären Regierungsform, auf die Lenin die Arbeiterschaft in Russland und der Welt einschwor. Exemplarisch steht hierfür die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands von 1921, in dessen Verlauf die Rote Armee die gegen die Allmacht der kommunistischen Partei demonstrierenden Matrosen angriff.
Christian Bengel weiß in Rage against the machine abschließend davon zu berichten, dass die ersten diffusen Anwandlungen gegen Schule, Staat, Polizei und Kapitalismus für nicht wenige der heutigen Ü-30 Generation auch über textile, musikalische und habituelle Codes erfolgte. Da der Anarchismus in Deutschland nach 1945 keine unmittelbaren historischen Anknüpfungspunkte bot, fanden seine Ideen vielfach im individualistischen Gestus juveniler Rebellion Ausdruck. Als Teil eines ungezwungenen Lebensgefühls strahlte der undogmatische und pluralistische Charakter des Libertären dabei für den Autor größeren Reiz aus, als die spröden und freudlosen Gestalten und Theorien der K-gruppen. Dass die Anschlussstellen für antiautoritäre, ökologische, esoterische, punkige Ansichten für die weitere Politisierung genutzt werden konnten, hält Bengel dem Anarchismus trotz seiner fehlenden begrifflichen Schärfe zu Gute.
In eben jener von Bengel beschriebenen politischen Ungezwungenheit mag einer der Gründe für die heutige Anziehungskraft des Anarchismus liegen. Dabei steht weniger der Anspruch nach einer belastbaren begrifflichen Grundlage über die gegenwärtigen Verhältnisse im Vordergrund, als die moralische Gewissheit auf der Seite des Guten und der Menschen zu stehen gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Mit diesem Zugriff ist zwar manches über den Anarchismus, aber nur wenig über den Zustand der zu überwindenden Verhältnisse selbst ausgesagt.
Phase 2 Leipzig