Der jüngst im Konkret Verlag veröffentlichte Sammelband Sex tells mit Beiträgen der Sozial- und Sexualwissenschaftler Günter Amendt, Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch ist weniger ein Buch über Sex, unterschiedliche sexuelle Präferenzen und Praktiken. Vielmehr wird darin auf die oft hitzig geführten Debatten über Hetero-, Homo- und Pädosexualität reflektiert, wie sie vorrangig in Deutschland in ihrem jeweiligen historischen Kontext der letzten fünfzig Jahre geführt wurden. Sex tells spricht davon, dass die sexuellen und geschlechtlichen Verhältnisse immer auch die gesellschaftlichen als zu kritisierende ausweisen; »Sexualforschung als Gesellschaftskritik« lautet daher der Untertitel des Bandes. Daran anschließend dokumentiert er auch personal die Entwicklung der deutschen Sexualwissenschaft anhand der drei Autoren: Volkmar Sigusch und Gunter Schmidt, den ehemaligen Leitern der beiden deutschen sexualwissenschaftlichen Institute in Frankfurt und Hamburg, sowie Günter Amendt, dem die wissenschaftliche Karriere verwehrt wurde. Zudem stellt der Sammelband einen würdigenden sowie kritischen Blick auf die eigenen Verdienste und die verlegerische Zusammenarbeit mit Hermann L. Gremliza dar. Dass Günter Amendt kurz vor Veröffentlichung bei einem Autounfall starb, lässt den Hommage-Charakter von Sex tells noch stärker hervortreten.
Alle Autoren verbindet ihr Eingreifen in die sexualpolitischen Diskussionen über eine neue Sexualmoral in den sechziger Jahren, über Aids und die neue Welle der Homophobie in den achtziger Jahren, und jüngst über Pädophilie. Zwar hatte sich Amendt Ende der neunziger Jahre von der Sexualwissenschaft abgewandt, doch zeigt das Buch deutlich, dass er sich zuletzt wieder Problemen der Sexualität widmete, vermutlich auch, so Amendt, weil »die sexuelle Frage noch immer offen ist und noch immer keine Ruhe eingekehrt ist an der Sexfront«. Bedingt sieht Amendt die nach wie vor bestehende Unfreiheit von Sexualität und Geschlechtlichkeit dadurch, dass die soziale Revolution noch nicht stattgefunden hat.
Sex tells befasst sich viel mit den sechziger Jahren, als der verbreiteten Prüderie, Autoritätshörigkeit und den gesellschaftlichen Sexualitätstabus von Seiten der Studentenbewegung herausfordernd entgegengetreten wurde, auch um »Kinder und Jugendliche zu einem angstfreien und autonomen Umgang mit ihrer Sexualität zu befähigen. Und sie damit auch vor Missbrauch aller Art zu schützen«. Aufklärung als Selbstermächtigung und Provokation als Befreiungsschlag standen daher an erster Stelle, was sich in Günter Amendts Sexfront von 1970 zeigt – dem nachgereichten Manifest der Sexualkampagnen der 68er. Neben dem Anspruch, die Sexualmoral zu ändern, wurden in den damaligen Debatten auch traditionelle Geschlechterrollen in Frage gestellt und die Gleichwertigkeit sexueller Präferenzen und Bedürfnisse postuliert. Einiges hat sich seither sexualpolitisch und gesellschaftlich geändert – Homosexualität ist seit 1994 nicht mehr juristischer Straftatbestand –, anderes ist immer noch, neu oder wieder verbreitet. So verweist Amendt auf einen gegenwärtigen Trend außerhalb der Mittelschicht zum Neo-Machismo: Frauenverachtung gepaart mit Homophobie.
In dem im Sammelband enthaltenen Text Sexfront. Revisited von 2006 erklärt Amendt, »daß ich beim Wiederlesen auf nichts gestoßen bin, was ich zurückzunehmen hätte. Auch nicht die Übertreibungen und Überspitzungen. Noch jede Emanzipationsbewegung schoß, um auf sich aufmerksam zu machen, übers Ziel hinaus. Ohne Maßlosigkeit sind Tabus nicht zu brechen«. Doch Amendt und seine Mitstreiter würdigen nicht nur den Beitrag der 68er zur sexuellen Selbstbestimmung und dem Etablieren der sexuellen Verhandlungsmoral, sondern kritisieren auch Verirrungen im Rausch der sexuellen Deregulierung und eigene gesellschaftliche Fehlanalysen.
Alle drei Autoren teilen in ihren Texten die »anti-normative Position Freuds« und gehen gleichzeitig mit den sexuellen Differenzen um, statt sie zu umgehen oder zu naturalisieren. Dies wird besonders im ersten Textblock zu den Diskussionen über Pädophilie in den siebziger bzw. achtziger Jahren und heute deutlich. »Wer in dieser Diskussion zu differenzieren versucht, bringt schnell den Boulevard und das gesunde Volksempfinden gegen sich auf. Das war damals so und das ist auch heute noch so. Die Pädophilie-Diskussion war schon immer ein Terrain auf dem Verfolgernaturen sich austoben konnten«. Gegen die oft »dumpf, affektgeladen, nivellierend, vorurteilsfreudig und antiaufklärerisch« geführten Debatten bewahren die Autoren einen kühlen Kopf und ihre Empathie für die jeweilige Tragik der missbrauchten Kinder und der Pädophilen. Die Autoren halten daran fest, dass Kinder eine eigene Sexualität haben, doch dass »(s)exuelle Kontakte mit Erwachsenen [...] allerdings das letzte [sind], was sie wollen«. Schmidt stellt sich gegen die Verharmloser und Katastrophierer der Realität betroffener Kinder und fordert als Voraussetzung dafür, »klinische und moralische Aspekte klar zu unterscheiden, [...] moralisch zu argumentieren, wo es um Moral geht, und klinisch zu argumentieren, wo es um Traumatisierung geht«. Gleichzeitig (an)erkennt er mit Amendt die Tragik der Lage von Pädophilen: »weil Pädophilie für sie psychisch die Lösung eines schweren Konfliktes darstellt, der oft weit in die Kindheit zurückreicht. Tragisch, weil die alternative ›Lösung‹ oft Suicid oder Psychose ist. Tragisch weil ihre Lösung gesellschaftlich nicht akzeptierbar ist«.
Ohne noch Raum für weitere Besprechung der anderen Sammelbandtexte zu haben, möchte ich doch das ganze Spektrum von Sex tells zumindest noch anreißen: Schmidt widmet sich aktuell Heterosexuelle(n) Beziehungsbiografien im Wandel und reflektiert über seinen Text Erotik ist nur noch Alleinsein. Die Sucht, ständig verliebt zu sein, überfordert alle Zweierbeziehungen von 1979. Sigusch problematisiert die neosexuelle Bewegung hin zum Selfsex und zur sexuellen Monadisierung als strukturell gesellschaftlich bedingtes Problem. Und als Hommage an den 2010 verstorbenen Mitstreiter und Künstler Christoph Krämer findet sich am Ende des Buches der gemeinsam mit Amendt produzierte Text Sex als Ansichtssache von 1980 neu aufgelegt.
Die Texte von Amendt, Sigusch und Schmidt in Sex tells zeichnen sich in meinen Augen durch ihre sexuell wertfreie und antinormative, doch den eigenen moralischen Standpunkt reflektierende Haltung aus. Der Psychologisierung der gesellschaftlichen Bedingtheit von Sexualität und Geschlechtlichkeiten verwehren sich die Autoren, ohne die individualgeschichtliche Bedeutung der jeweiligen sexuellen Präferenzen und Praktiken zu vergessen. Sex tells zeigt eine vernünftige, empathische Grundhaltung zum leidenden sexuellen Subjekt wie sie selten geworden ist.
JULIANE HUMMITZSCH
Günther Amendt/Gunter Schmidt/Volkmar Sigusch: Sex tells. Sexualforschung als Gesellschaftskritik, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2011, 144 S., € 18,00.