Es liegt auf der Hand, dass eine konsequente (linke) Aufarbeitung der deutschen Barbarei bis 1945 die allgemeine Voraussetzung für eine Entwicklung schaffen muss, in der die Möglichkeiten zu wirklicher Rehabilitierung und Ausschluss potentieller Wiederholung allgemein genutzt werden. Die Bedingungen für die Realisierung dieses Prinzips lassen sich aber nur herstellen, wenn überhaupt jegliche Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erkannt und deren Überwindung umrisshaft vorstellbar ist. Wie schwierig sich allein die Analyse des europäischen und deutschen Judenhasses und eine daraus folgende politische Praxis darstellt, ist allgemein bekannt. Im Bezug auf den Mord an den Roma im Nationalsozialismus ist es leider sogar berechtigt, von einer eklatanten Ausblendung zu sprechen. Dass im Vergleich antiziganistischer und antisemitischer Diskurse und Praxis zahlreiche Parallelen auszumachen sind, hatte bisher wenig Auswirkung auf eine Analyse antiziganistischer Verankerungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Die AutorInnen des im März 2009 erschienen Sammelbandes Antiziganistische Zustände – Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments setzen hier endlich bereits erschienene hoffnungsvolle Anfänge zum Thema fort. Einigen LeserInnen dürfte Roswitha Scholz aus unterschiedlichen Publikationen zum Thema schon bekannt sein. Ihr so in großen Teilen schon publizierter Aufsatz »Antiziganismus und Ausnahmezustand« stellt den avanciertesten Theorietext im Sammelband dar. Die Konstruktion einer ethnischen Gruppe, der »Zigeuner«, seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die Verfolgung, Umerziehung, Sterilisierung und Ermordung im Nationalsozialismus und die erstmalige Anerkennung dieses Völkermordes 1982 in der Bundesrepublik stellen hier nur einen kurzen historischen Ausschnitt dar (26ff). Wie bruchlos sich die Registrierung und Verfolgung in der Bundesrepublik nach 1945 darstellt (27) sowie das Fortbestehen aller »Zigeuner«-Vorurteile und -stereotype sind die erschreckenden Erkenntnisse fast aller Aufsätze im Band. Auffällig ist jedoch, dass fast nur Roswitha Scholz den Versuch einer umfassenderen theoretischen Analyse und Einordnung des Antiziganismus unternimmt. Ihr Vergleich von Antisemitismus und Antiziganismus, die festgestellten Parallelen und Unterschiede sowie die Erklärung des Antiziganismus würden deutlich mehr Platz und Ausführlichkeit benötigen. Während die »Zigeuner« als unzivilisiert und minderwertig betrachtet werden, sind die Juden in der antisemitischen Vorstellung vornehmlich mit Macht und Herrschaft verkoppelt. (28) Dieses Bild der »Zigeuner« steht in Roswitha Scholz’ Aufsatz für das sowohl gefürchtete und gehasste, als auch beneidete und ersehnte Gegenmodel zu den modernen Lohn- und Zwangsarbeitsverhältnissen. Die »asozialen Wilden« innerhalb der eigenen Kultur und Gesellschaft – dieses Stereotyp zieht sich auch durch die Aufsätze »Doing Gender and Doing Gypsy« von Rafael Eulberg sowie Jan Severins »Elemente des Rassismus in den ›Zigeuner‹- Bildern der deutschsprachigen Ethnologie«. Ist es in Ersterem das Bild der »Zigeunerin« als triebhafte, unberechenbare Gefahr für patriarchale Geschlechterverhältnisse, analysiert Severin die wissenschaftliche Erforschung der »Zigeuner« als parasitäre Volksgruppe in der deutschsprachigen Ethnologie. Auch hier mit einer erneuten Bestätigung der Feststellung von Romantisierung und Rassismus mit einer mehr als aktuellen Basis. Die anschließende Abhandlung von Markus End »Adorno und die „Zigeuner« fragt nach der Funktion der unzweifelhaft existenten »Zigeuner«-Stereotype innerhalb der Adornoschen Gesellschaftstheorie: Letztendlich bleibt der »Zigeuner« bei Adorno nur eine Form von vorzivilisatorischer Lebensweise, eine essentielle Anti-Bürgerlichkeit (107).
Die weiteren acht Aufsätze von Yvonne Robel bis Klaus Strempel vertiefen dieses Feld der antiziganistischen Empirie. Gedenkpolitische Stereotypisierung, Abschiebepraxis, die Konstruktion von »Zigeunern« in den Medien sowie die Vertreibung der Roma aus dem Kosovo, Italien und Rumänien sind die Realität dieses allgegenwärtigen Ressentiments. Die seit Erscheinen des Sammelbandes schon oft zitierten antiziganistischen Kinderlieder von Gerhard Schöne sind dabei nur ein besonders prominentes Beispiel. Antiziganistische Zustände bleibt hinsichtlich der starken empirischen Schwerpunktsetzung noch manch vertiefende Auseinandersetzung schuldig, bietet den Lesenden aber einen komplexen Einstieg in ein deutlich unterrepräsentiertes Thema. Weitergehende Literatur, z.B. von Claudia Breger oder Martin Ruch, ist leider seit Mitte der achtziger Jahre nie aus ihrer Nischenexistenz heraus gekommen. Schön, dass Antiziganistische Zustände und die Publikationen der AutorInnen in unterschiedlichen Magazinen eine Basis darstellen, diesem »festen« Bestandteil der europäischen Kultur einer unabdingbaren Auseinandersetzung zu unterziehen. Endlich!
~Von Rico Rokitte.
Markus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel (Hrsg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Unrast Verlag, Münster 2009, 282 S., € 18,-.