Gleich vorweg: Ja. Der von Patsy L'Amour LaLove herausgegebene Sammelband Beißreflexe ist eine unfreundliche Einladung zum Streiten über queere Politik. Die darin enthaltene Kritik ist weder gutgemeint, noch versucht sie solidarisch zu sein. Mit dem Ziel, den groben Unfug des autoritären Queeraktivismus aufzudecken, greifen sechsundzwanzig Artikel in einem mal mehr und mal weniger harschen Ton dessen praktische und theoretische Irrtümer an. Unter Beschuss stehen aufseiten der Praxis: Der falsche Umgang mit sozialen Privilegien innerhalb der queeren Community, die Anwendung des Konzepts der Definitionsmacht und die Sicherheitspolitik in sogenannten diskriminierungs- und gewaltfreien Schutzräumen. Der Tenor der Artikel lautet, dass eine falsche aktivistische Übersetzung von Kränkungen aufgrund der ungleichen Verteilung von Privilegien innerhalb der Szene zu interner Zerrissenheit und mehr noch, autoritären Praktiken wie Buße, Ausschluss und Sanktion führe. In Zeiten islamistischen Terrors und der AfD sei jedoch gerade eine Anerkennung der Empathiefähigkeit Privilegierter, eine Akzeptanz der Ambivalenz menschlicher (sexueller) Beziehungen und somit eine Rückkehr in eine komplexe und widersprüchliche Realität für politisches Engagement unabdingbar. Die queere Theoriebildung wiederum wird vor allem für ihren Bezug auf Identitätspolitik, für das sprach- subjekt- und privilegienkritische Konzept der Critical Whiteness und der zumeist israelkritisch formulierten Kritik am Pinkwashing in Frage gestellt, durch welche nicht nur Anti-Rassismus, sondern auch Queer selbst zu immer inhaltsleerer werdenden Wort-Hülsen verkämen. Koschka Linkerhand etwa stellt in ihrem großartigen Artikel »Treffpunkt im Unendlichen. Das Problem mit der Identität« dar, wie der Aufschwung der Identitätspolitik im Queerfeminismus der 1990er Jahre »der in die Jahre gekommenen Frauen- und Lesbenbewegung den theoretischen Todesstoß versetzte.« Linkerhand bringt aus materialistisch-feministischer Perspektive einen der wichtigsten Kritikpunkte gegen den Queerfeminismus vor, indem sie sagt: »Die Verneinung der weiblichen Identität schlägt haltlos in alternative Identitätsbestimmungen um, ohne dass gefragt würde, welchen ideologischen Sinn und Zweck Identität hat. Die Erkenntnis, dass Frausein ein wesentliches Strukturelement im kapitalistischen Patriarchat sein könnte, das Zwangscharakter hat und zu dem die Wünsche und Bedürfnisse der Einzelnen immer schon in leidvollem Widerspruch stehen, wird in reine Identitätspolitik aufgelöst.«
Medien und Szene – alle sind nun in Aufruhr. Und so wurde erst einmal wieder viel über das Sprechen gesprochen. Eine von der Hamburger Phase 2-Redaktion geplante Veranstaltung in der Roten Flora konnte erst nach langem Hin und Her stattfinden, die Kommentarspalte der Veranstaltungsankündigung wurde aufgrund der vielen Anfeindungen gegenüber Patsy l’Amour LaLove nach einiger Zeit geschlossen. In den negativen Rezensionen zum Buch heißt es oft, man erkenne an Titel- und Wortwahl, dass es vor allem der Herausgeberin um Verletzung von Szeneaktivist_innen und die Aufmerksamkeit eines reaktionären Publikums ginge, statt um den kritischen Dialog mit Vertreter_innen der gegnerischen Position. Um Dialog oder die Vermittlung verschiedener Standpunkte bemühen sich einige der Autor_innen tatsächlich nicht mehr, sie verwerfen den Begriff »queer« sogar ganz. In der Tat also: Das Lesen mag für feministische Leser_innen, die sich der queeren Szene und einem politischen Schaffen in und mit ihr verschrieben haben, alles andere als angenehm sein. Aber bietet eine polemisch formulierte Kritik wie diese nicht gerade die Grundlage für produktiven Streit? Die eben erwähnte Koschka Linkerhand hofft zumindest, es möge »hinter der Polemik ein Fünkchen Solidarität mit den queerfeministischen Genossinnen aufscheinen, im Bewusstsein, dass die politischen Kämpfe sich überschneiden.« Kommt ein produktiver politischer Streit überhaupt ohne Verletzung aus? Apropos: Streitbar ist beispielsweise der Artikel von Till Randolf Amelung mit dem Titel »Moderne Hexenjagd gegen Diskriminierung – eine kritische Auseinandersetzung mit Definitionsmacht«. Die Intention des Artikels, den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Linken und die Ausweitung der Definitionsmacht auf andere Konflikte oder Kränkungen am Beispiel des queerfeministischen Antifee Festivals 2012 zu kritisieren, ist wirklich sehr begrüßenswert. Durchaus gelungene kritische Ausführungen Amelungs zu regressiven Tendenzen und fatalen Folgen des Konzepts werden jedoch durch über zehn Jahre alte und äußerst umstrittene Artikel wie »Infantile Inquisition« von Justus Wertmüller und Uli Krug oder »Antisexismus_reloaded« des Autor_innenkollektivs re.Action untermauert, welche die aktuelle Debatte und Praxis nicht mehr ausreichend widerspiegeln. Anschließend mündet der Artikel in überspitzte Unterstellungen, den Unterstützer_innen von Betroffenen sexualisierter Gewalt ginge es nie um diese selbst, sondern darum: »die Verfolgungsneurose einer politischen Szene zu pflegen«, »Vollstrecker_innen der Selbstjustiz zu sein« und die »Betroffene in der Szeneblase zu halten«. Sei es so oder nicht – zur konkreten Kritik emanzipatorischer Praxis taugen derartige Psychoanalysen der Aktivist_innen kaum, auch wenn es notwendig ist, immer wieder die Grenzen ihrer Praxis aufzuzeigen. In diesem Sinn und ganz abgesehen vom viel kritisierten Ton setzt der Band dort an, wo Linke auch über die queere Community hinaus besonders empfindlich sind: bei ihren Versuchen emanzipatorisch zu handeln und ihrem Scheitern in autoritären Gesten. Ob nun bei einem Blick auf die Geschichte der linken oder queeren Bewegung oder auf die eigene Biografie – auf ein solches Scheitern hingewiesen zu werden tut notwendigerweise weh, ebenso wie das Antizipieren und Aushalten von Widersprüchen, das Streiten und eigentlich schon das Denken selbst. Das macht Beißreflexe zu einem sehr lesenswerten Buch, das Zeugnis für zerrüttete Zeiten ablegt.
Welche Möglichkeiten für Solidarität und queere Bündnispolitik in Zeiten gesellschaftlicher Zerrüttung überhaupt noch bestehen, danach fragt Sabine Hark in Koalitionen des Überlebens – Queere Bündnispolitiken im 21. Jahrhundert. Sie ist eine der prominentesten Opponent_innen von Beißreflexe und fragt: Ob und wie können Bündnisse von LGBTTIQ nach Vorbild des »queer moment« in den 1980er Jahren, als sich in Reaktion auf die AIDS-Krise die Szene politisierte, einen gemeinsamen Neuanfang finden und sich darüber hinaus »mit anderen macht- und herrschaftskritischen Bewegungen und Erkenntnisperspektiven« solidarisieren? Solidarität und Politik – das stellt Hark mit Verweis auf die Gegenwart, auf Marx, die Frankfurter Schule und Christoph Menke sehr überzeugend dar – seien nicht nur durch politischen Terror, Hass und Chauvinismus erschwert, sondern auch durch die Form des bürgerlichen Rechts und den Widerspruch zwischen autonomem bürgerlichem Subjekt und einem emphatischen Menschheitsbegriff. Denn: »Um als Ich zu bestehen, um seine Autonomie als Subjekt zu bewahren, muss es seine Formierung in dieser Abhängigkeit und damit seine eigenen Möglichkeitsbedingungen verleugnen. Das autonome Subjekt ist das autarke Subjekt. Das aber heißt auch: Weil es seine Freiheit nicht mit anderen, sondern gegen sie verwirklicht, hat es sie verwirkt.« Auf der Suche nach einem neuen Autonomieverständnis des Subjekts und gewissermaßen als Auflösung des Widerspruchs von Freiheit und Herrschaft bietet Hark dann mit Referenz auf Judith Butlers Ethik der Kohabitation folgende »Grammatik der Solidarität« als Lösung an: Die allen Benachteiligten gemeinsame Prekarität und Verletzlichkeit soll als Kitt dienen, um eine »neue Welt« denken, jetzt schon erfahrbar machen und schließlich schaffen zu können. Daraus entstehende »Koalitionen des Überlebens« seien zwar durch eine unterschiedliche Verteilung von Verletzlichkeit vor große Herausforderungen gestellt. Doch das individuelle Bewusstsein um ein prinzipielles, körperliches Ausgesetztsein und Angewiesensein in der Gemeinschaft und schließlich die »Enteignung« würden Möglichkeiten darstellen, solidarische Koalitionen zu sichern. »Statt Autonomie auf Trennung, Gegenüberstellung von Eigenem/Eigentum und Anderem zu gründen«, setzt Hark auf »wechselseitige Verwiesenheit, ja wechselseitige Enteignung«. Enteignung ist für sie die »heteronome Bedingung für Autonomie« und »eine dezidierte Gegenerzählung, in der Sozialität und Ich von Anfang an ineinander verwoben und ko-existent gedacht sind«. Bei der Bildung von Koalitionen ginge es dementsprechend nicht nur um die Enteignung von Eigentum, sowie Grund und Boden, sondern zudem um eine Enteignung vom eigenen Körper. Wie, wo und wann diese körperliche Enteignung stattfinden soll, lässt Sabine Hark am Schluss leider offen. Soll sie in der hiesigen oder in der angestrebten »neuen Welt« stattfinden? Sollen sich alle gleichermaßen enteignen, die LGBTTIQs und der heterosexuelle Rest? Als Grundlage für breite politische Bündnisse scheint es in der gegenwärtigen Gesellschaft doch eher verhängnisvoll zu sein, sich (auch noch freiwillig!) seines Körpers zu enteignen. Dies lässt sich zumindest mit Blick auf die anhaltende globale Pathologisierung von Transmenschen oder den erneuten gesellschaftlichen Aufschwung von Abtreibungsgegner_innen vermuten. Dementsprechend liest sich die Forderung nach Enteignung mit dem Wissen über die anhaltende und wieder neu aufflammende Notwendigkeit der klassischen feministischen Forderung »My Body, My Choice« als gelinde gesagt waghalsig. So gut wie die Herausarbeitung des abstrakten Widerspruchs von Herrschaft und Freiheit beziehungsweise Autonomie und Abhängigkeit in der Forderung nach Gleichberechtigung im bürgerlichen Recht gelingt Sabine Hark das Gedankenexperiment einer bündnispolitischen Solidarität nicht. Vielleicht liegt es daran, dass bei ihr Utopie und Gegenwart haltlos ineinander verschwimmen. Nach der Lektüre beider Bände und der Debatte um Beißreflexe wächst der Wunsch nach einem materialistischen Feminismus, der die Solidarität nicht ganz verwirft, aber auch den harschen Ton nicht scheut und vor allem, statt über das Sprechen zu sprechen, inhaltliche Auseinandersetzungen sucht.
Nora Caótica
Patsy l’Amour LaLove: Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, Autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Querverlag, Berlin 2017, 272 S., € 16,90.
Sabine Hark: Koalitionen des Überlebens. Queere Bündnispolitiken im 21. Jahrhundert, Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 62 S., € 9,90.