Es ist keineswegs selbstverständlich, das Ende der DDR als eine Zäsur zu verstehen, nach der es sich lohnt, erneut über linke Emanzipations- und Gesellschaftskonzepte nachzudenken. Schließlich – so lautet ein bekanntes Totschlagargument – hätte es sich bei der DDR gar nicht um »echten« Kommunismus gehandelt; mit Marx habe sie ungefähr soviel zu tun wie Mario Barth mit Humor. Doch so einfach ist es nicht. Müssten nicht eigentlich die DDR im Besonderen sowie der Stalinismus und die Realsozialismen im Allgemeinen bohrende Fragen an ein linkes Selbstverständnis stellen? Waren nicht auch sie unter dem Banner des Kommunismus, des Sozialismus und des Antifaschismus angetreten, eine bessere Gesellschaft aufzubauen? Müsste nicht die Geschichte dieser Begriffe und ihrer Umsetzung in die Realität eigentlich zu einer Reflexion darauf führen, wie es um eine Theorie und Praxis bestellt ist, die zumindest negativ auf diese Tradition bezogen bleibt? Und schließlich: Was, wenn nicht die Geschichte des historischen Kommunismus, hat dem Projekt der Emanzipation jenes Vermittlungsproblem eingebracht, mit dem man sich heute herumschlägt?Von all dem – und das ist nicht überraschend – möchte das offizielle Erinnerungsspektakel des Jahres 2009, das immerhin 20 Jahre Mauerfall und 60 Jahre Gründung der BRD einschloss, nichts wissen. Lieber feiert man ein farbenfrohes, ausgelassenes »Fest der Freiheit« – so das Motto der Berliner Veranstaltungen zum Jahrestag des Mauerfalls –, und versichert sich fast schon manisch-autosuggestiv der Segnungen, die man im neuen kapitalistischen und vereinten Deutschland genießen darf. An den ungleich bedrückenderen Gedenkveranstaltungen an die Pogrome der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 haben sicherlich nur wenige PolitikerInnen und BürgerInnen teilgenommen. Was derzeit die erinnerungspolitische Szenerie betrifft: Die Rolle der DDR im nationalen Drehbuch war relativ klar umrissen. Sie ist das staatliche Gegenbeispiel zur sich erfolgreich aus dem deutschen Sonderweg herausarbeitenden BRD. Ihren Höhepunkt findet diese Erfolgsgeschichte – so das Narrativ – 1989 in der ersten erfolgreichen Revolution auf deutschem Boden und der Wiedervereinigung, die fortan die Identität Deutschlands als moderne, aufgeklärte Nation begründet.
Jenseits aller Kritik, die an diesem Brimborium zu leisten ist und geleistet wurde: Eine linke Positionierung zur DDR scheint schwer zu fallen. Geht man davon aus, dass es sich bei der BRD und DDR um zweierlei Postnazismus handelt, so fällt zumindest auf, dass der Stand der Analyse keinesfalls derselbe ist. Wenn überhaupt, konzentriert man sich auf Einzelaspekte. Das Lob des Gesundheitssystems, der Gleichberechtigung und des staatlichen Antifaschismus stellt man gegen die Kritik an Unterdrückung, Bevormundung, Bespitzelung, gegen Denunziation, Arbeits- und Konformitätszwang. Dabei zeigt sich, dass die Analyse jedes dieser Elemente eigentlich einen Bezug auf das Ganze, seinen Kontext im gesellschaftlichen Gesamtgefüge nach sich ziehen müsste. Der Beitrag Philipp Grafs versucht dies an einem zentralen Element der ideologischen und praktischen Neugründung des zweiten postnazistischen Staates auf deutschen Boden nachzuweisen: dem Antifaschismus. Dessen Komplexität wird nicht gerecht, wer einfach nur das Bekenntnis gegen die Realität stellt. Ohne Frage: Die Entnazifizierungsversuche, die sich im Vergleich mit der BRD weit rigoroser ausnahmen, erweisen sich bei näherem Hinsehen als ähnlich defizitär. Dem Problem, wie mit einer ehemals nationalsozialistisch eingestellten Mehrheit umzugehen sei, waren sich gerade zurückgekehrte Exilanten wie Paul Merker durchaus bewusst. Auch der Text von Birgit Schmidt zeigt, welch heterogene historische Erfahrungen in den Gründungsjahren bei den politisch Aktiven eine Rolle spielten. Und gerade diese Erfahrungen spiegeln sich auch im Verhältnis zum offiziellen Antifaschismus. Wessen Geschichte der staatstragenden Opfer-Erzählung entsprach – oder wer sie sich so zurechtrückte –, der konnte sich in der DDR durchaus zu Hause fühlen. Anders hingegen erging es jenen, die entweder aus diesem Narrativ herausfielen oder aus anderen Gründen der offiziellen Politik kritisch gegenüberstanden. Der Umgang mit DissidentInnen zeigt mit äußerster Deutlichkeit, dass es sich bei der DDR nicht um ein emanzipatorisches Projekt handelte. Vielmehr wird bereits in den Gründungsjahren deutlich – wie der Artikel von Magnus Henning ausführt –, dass man schon damals mit Marx nicht gegen die SED ankam. Ebenso wenig kann die Führung der DDR mit dem Verweis auf Sachzwänge, resultierend aus Ost-Bindung und Hallstein-Doktrin, in Schutz genommen werden. Ganz bewusst und im Rahmen eigener Spielräume entschied man sich dazu, nicht einmal die Mindeststandards bürgerlicher Rechte zuzulassen. Im Vorenthalten dieser Rechte liegt, so Renate Hürtgen in ihrem Beitrag, eines der größten Versäumnisse – nicht nur für die Parteiführung, sondern auch für die ArbeiterInnenbewegung. Diese ließ sich ohne nennenswerten Protest 1968 das Streikrecht aus der Verfassung streichen.
Was die bis jetzt umrissenen Aspekte jeweils vereint und dabei weitere Fragen nach sich zieht, ist ein Moment von Autorität. Nicht nur das Denken und Handeln der Menschen wurde repressiv eingeschränkt. Per Verordnung war auch die Sichtweise auf Gesellschaft und Geschichte vorgegeben und diese gleichzeitig mit einer höheren politische Weihe versehen; man tat es »für den Sozialismus«. In dieser Konstellation brauchte es sowohl Gegensätze und Feindbilder als auch eine strenge Einteilung der Gesellschaft. Diese stellt sich – der Ideologie nach – als ein Zusammenhang dar, in dem gesellschaftliche Gruppen nur als Klassen auftauchen sollen. Jegliches individuelle Moment – sei es die Herkunft oder die Religion – hatte demgegenüber vorerst zurückzustehen. Im Verbund mit der Idee der DDR als »Arbeiter- und Bauernstaat« und dem staatlich verordneten Antifaschismus standen die einzelnen Subjekte also von vornherein auf der politisch »guten« Seite. So konnte es auch unterlassen werden, sich mit dem Anteil der Bevölkerung am Nationalsozialismus und dem Fortwirken ideologischer Bestandteile im individuellen Bewusstsein auseinanderzusetzen, ganz zu schweigen von einer Beschäftigung mit Antisemitismus und Antizionismus. Beides war in der DDR vorhanden. Chaim Noll widmet sich in seinem Beitrag diesem Thema von einer bisher wenig beachteten Seite, nämlich der Literatur. Zwar versuchte sich die DDR vor allem gegenüber der BRD als der Staat zu präsentieren, der seine jüdischen BürgerInnen bevorzugt behandelte, dies blieb jedoch nicht nur auf der Ebene der Literatur eine halbherzige Angelegenheit. Jüdinnen und Juden waren zunächst angehalten bzw. gezwungen, ihre partikulare Herkunft im großen Ganzen aufgehen zu lassen. Darüber hinaus gab es vor allem auf politischer Ebene bald Bespitzelungen jüdischer GenossInnen, die in Parteitribunalen, Abstrafungen und der mehr oder weniger erzwungenen Ausreise jüdischer DDR-BürgerInnen mündete. Der von oben autoritär installierte Antifaschismus bedeutete also auch das Einschwören der Gesellschaft auf eine imaginierte gemeinsame Geschichtserfahrung, in der nicht jede individuelle Biographie Platz hatte. Was sie jedoch keinesfalls bewirkte, war die Verankerung antifaschistischer Grundsätze im Bewusstsein der Menschen. Die dichotome Aufteilung der Welt in Klassen – in Arbeit und Kapital – erlaubte stattdessen, dass auf der Ebene der Ideologie immer wieder eines gegen das andere ausgespielt werden konnte. Dabei wurden Politik und Ökonomie nicht selten durch antisemitische Stereotype bebildert. Spätestens im Hinblick auf die Verhältnisse in Ostdeutschland nach den Ereignissen von 1989/90 liegt die These nah, dass es die Politikform des autoritären Antifaschismus selbst war, die an dieser Entwicklung erheblichen Anteil hatte. Dabei zeigt sich paradoxerweise, dass die Mehrheit der BürgerInnen der aktiven Politik von oben nicht einfach nur passiv gegenüberstand. Viele machten – ob als Stasi-Spitzel oder nicht – die DDR zu ihrer Sache und auch sonst zeigte man Handlungs- bzw.- Stillhaltefähigkeit vor allem im Negativen: Wie hatte es jüngst der ehemalige Boxer Henry Maske in einer Diskussion über die DDR mit fast an Dialektik grenzender Präzision ausgedrückt? Er gehörte – wie die Mehrheit – zu denen, die »nicht aktiv von vielem wussten«.
Das Moment der Autorität findet sich selbstredend auch im wohl wichtigsten Bereich des DDR-Alltags: der Ökonomie. Bereits die Rede vom »Arbeiter- und Bauernstaat« legte ein ganz bestimmtes Verständnis von Gesellschaft nahe, nämlich eines, in dem Produktion sowohl die Basis als auch Rechtfertigung für die herausgehobene Stellung der DDR im Fluss der Geschichte und – so freilich hoffte man – im Weltmaßstab war. Nach innen wiederum bildete Arbeit das vorherrschende Prinzip der Integration der Subjekte in den sozialistischen Alltag. Die Ökonomie der DDR war insofern autoritär, als dass sie rigoros einen wirtschaftlichen Plan durchsetzte. Dabei übersteigerte sich die Annahme, durch Kontrolle, Regulierung und vorausschauende Produktion ließe sich nicht nur das Gemeinwesen versorgen, sondern auch Schritt halten mit der international immer noch ausschlaggebenden kapitalistischen Konkurrenz. Heute gilt die Wirtschaft der DDR – neben allen Hinweisen auf sonstige Ungerechtigkeit – als wichtigster Grund dafür, warum sie zugrunde gehen musste. Damit verbunden ist gleichzeitig die Vorstellung, dass sich damit nicht nur die Überlegenheit des Kapitalismus bewiesen habe, sondern auch seine Alternativlosigkeit. Wenn die Rede vom »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) bis heute einen Sinn im bürgerlichen Bewusstsein behalten hat, dann den, dass nach dem Kapitalismus nichts mehr kommen kann und darf.
Will man der Ökonomie der DDR nicht mit dem – zwar richtigen, aber mindestens ausweichenden – Hinweis begegnen, Fetischcharakter und Wertformanalyse habe man wohl bestenfalls aus dem Sachregister des Kapital gekannt, dann stellt sich die durchaus gewichtige Frage, wie denn eine gerechte Güterverteilung und -produktion in einer nicht-kapitalistischen Welt zu bewerkstelligen wäre. Dazu müsste man allerdings zunächst verstehen, warum der real-existierende Sozialismus als Wirtschaftsprogramm scheiterte. Dieser Frage geht Rüdiger Mats in seinem Beitrag nach. Die Antwort darauf schließt vor allem eine Reflexion über die Bedeutung des Plans für die Wirtschaft ein, also jenes Moment, das in der DDR durchaus autoritär angewandt wurde. Nicht nur, was man wie produzieren musste, wurde von oben entschieden, sondern auch dass man produzieren musste. Wie bereits erwähnt, bestimmte folglich ein rigides und fetischisiertes Verständnis von Arbeit den Alltag. Ideologisch und politisch durchherrschte Gesellschaften lassen eigentlich nur subkulturelle Nischen zu, in denen sich vielleicht ansatzweise ein Stück Freiheit bewahren lässt oder in denen man zumindest kurzzeitig der Erziehung zum neuen sozialistischen Menschen entfliehen kann. Freilich werden auch diese Nischen in der Rückschau oft verklärt: das Bild vom Alltag in der DDR changiert sowohl in den Medien als auch in den Erinnerungen vieler ehemaliger BürgerInnen zwischen Repression und Idylle.
Während das erinnerungspolitische Spektakel um die DDR sicherlich eine kurze Halbwertszeit hat, bleiben die Fragen, die die jeweiligen Spielarten des Stalinismus an eine Linke stellen, zweifelsohne von Bedeutung. Der Plan in der Ökonomie, die Erziehung in der Sphäre der Öffentlichkeit, Zensur und Dogmatik im Bereich von Kultur und Wissenschaft: all das zeigt die autoritären Züge der DDR, mit deren Emanzipationsgehalt es von Anfang an nicht sehr weit her war, wieviel antifaschistische und kommunistische Emphase einzelne Leute dabei auch an den Tag legten. Im wahrsten Sinne zementiert hat sich diese Grundverfasstheit in der 1961 errichteten Berliner Mauer, vollmundig verklärt als »antifaschistischer Schutzwall«. Wahrscheinlicher als eine vermeintliche Bedrohung von außen ist, dass mit der Mauer letztlich der Antifaschismus vor jenen geschützt werden sollte, die ihm entfliehen wollten. Nicht weil von Außen soviel Druck herrschte, musste der Zementwall her, sondern weil es innen knirschte und knarrte. Auf die Bevölkerung bezogen zeigt sich das Ende der DDR deswegen vielleicht weniger im bürgerlichen Aufbegehren, das nach einer Repolitisierung der Gesellschaft rief, sondern in denen, die sich in den achtziger Jahren aus dem Staub machen wollten.
In der modernen Berliner Republik jedenfalls taugt all das höchstens noch zur Doku-Soap und dem erinnerungspolitischen Reenactment. Die Mauer errichtete man dabei ironischerweise aus Dominosteinen, um sie schließlich gemeinsam einzureißen: Politik als Domino-Day. So stellt man sich 2009 die Geschichte vor: als etwas, das, einmal abgestoßen, abschnurrt wie ein Uhrwerk, nicht mehr aufzuhalten ist und schließlich dort ankommt, wo man es hinhaben wollte – vielleicht auch eine Art Ende der Geschichte. Dem etwas entgegenzusetzen bedeutet zunächst dieser Alternativlosigkeit zu widersprechen. Es gilt jedoch gleichermaßen, sich den Fragen zu stellen, die die historische Verwirklichung von politischen Begriffen, wie dem des Kommunismus einer Linken heute aufgibt. Dazu versucht dieser Schwerpunkt der Phase 2 einen Beitrag zu liefern.