»Wer nicht zur Wahl geht, gibt den Rechten eine Stimme.« Diese Ermahnung ist inzwischen nicht mehr nur in den Reihen überzeugter Demokratieverfechter:innen zu hören. Auch radikale Linke, die traditionell eher überzeugte Nichtwähler:innen waren, fragen sich, ob es angesichts der Ergebnisse der AfD notwendig ist, mitzuwählen. Es gelte Schlimmeres zu verhindern, wird häufig argumentiert. Auf den ersten Blick verständlich. Aber hält diese Auffassung einer genaueren Analyse stand?
Wie ernst einige inzwischen ihr Kreuz nehmen, zeigen Diskussionen um strategisches Wählen. Da wird abgewogen, ob man mit einer Stimme für die FDP eine große Koalition verhindern könne, und es werden ganze Modellierungen für die Erst- und die Zweitstimme entworfen. Vor der sächsischen Landtagswahl im Herbst 2019 wurde sogar dafür plädiert, das zweite Kreuz bei der CDU zu setzen. Um nur ja die AfD zu verhindern. Die sächsische CDU, bekannt dafür stets den regressivsten Weg einzuschlagen. Anlässlich der Bundestagswahl 2021 hat die Phase 2 unterschiedliche Akteur:innen – eine Redakteurin, einen Aktivist und eine Landtagsabgeordnete – eingeladen, ihren Standpunkt zum Thema darzulegen. Wer der Debatte etwas hinzuzufügen hat, kann uns gerne schreiben. Denn nach der Wahl ist bekanntlich vor der Wahl.
Ignoriert die Partei-Hooligans
Elke Wittich, Redakteurin der Jungle World
Früher bestanden Wahlen hauptsächlich aus Aukie, einer sehr großen, beeindruckend blondierten Frau mit einem Faible für enge, grellbunte Kleider sowie riesige Glitzerketten. Aukie kam aus den Niederlanden, hatte aber irgendwann gleich neben dem Grenzübergang der Kleinstadt eine Kneipe aufgemacht, die das Wahllokal der umliegenden Gegend war. Warum, wusste niemand, zumal die offiziellen Gebäude nicht wesentlich weiter entfernt waren, aber im Prinzip waren alle ohnehin damit zufrieden, sonntags bei Aukie abstimmen zu gehen.
Schick angezogen strömte der Wahlbezirk zu ihr, mitsamt dem minderjährigen Nachwuchs, dem unterwegs Bildungsvorträge über Demokratie und das Wahlrecht gehalten wurden. Wählen zu gehen, war selbstverständlich, ebenso wie sich an politischen Veranstaltungen zu beteiligen. Und Wahlen waren ohnehin ziemlich toll, denn während die Eltern in der Kabine Wahlsachen taten, bekam man von Aukie in einem zurechtgefalteten Bierdeckel Nüsse und in einem Weinglas weiße Limo serviert. Plus einen weiteren Vortrag über die Wichtigkeit von Wahlen und die Nazizeit.
In der Kleinstadt wurde gewohnheitsmäßig unauffällig abgestimmt. Bis sehr viel später Adi, der lokale Dealer, entdeckte, dass montags in der Lokalzeitung die genauen Ergebnisse jedes einzelnen Bezirks veröffentlicht wurden, und fortan abwechselnd die DKP oder die NPD wählte und dann wochenlang stolz den Ausschnitt herumzeigte, der die einzige Stimme für eine dieser Parteien dokumentierte, aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht war aber alles auch ganz anders und Wahlen waren schon damals rundum unangenehme Veranstaltungen, mit langen lästigen Vorlaufzeiten, in denen ausnahmslos erbärmliche Gewähltwerdenwollende um die Gunst des Volkes buhlten. Könnte sein, weiß man halt nicht, weil die weiße Limonade damals wichtiger war.
Heute beginnen Wahlen jedenfalls mit ausgedehntem Rechthaben. Im Prinzip haben sie alle recht, die zur Abstimmung Stehenden, die Abstimmenden und die anderen natürlich auch. Und sie setzen ihren ganzen Ehrgeiz darein, das möglichst pausenlos zu verkünden. Das zugrundeliegende Menschenbild besteht im Großen und Ganzen daraus, alle außer sich selber und vielleicht noch die eigene Social-Media-Bubble für derart vertrottelt zu halten, dass sie auf keinen Fall allein in der Lage sind, ihre Wahl zu treffen. Wann sich der Glaube durchgesetzt hat, dass Menschen es immens schätzen, im Internet angeschrien und belehrt und für doof erklärt zu werden, ist unklar, zumal es nach allem, was bekannt ist, noch nie vorgekommen ist, dass jemand öffentlich auf Twitter oder Facebook erklärte, durch das Dauerbeleidigungstrommelfeuer von Partei-Hooligans den leuchtenden Pfad zur Wahrheit gefunden zu haben.
Womit wir zu denjenigen kommen, die sich tatsächlich benehmen wie gewaltbereite Fußballfans, minus vielleicht – und hoffentlich – anderen Leuten den nackten Hintern entgegenzustrecken. Sie sind vor allem auf Twitter und in Kommentarspalten zu finden und haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihren Lieblingsverein, der in ihrem Falle allerdings eine Partei ist, bedingungslos zu unterstützen. Und zwar nicht nur mit Wahlempfehlungen und politischen Argumenten, das wäre ja langweilig, sondern mit einem nicht enden wollenden Strom von Beleidigungen, öden Memes und natürlich Verweisen auf die eigene moralische Überlegenheit. Bei letzterem machen alle mit, von links bis rechts, so dass Twitter an manchen Tagen die Leistungsschau des Vereins zur Förderungen von Selbstgerechtigkeiten aller Art sein könnte, wenn es einen solchen denn geben würde.
Das Personal, um das es dabei geht, ist mutmaßlich auf unterschiedliche Weise nicht sehr sympathisch. Ohne ein gewisses Maß an Anbiederung, Kalkulation, Selbstdarstellerei und Intrigen dürfte es kaum möglich sein, die eigene Konkurrenz hinter sich zu lassen und bekannt genug für eine aussichtsreiche Kandidatur zu werden. Beziehungsweise für die Rettung der Welt, drunter macht es niemand, weil: richtungsweisende Schicksalwahl und Entscheidung über die Zukunft des Planeten – und das alle vier Jahre. Kein Wunder, dass Wahlen die Leute immer so gaga machen.
Und dann ist er endlich da, der große Tag, an dessen Ende alle irgendwie beleidigt und mies gelaunt sind: Die Fans, weil es doch tatsächlich Menschen gab, die eine andere als ihre idolisierte Partei gewählt haben, die zur Wahl Stehenden, weil sie nicht gewählt wurden oder vielleicht doch, aber sich abzeichnet, dass sie gar nicht Chefpolitgockel von der ganzen Welt werden, die Wählenden, weil sie dunkel ahnen, dass sie morgen aufwachen und kein schöneres Leben als vorgestern haben werden und die Nichtwählenden, weil das schon wieder alles genau die gleiche Scheiße ist wie beim letzten Mal.
In den Tagen und Wochen danach werden die meisten der zuvor monatelang als unabdingbare Meilensteine verkauften Wahlversprechen zurückgenommen, der Fachausdruck dafür lautet Koalitionsverhandlungen. Was niemanden weiter überrascht, Kompromisse sind schließlich das Wesen der Politik, wie die Polithooligans anschließend nicht müde werden zu betonen, allerdings in anderen Worten und versehen mit Beleidigungen, natürlich. Es folgt eine Pressekonferenz der strahlenden Regierungskoalitionär:innen, die betonen, wie großartig das alles werden wird und wie sehr sie einander vertrauen und dass nun ein Ruck durch Deutschland gehen werde, endlich wird es eine Zukunft geben, hach, das wird schön. Und dann geht alles so weiter wie bisher, vielleicht mit mehr Radwegen und besserer Internetanbindung. Bis sich herausstellt, dass die Regierungsbeteiligten einander gründlich nicht ausstehen können, was wieder zu viel Lärm im Internet führt, aber nicht zu Konsequenzen, die drei Jahre bis zur nächsten Wahl wird man schon irgendwie überstehen, bloß keine Neuwahlen, wer weiß, am Ende wäre man womöglich das Mandat los. Aber dann, dann wird es eine Schicksalwahl geben, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine, in der über die Zukunft des Planeten entschieden wird, kommt alle!
Außer Aukie und Dealer Adi, die sind schon lange tot, übrigens. Aber hej, wo bleibt denn das Fazit? Wählen gehen, nicht wählen gehen? Was wählen? Na gut: Macht doch alle, was Ihr wollt, aber das nach Möglichkeit leise und ohne anderen auf die Nerven zu gehen, danke.
Nicht wählen nützt auch nichts
Juliane Nagel, Landtagsabgeordnete in Sachsen und Stadträtin in Leipzig für Die Linke
2019 grassierte vielerorts die Angst vor einem Wahlsieg der AfD bei der Landtagswahl in Sachsen, nachdem bei der vorigen Bundestagswahl die hier offen extrem rechts auftretende Partei tatsächlich knapp die CDU überflügeln konnte und jede vierte Zweitstimme sowie drei Direktmandate einfuhr. Um sich einem weiteren Rechtsruck zumindest im Landesparlament entgegenzustellen, wählten viele Menschen in Sachsen, die die Demokratie als etwas Erhaltenswertes ansahen, gegen die eigentliche persönliche Parteipräferenz die CDU, zur vermeintlichen Stärkung des eigentlich schon damals löchrigen Bollwerk gegen die AfD. Knapp zwei Jahre später lässt sich konstatieren, dass der Rechtsruck auch ohne AfD in der Regierung weiter seinen Gang geht. Auch die Grünen und die SPD als Koalitionspartnerinnen setzen dem wenig entgegen und tragen die seit jeher unter Alleinkommando der CDU in Sachsen betriebene autoritäre Law-and-Order-Politik mehr oder weniger widerwillig mit. War es also zwecklos, in Sachsen überhaupt zu versuchen, als linke Minderheit etwas an den parlamentarischen Verhältnissen mittels Wahlaufrufen und taktischem Wählen zu verändern? Ist es vielleicht ein der Zeit entsprechendes Übel, die eigene Stimme lieber der CDU zu geben, ehe diese noch mehr mit einer Zusammenarbeit mit der AfD liebäugelt und dabei weiter munter Freiheiten der liberalen Demokratie über Bord wirft? Und gibt es überhaupt eine realistische, emanzipatorische Alternative, die die (radikale) Linke aus besseren Gründen als taktischem Wählen zum Urnengang aufrufen könnte?
Für die nahende Bundestagswahl zeichnet sich ein möglicher Regierungswechsel ab. Während die Sozialdemokratie einen langsamen Tod stirbt, dienen sich die Grünen als neue Koalitionspartnerin der CDU an. Die nationalautoritäre, vielerorts faschistoide AfD konzentriert sich vor allem auf Wahlerfolge im Osten und auf ihr Revival als stärkste Oppositionskraft im Bundestag. Die Linkspartei dümpelt über der Fünf-Prozent-Marke herum und lässt sich – wiederum entfacht von den nationalistischen Tönen einer Sahra Wagenknecht – dumm machen. Ein Bündnis der Mitte-Links-Parteien scheint im Moment weder rechnerisch noch inhaltlich möglich.
Ich finde nichtsdestotrotz und vor allem: Nicht wählen nützt auch nichts! Zumal sich einschneidende politische Veränderungen schon seit jeher nicht im Vorfeld einer Wahl vorhersehen oder ausschließen ließen.
Aber der Reihe nach:
1. Wahlenthaltung als grundsätzlicher Ausdruck einer linksradikalen Haltung war vielleicht in den Zeiten überzeugend, als durchschlagskräftige soziale und politische Bewegungen gesellschaftliche Debatten wirklich autonom bestimmten, eine grundlegende gesellschaftsverändernde Agenda hatten und selbstbewusst und stark aufgestellt waren. Wo vormals eine starke Anti-Atombewegung auftrat, die ihre Ziele auch mit militanten Mitteln und protegiert durch Teile der Bevölkerung durchsetzte, wo die 1968er offensiv für Entnazifizierung, soziale Reformen und kulturelle Emanzipation kämpften, wo linksradikale Antifaschist:innen einen bundesweiten Organisierungsprozess begannen, sind heute Leerstellen. Zwar finden sich in der dezentralen Mieter:innenbewegung durchaus wirkungsvolle, selbstorganisierte Momente, aber Initiativen wie Fridays for Future oder die Seebrücke sind im Grunde stärker auf Veränderungen durch Parlamentsbeschlüsse angelegt und agieren stark mit Mechanismen des Lobbying in Richtung der institutionalisierten Politik. Kampagnenförmige Aktionen wie Unteilbar bleiben in ihrer Ausrichtung diffus und entbehren einer grundlegend gesellschaftsverändernden Linie. Linksradikale (Anti-)Politiken sind heute stark diffundiert, kleinteilig und vereinzelt – in jedem Fall erfüllen sie nicht die Charakteristika einer Bewegung.
Der Wahlakt kann für Linksradikale in diesen trüben Zeiten deshalb vor allem eines bedeuten: Gesellschaftsveränderung in größerem Maßstab zu denken und zumindest ein Votum dafür abzugeben, wenn die letzte Bastion nicht die ritualisierte lokale Demo, die vereinzelte Hausbesetzung oder der nächste kluge Text sein sollen.
2. Es stellt sich die Frage, ob es sich im Falle der Wahlentscheidung lohnt, das Kreuz derjenigen Partei zu geben, die im demokratischen Spektrum die größte Chance auf einen Wahlerfolg hat. So haben es bei den Landtagswahlen in Sachsen und Sachsen-Anhalt viele getan und ihr Votum für die CDU, ein kleinerer Teil wohl für Die Grünen mit Option zur Regierungsbeteiligung abgegeben. Als linXXnet hatten wir im sächsischen Landtagswahlkampf unter dem Motto »Hilft Arm-abhacken gegen die AfD?« dezidiert davor gewarnt. Wer sich für ein Kreuz bei der CDU entscheidet, wählt die, die den Faschist:innen inhaltlich und über ihr autoritäres Demokratieverständnis das Feld bereitet haben und die weiterhin das Getöse der AfD in Politik übersetzen, sei es in Form einer restriktiven Migrations- und Ordnungsgesetzgebung oder einer neoliberalen Wirtschafts- und antihumanen Sozialpolitik. Auch wenn sich der Spitzenkandidat der sächsischen CDU zu den Bundestagswahlen, Marco Wanderwitz, nach rechts abgrenzt, kann er nicht darüber hinwegtäuschen, dass es große Teile vor allem in der sächsischen CDU gibt, die lieber heute als morgen ihre kleinen Koalitionspartnerinnen von SPD und Grünen gegen die »Nationalkonservativen« austauschen würden. CDU und AfD sind von einem Fleische, das zeigt sich nicht zuletzt im Hass auf alles Linke, in Sachsen deutlich am extrem diskursbeschränkenden Extremismus-Modell, welches die CDU seit über dreißig Jahren mit harten Bandagen vor allem gegen Antifaschist:innen bemüht. Oder aber in Thüringen, wo die CDU mit aller Kraft die Wiederwahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten verhindern wollte und dabei auch auf die AfD zurückgriff.
3. Bündnisse kleinerer mitte-links-Parteien mit der CDU bringen wenig, das lässt sich anhand der sächsischen Realität prägnant aufzeigen. Die SPD hat inzwischen jedwedes Rückgrat verloren, die Grünen zeigen sich dafür auf Erfolgskurs. Es gibt winzige Kurskorrekturen, aber an die harten Themen im Land, vor allem Sicherheits-, Bildungs- und auch Asylpolitik, kommen sie nicht wirklich heran. Ein Paradigmenwechsel sieht anders aus.
Eine schwarz-grüne Regierung, die eventuell noch die SPD hinzuziehen muss, wird mit den Prinzipien neoliberaler Sozialstaatszerstörung und klimaschädlicher Wachstumsideologie nicht brechen wollen. Wer mit Schwarz-Grün oder Schwarz-Grün-Rot auf Bundesebene ein positiveres Image und das Durchfechten von identitätspolitischer Makulatur verbindet, wird dagegen nicht enttäuscht werden. Denn dazu ist auch die Bundes-CDU inzwischen bereit – Hauptsache, es nutzt dem Kapital.
Ich meine also: Wählen! Und zwar nicht vorrangig, um die AfD zu schwächen – denn erwiesenermaßen profitieren vor allem die Faschist:innen von der Mobilisierung der Nichtwähler:innen – aber ganz sicher auch nicht, um deren großer Schwester CDU aus falschen Gründen zu noch mehr Macht zu verhelfen.
Ich plädiere dafür, mit der eigenen Stimme dazu beizutragen, den trotz allem möglichen bundespolitischen Szenenwechsel hin zu einer Mitte-Links-Regierung aus Grünen, SPD und der Linken zu ermöglichen. Die eigene Stimme kann auch eine nachhaltige Investition in den Aufbau einer solidarischeren Gesellschaft sein, denn es geht auch darum Strukturen zu stärken, die mittels Stiftungen, offener Büros und Personalstellen die wenigen verbliebenen Freiräume für gesellschaftskritische Theorie und Praxis sichern und grundlegende Fragen nach Gleichheit, Freiheit und Solidarität weit über Reden, Anfragen und Anträge in den Parlamenten hinaus immer und immer wieder auf die politische Agenda heben. Von einer krachenden Niederlage oder auch nur Schwächung der parlamentarischen Linken würden auch außerparlamentarische linksradikale Kräfte getroffen. Wer daran ein Interesse hat, kann sich jede:r selbst ausmalen.
Vom Wählen eines bekennenden Nichtwählers
Andreas Blechschmidt, Aktivist der Roten Flora in Hamburg
Für radikale Linke an Wahlen im Allgemeinen und einer Bundestagswahl im Besonderen teilzunehmen, ist eine elaborierte Form politischer Hirnakrobatik, die im Einzelfall vertretbar sein kann. Zwar kann damit nicht das politisch Richtige erreicht, wenigstens aber das politisch Falsche wenn nicht verhindert, so doch eingedämmt werden. Allerdings ist wählen ein Fall von politischer Naivität, sofern damit die Hoffnung verbunden ist, an den herrschenden Verheerungen des neoliberalen kapitalistischen Systems grundlegend etwas zu verändern. Die Fiktion der bundesdeutschen parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie besteht zwar in dem Versprechen an die Wähler:innen, bei Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahlen mit der Abgabe eines Wahlzettels aktiv Einfluss auf den politischen Willensbildungsprozess nehmen zu können. In freien und geheimen Wahlen werde politische Machtausübung legitimiert. Nur unterliegt dieser Anspruch der parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie dem schmerzlichen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. So könnte sich theoretisch zwar im Parteienwettbewerb eine linke Partei durchsetzen, die die Vergesellschaftung von z.B. Produktionsmitteln anstrebt und durchsetzen will. Denn ja: im Grundgesetz heißt es z.B. im Artikel 15, dass »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel [...] zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden« können. Aber sicherlich friert eher die Hölle ein, als dass die Hegemonie des neoliberalen kapitalistischen Regimes durch Wahlen gebrochen werden könnte.
Dabei können sich die Hüter*innen dieser neoliberal-kapitalistischen Hegemonie zum Einen darauf verlassen, dass das von Herbert Marcuse schon 1972 in seiner Schrift Konterrevolution und Revolte attestierte reformistische Bewusstsein der »Arbeiterklasse« mit dem Versprechen der Teilhabe an Konsum und Wohlstandversprechen für den Fortbestand dieser Hegemonie sorgen wird. Zum Anderen sorgt neben diesem Konsumversprechen und dem Warenüberfluss die im Zweifelsfall mobilisierbare »Militär- und Polizeimacht« dafür, dass die Chancen auf eine emanzipatorische Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse gering erscheinen. Zudem ist die Arbeiter:innenklasse als politisches Subjekt mittlerweile unter die Räder des Postfordismus geraten und die an ihre Stelle getretenen aufstiegsorientierten Mittelschichten üben sich eher in systemstabilisierender Selbstoptimierung als in Systemopposition.
Die Wirkungsmächtigkeit der Hegemonie des neoliberalen kapitalistischen Regimes zeigt sich paradigmatisch (und hochaktuell) an der Geschichte der grünen Partei. Nach der Gründung 1980 gelang schon 1983 der Einzug in den Bundestag. Angetreten als Arm der außerparlamentarischen Bewegung, antikapitalistisch, antimilitaristisch und radikalökologisch orientiert, begann zügig die Erosion linker emanzipatorischer Ansprüche. Bereits 1985 stellten sie in einer Koalition mit der SPD in Hessen mit dem Ex-Sponti Joschka Fischer erstmalig einen Minister. Als Bündnis 90/Die Grünen war die Partei 1998 bis 2005 in einer rot-grünen Koalition unter dem Kanzler Gerhard Schröder auf Bundesebene in Regierungsverantwortung. In dieser Rolle war Außenminister Fischer für die Beteiligung Deutschlands am ersten Angriffskrieg nach 1945 auf Jugoslawien verantwortlich, während der damalige Umweltminister Jürgen Trittin Castor-Transporte im Wendland realpolitisch schönredete. Und auch die neoliberale Hartz4-Agenda trug die Grünen-Partei ohne jeden Widerspruch mit. Zwischenzeitlich ließ sich die Partei auf Länderebene wie in Hamburg auch auf Koalitionen mit der CDU ein. Dieser Entwicklung ging ein langer Konflikt zwischen Fundis und Realos voraus, der machtpolitisch dem Konflikt der 68er Bewegung mit der Frontenstellung des Marsches durch die Institutionen versus der (militanten) Gegenentwürfe der außerparlamentarischen undogmatischen Linken entsprach. Umso schmerzlicher ist die aktuelle Erfahrung der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, sich trotz dieses eingeübten selbstverleumderischen Renegatentums einer massiven Kampagne des neoliberal-konservativen Establishments ausgesetzt zusehen, das selbst die Karikatur grüner domestiziert-kapitalistischer Politik als Bedrohung wahrnimmt.
Und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Dieses systemstabilisierende Renegatentum betreibt leider auch die Partei Die Linke. Allein das faktische Nichtverhalten der Linken zuletzt in Berlin zu den fortwährenden Räumungen linker (Frei-)Räume nahezu im Monatstakt zeigt, dass politische Inhalte und Grundüberzeugungen, die Parteien in der Opposition als nicht verhandelbar vor sich hertragen, in der Regierungsverantwortung unter der Prämisse der Logik des pragmatischen Sachzwangs und Machterhalts wie Schnee in der Sonne schmelzen.
Damit könnte dieser Beitrag mit der vermeintlich radikalen Attitüde enden, also die Ablehnung von Wahlen als bloßes systemstabilisierendes Legitimationstheater der herrschenden Verhältnisse zu erklären.
Aber angesichts der realen deutschen Misere ist es so einfach eben doch nicht! Rassismus, Antisemitismus, von Rechten durchsetzte Sicherheitsbehörden, die Etablierung der AfD in den Parlamenten, das Erstarken der militanten Naziszene, die unmenschliche Geflüchteten-Politik – um nur einige Bereiche zu nennen – machen es notwendig, das politische Alltagsgeschäft nicht konservativen und rechten Parteien zu überlassen. Und es macht dann doch einen Unterschied aus, ob integre Politiker:innen wie Katharina König-Preuss, Martina Renner oder in der Vergangenheit Hans-Christian Ströbele bei den Grünen das (Wider-)Wort ergreifen und im parlamentarischen Betrieb dafür sorgen, dass kritische Stimmen der Zivilgesellschaft nicht ignoriert werden. Parlamentarische Anfragen solcher (linker) Politiker:innen und deren Teilnahme an Untersuchungsausschüssen schaffen einen politischen Resonanzraum, in dem Anliegen und Inhalte der außerparlamentarischen linken Bewegung Kraft entfalten können. Und übrigens hat auch ein Projekt wie die seit 1989 in Hamburg besetzte Rote Flora immer auch davon profitiert, dass es Politiker:innen der Grünen-Partei und der Linken-Partei gab, die sich solidarisch und manchmal sogar schützend vor das Projekt gestellt haben, wenn Räumungsforderungen von rechts kamen.
Wer die Abschaffung der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse will, sollte sich nicht mit Wahlen aufhalten. Wer den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen bis dahin allerdings nicht unwidersprochen den politischen Diskurs und Deutungshoheit überlassen will, sollte sich nicht scheuen, im Einzelfall politischen Akteur:innen eine Stimme zu geben. Es sind die Wahlstimmen für jene Politiker:innen, die auch wissen, dass das neoliberale kapitalistische Regime das globale Problem ist, die aber eine konsequente revolutionäre Antwort nicht geben möchten. Wie eingangs schon geschrieben: Damit kann zwar nicht das politisch Richtige erreicht, aber wenigstens das politisch Falsche wenn nicht verhindert, so doch eingedämmt werden.