Pathologische Lernprozesse

Rostock-Lichtenhagen in offizieller Geschichtspolitik und linker Erinnerung

Wer auf die famose Idee kam, vor dem Rostocker »Sonnenblumenhaus« eine deutsche »Gedenkeiche« zu pflanzen, fragte Thomas Blum in der Jungle World. Bratwurst für die Menschenwürde, Jungle World Nr. 35 vom 30. August 2012. Die Frage lässt sich beantworten: Es war das Rostocker Grünamt. Für die Baumverpflanzung im Spätsommer eignet sich am besten die Gattung Quercus, vulgo Eiche. Gleichwohl ist die Pflege des Baumes, das wissen Gartenprofis, sehr anspruchsvoll und er ist anfällig für Stürme. Auf der Wiese vor dem Rostocker »Sonnenblumenhaus« eine Eiche zu pflanzen, war also auch aus gärtnerischer Sicht alles andere als ideal und doch musste sie her. Vorangegangen war der Empfehlung durch das Grünamt eine Diskussion im Lichtenhäger Ortsbeirat um die adäquate Form des Erinnerns an das Pogrom von 1992. Ein Gedenkstein, kolportierte die Süddeutsche Zeitung, kam nicht in Frage wegen der (vermutlich berechtigten) Sorge, er könne das Ziel von Nazi-Schmierereien werden. Jene Fraktion, die sich mit dem Verweis, das »Sonnenblumenhaus« sei Denkmal genug, gegen ein Monument ausgesprochen hatte, setzte sich nicht durch. Der Baum sollte ein Kompromiss sein. Umgesägt, Süddeutsche Zeitung vom 30. August 2012. Den vorzeitigen Garaus machten ihm weder Sturm noch Wassermangel, sondern »Radikale« (Süddeutsche Zeitung) und »Linksextreme« (Spiegel) unter Zuhilfenahme einer Säge. In einer Mischung aus schlechtem Geschmack, politischer Unprofessionalität und verwaltungsrationaler Banalität hatte die Stadt Rostock vorgelegt – und die Antifa lieferte erwartungsgemäß. 

Am »Gedenken« zum 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen und dessen symbolischer Kulmination im Fall der deutschen Eiche vor dem Plattenbau wird das Elend des bundesdeutschen Konzepts von Aufarbeitung sichtbar. Das Ereignis wirft aber auch ein Schlaglicht auf den aktuellen Zustand der bundesdeutschen Antifa(-bewegung) und der radikalen Linken allgemein. Bei der politischen Deutung der 1990er Jahre, so scheint es, haben sich Positionen, wie sie von linken, bewegungsorientierten Gruppen innerhalb der interventionistischen Linken (iL) vertreten werden, mittlerweile fast unwidersprochen durchgesetzt. Deren Aktionismus steht einer kritischen Befassung mit der (eigenen) Geschichte im Wege, mehr noch: Die Pogrome von Lichtenhagen und anderswo werden für eine gegenwartspolitische Agenda instrumentalisiert.

Das Elend der Aufarbeitung

Allein die Tatsache, dass die Entscheidung über ein Denkmal an das Pogrom von Lichtenhagen einem provinziellen Stadtteilbeirat überlassen wurde, spricht Bände über die geschichtspolitischen Prioritäten der Bundesrepublik. Wo die liegen, zeigt sich im Vergleich mit der Diskussion um die Errichtung eines »Freiheits- und Einheitsdenkmals« zur Erinnerung an die Montagsdemonstrationen von 1989 in Leipzig. Hier beteiligte sich unter anderem eine neunzehnköpfige ExpertInnenkommission an der Konzeption, und eine international besetzte Auswahljury befand in einem mit insgesamt 175 000 Euro dotierten Wettbewerb über die Entwürfe für das Denkmal. http://www.leipzig.de/de/buerger/politik/denkmal/. Ein öffentliches und offizielles Interesse an einer institutionalisierten Erinnerung an die Pogrome der 1990er Jahre besteht hingegen nicht.

Die Leipziger Montagsdemos lassen sich ohne Weiteres zum plebiszitären Gründungsakt des neuen Deutschlands stilisieren. Eine Integration der Pogrome in die Wende-Geschichtsschreibung würde die geschichtspolitischen SchönschreiberInnen jedoch vor eine echte Herausforderung stellen. Hier hat nationale Ideologie Vorfahrt vor dem kritischen Erkenntnisinteresse. Der DDR-Aufarbeitungsbetrieb beispielsweise kapriziert sich in der Hauptsache auf das Anprangern von »DDR-Unrecht«; die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen im realsozialistischen zweiten deutschen Staat (und der Frage, warum er trotz allen Unrechts letztlich so erstaunlich stabil gewesen ist) bleibt dabei, vorsichtig gesagt, oberflächlich. Wo sie stattfindet, beschränkt sich die Analyse differenzbetont auf den historisch abgeschlossenen Fall DDR, eine Kritik des Gegenwärtigen wird nicht abgeleitet. Sehr anschaulich hat diesen Mechanismus zuletzt Tjark Kunstreich an der Kritik der DDR-Jugendhilfe dargestellt. Vgl. »Heimkampagne« 2012, Konkret 8/2012. Zur Frage des Lernens aus der Geschichte hatte freilich schon Hegel Abschließendes gesagt: »Was die Erfahrung […] und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.« 

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Pogromen muss zwangsläufig deren Charakter als Pendant der Montagsdemos zutage fördern: Die gleichen Leute, die 1991ff. in Lichtenhagen, Hoyerswerda und anderenorts angesichts brennender »Ausländerwohnheime« – damit impliziert: brennender Ausländer – johlten und applaudierten, hatten zuvor schon »Wir sind ein Volk«, gebrüllt. Die Pogrome waren kein Ausrutscher, kein Phänomen einer krisenhaften wirtschaftlichen Transformation, keine politische Inszenierung. Das wiedervereinte Deutschland fand mit Lichtenhagen zu sich selbst, oder, wie es die HerausgeberInnen des Sammelbandes »Kaltland« auf den Punkt bringen: »Nichts davon [war] randständig. Alles, was damals geschah, wirkt bis heute in der gesamtdeutschen Gesellschaft nach und wurzelte in den Vorgängergesellschaften von BRD und DDR.« Karsten Krampitz/Markus Liske/Manja Präkels, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Kaltland. Eine Sammlung, Rotbuch Verlag, Berlin 2011, 9-13, hier: 11. Selbstredend stand nicht die gesamte Bundesrepublik in Rostock, Hoyerswerda und Mannheim-Schönau auf der Straße. Auch führte es nicht weit, das Problem zu einem ostdeutschen zu ethnisieren: Die DDR hatte ihre Bevölkerung qua weitgehender Kasernierung der Russen und GastarbeiterInnen aus den sozialistischen Bruderländern zwar vor Kontakten mit »Artfremden« geschützt. Das xenophobe Ausrasten bei der ersten einschlägigen Begegnung ist damit allein nicht hinreichend erklärt. Ob die Pogrome zutreffend als »konformistische Rebellion« Der rassistische Konsens, Jungle World Nr. 34 vom 23. August 2012. der Ostdeutschen charakterisiert sind, sei hier dahingestellt. Fakt ist, dass einmal mehr einige Wenige den Job für die Masse erledigten. Die mochte sich in Ost wie West angesichts des zügellos ausgelebten Ressentiments zwar vielleicht ekeln und gemeinschaftlich eine Kerze entzünden, einen wirklichen Widerspruch jedoch, einen veritablen Aufstand der anständigen BürgerInnen, wie er zu erwarten gewesen wäre angesichts des mordbrennenden Mobs, gab es weder nach den Pogromen, noch bei der Abschaffung des unbeschränkten Asylrechts für politisch Verfolgte, einem »Grundpfeiler des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses«. Krampitz, Kaltland, 11. An dieser banalen Tatsache sollte nach wie vor jede kritische politische Analyse jener Zeit ansetzen.

Lichtenhagen in der linken Erinnerung

Rostock-Lichtenhagen ist für eine Generation von Antifas eine entscheidende Zäsur in ihrer politischen Biografie. Die Bedeutung des Ereignisses an sich für die linke kollektive Erinnerung erscheint dabei zunächst als erklärungsbedürftig. In der Reihe der rassistischen Vorfälle der 1990er Jahre ist Lichtenhagen nur eine von vielen Episoden und als einzigartig erscheint das Ereignis objektiv weder in seiner Dimension noch in seiner Qualität. Bereits 1991 hatten Nazis und deutscher Mob ganze fünf Tage lang unbehelligt in Hoyerswerda wüten können und weitere Pogrome in anderen Städten folgten. Und dass sich die Mord-und-Totschlag-Stimmung jener Zeit nicht nur auf den Osten der Republik beschränkte, bewiesen im Mai 1992 die BewohnerInnen des Mannheimer Vororts Schönau, in dem sie über Tage das dortige Flüchtlingsheim angriffen. Zu Schönau vgl. ausführlich: Matthias Möller, Ein recht direktes Völkchen. Mannheim-Schönau und die Darstellung kollektiver Gewalt gegen Flüchtlinge, Trotzdem, Frankfurt a. Main 2007. Ihre Klimax erreichte jene Phase mit den Brandanschlägen von Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993), denen insgesamt acht Menschen zum Opfer fielen – gleichwohl waren das Einzeltaten und nicht die eines rassistischen Mobs. Sicher spielt das Ausmaß des Rostocker Pogroms ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass es sich nicht in der Provinz, sondern in einer Großstadt abspielte. Auch war von Beginn an die mediale Dokumentation vergleichsweise dicht; im Gegensatz zur Polizei blieben JournalistInnen permanent am Schauplatz präsent.

So sehr ZeitzeugInnenberichte ein Bewusstsein um die historische Bedeutung des Moments suggerieren, dieses Bewusstsein ist doch immer das Ergebnis einer nachträglichen Konstruktionsleistung. Eine Aussage wie die, es habe »eine Antifa-Praxis vor und nach Hoyerswerda und Lichtenhagen« Der rassistische Konsens, Jungle World Nr. 34 vom 23. August 2012. gegeben, lässt sich nur mit einem nötigen analytischen Abstand zu den Ereignissen formulieren. Zu einer wirklichen Zäsur wurde Lichtenhagen erst durch die politische Debatte danach, die sich im Wesentlichen um das Verhältnis von Linksradikalen zur deutschen Gesellschaft drehte. Ein signifikanter Teil der Szene wandte sich damals von interventionistischen Konzepten ab – mit diesem Volk war überhaupt keine Politik, zumindest aber keine Politik gegen Nazis zu machen. Pathologisierend gesprochen ist Lichtenhagen damit für diejenigen, die damals alt und engagiert genug gewesen waren, ein doppeltes Trauma: Es steht sinnbildlich sowohl für eine Ohnmachtserfahrung als auch für die Erfahrung der politischen Spaltung. 

Die erste Erfahrung ist für die nachfolgenden Generationen nicht und die zweite nur bedingt nachvollziehbar. Individuelle Ohnmacht lässt sich, wie jedes andere Gefühl, nicht authentisch reproduzieren. Für eine politische Erfahrung, insofern sie über Fakten und Argumente rationalisiert wird, funktioniert das schon eher. Für eventuelle Lern­erfahrungen und den Prozess des Nachvollziehens ist dabei auch entscheidend, in welchen Figuren die Vermittlung verläuft, davon sind Linke nicht ausgenommen: Die regressive Figur vermittelt autoritär – die Dinge waren schon immer so und im Zweifel war früher alles besser. Die progressive Figur vermittelt selbstreflexiv und erkennt die Bedingtheit eigener Erfahrungen und damit die Bedingtheit ihrer Übertragbarkeit ins Aktuelle an. Umgekehrt bedarf es, neben der Bereitschaft sich überhaupt mit historischen Erfahrungen und deren TrägerInnen auseinanderzusetzen, mitunter auch des Vermögens, ihre Autorität gegebenenfalls zu hinterfragen.

Erinnern ist immer selbstreferenziell, und es führte nicht weit, diesen Umstand zu kritisieren. Problematisch wird es mit Blick auf Lichtenhagen dann, wenn die Opfer rassistischer Gewalt als die von den Pogromen eigentlich Traumatisierten aus dem Blick geraten und die Selbstbezüglichkeit des linken Erinnerns ins Anekdotische oder in Zynismus umschlägt.

Vergebene Chancen

Wie schwierig und voraussetzungsvoll dieser Prozess ist, zeigt sich unter anderem im Umgang mit dem historischen Material. Zentral für das linke Erinnern an Lichtenhagen in diesem Jahr war der Film The Truth Lies in Rostock von 1993. The Truth Lies in Rostock, Dokumentarfilm von Mark Saunders und Siobhan Cleary, Deutschland 1993. Die Dokumentation wurde auf fast jeder einschlägigen Veranstaltung gezeigt, und eine Initiative verteilte nach eigenen Angaben 10.000 DVD-Kopien an Rostocker BürgerInnen. http://www.lichtenhagen-2012.de/index.php?id=22. Einerseits ist der Film ein wichtiges Zeitdokument, das Originalaufnahmen, Interviews mit Betroffenen und damaligen politischen Akteuren auf kommunaler und Landesebene verknüpft. Andererseits ist er in seiner politischen Analyse der Ereignisse äußerst tendenziös, indem er sie im Wesentlichen als Ergebnis des durch die wirtschaftliche Transformation der DDR ausgelösten Frusts in der Bevölkerung und einer politischen Inszenierung mit dem Ziel der Abschaffung des Asylrechts präsentiert. So wird das Pogrom zur Affekthandlung verklärt, und die Fehler und Pannen der damals Verantwortlichen werden nachträglich zu konsistentem politischem Handeln aufgewertet: Die Einrichtung der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) im Stadtteil Lichtenhagen, die schlechte Ausrüstung der ostdeutschen Polizei und die Unfähigkeit der Einsatzleitung, um einige Beispiele zu nennen, werden zu einer Story verwoben, nach der letztlich der Staat das Pogrom verursacht, zumindest aber provoziert hat. Eine solche etatistische Perspektive nimmt einerseits die Menschen aus der Verantwortung für ihr Handeln. Andererseits bleibt sie blind für die drängende Frage danach, wie es in Deutschland immer wieder gelingt, gesellschaftliches und politisches Totalversagen nachträglich zu instrumentalisieren, und zwar zumeist gegen die Opfer. Erklären lässt sich dieser Mechanismus nur ideologisch, als Ausdruck eines nationalistischen gesellschaftlichen Konsens. Die Chance, anhand des Films und vergleichbarer Quellen die Debatte um die politische Bedeutung der Ereignisse zu aktualisieren, verstrich jedoch weitgehend ungenutzt. Lediglich die Gruppe TOP B3rlin nutzte Ende August eine Vorführung des Dokumentarfilms »Wer Gewalt sät – Von Brandstiftern und Biedermännern« Wer Gewalt sät – Von Brandstiftern und Biedermännern, Dokumentarfilm von Gert Monheim, Deutschland 1993. und eine Podiumsdiskussion dazu, ihre Thesen zur Transformation des deutschen Nationalismus in den Jahren 1992ff. vorzustellen.

Eine weitere Chance zur politischen Analyse vergab das Antifaschistische Infoblatt (AIB), das dem Pogrom von Lichtenhagen seine Sommerausgabe widmete. Ein Interview mit »Antifaschist_innen aus Rostock und Berlin«, wohl als Emphatie weckender ZeitzeugInnenbericht gedacht, gerät darin zur recht einseitigen Propagandaveranstaltung für die Bewegungslinke. Nach dem wohl unvermeidlichen Einstieg »Wo warst Du damals?«, lässt die Redaktion des AIB die Interviewten zur Frage ihrer »historischen Verantwortung« Stellung nehmen. Anstatt die Sinnhaftigkeit dieser Frage zu diskutieren, nehmen antifaschistische Allmachtsfantasien freien Lauf, wenn etwa »Erwin« behauptet: »Wenn wir die [Nazis und den Mob, A.W.] damals verjagt und das Sonnenblumenhaus militant verteidigt hätten, wäre die Geschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahre eine andere gewesen.« Es waren nicht die bleiernen Jahre, Antifaschistisches Infoblatt Nr. 95, 2012, 9. Kontrafaktisch wird hier behauptet, eine Intervention in die Rostocker Ereignisse hätte real zu einer Veränderung bundesdeutscher Politik führen können, beispielsweise in der Frage des Asylrechts. Näher an der Faktenlage ist »Karen«, wenn sie meint, entschlossener antifaschistischer Protest hätte damals »einen Polizeieinsatz provozier[en können], der die Situation vor Ort verändert hätte.« Ebd. 10. Die Großdemonstration am Wochenende nach dem Pogrom provozierte diesen Einsatz in der Tat. Hier ließen sich mehrere Tausend PolizistInnen nebst schwerer Technik organisieren, was während des Pogroms anscheinend ein Problem gewesen war. An der »Situation vor Ort« änderte sich jedoch nichts. Im Gegenteil demonstrierten Staat und Kommune eindrucksvoll, wie konsequent sie Bevölkerung und Image gegen linksradikale Störenfriede zu verteidigen bereit waren – ein Muster, das sich in den zwanzig Jahren danach vielfach wiederholt hat.

Wie begrenzt die antifaschistischen Interventionsmöglichkeiten angesichts des rassistisch-nationalistischen Konsenses real waren und sind, verdeutlicht die Antwort von »Olga« auf die Frage nach den praktischen politischen Konsequenzen aus dem Pogrom: »Die Straßen nazifrei […] halten, Gegenwehr organisieren, die politische Aufarbeitung in Rostock vor Ort vorantreiben und eine breit getragene Antifapolitik in Rostock […] etablieren. Wir haben linke bzw. linksradikale Inhalte in die Bündnisse tragen können, haben Räume geschaffen und verteidigt.«. Ebd. Welche Bündnisse und welche Inhalte hier genau gemeint sind, wird nicht weiter ausgeführt. An der aktuellen Initiative »Lichtenhagen bewegt sich«, einer gemeinsamen Veranstaltung der Bürgerinitiative »Bunt statt braun« und des Rostocker Stadtmarketings, ist die aufklärerische Arbeit von links angesichts deren Programm (afrikanische Modenschau, vietnamesisches Vollmondfest für Familien) wohl vorbeigegangen. http://www.lichtenhagen-bewegt-sich.de/sixcms/detail.php?template=seite_stadt_ortsteile_de

Zu den Räumen: Das Anfang der 1990er gegründete Jugend Alternativ Zentrum (JAZ) in Rostock existiert immer noch und ist, wie das Conne Island in Leipzig und vergleichbare Läden in anderen ostdeutschen Städten, ein Kristallisationspunkt für die linke Szene. Die Arbeitsleistung, die hinter diesen Projekten stand und steht, kann gar nicht genug gewürdigt werden (und wird es häufig viel zu wenig). Auch ist der Hinweis wichtig, dass der Status von Leipzig-Connewitz und der Rostocker Kröpeliner-Tor-Vorstadt als faktische No-Go-Areas für Nazis bis zu einem gewissen Grad erkämpft werden musste. Unproblematisch ist dieses Argument dabei auch nicht: Zum einen (re-)produzierte die faktische Polizeifunktion der ostdeutschen Antifa in den Neunziger Jahren eigene Problemlagen – Stichworte Mackertum und Gewaltfetisch – mit deren Bewältigung die Szene bis heute beschäftigt ist. Zum anderen droht die Perspektive der linken Subkultur stets ins Selbstreferenzielle umzuschlagen. Wie zynisch das formuliert werden kann, verdeutlicht der Beitrag von »Paul«: »Wir [entwickelten] einen linken Politikansatz, der auf das Schaffen von Bündnissen und Netzwerken ausgerichtet ist […] auf der Basis einer linken Subkultur funktioniert und eher auf Breite statt auf Abgrenzung setzt. […] Rostock ist ein gutes Beispiel, was damit zu erreichen ist. Das Ereignis Lichtenhagen hat hierfür Räume und Gelegenheiten eröffnet, die es anderswo nicht gab.« AIB, Bleierne Jahre, 10. Übersetzt heißt das: Das Pogrom war die Bedingung der Möglichkeit für linke Subkultur oder, polemisch zugespitzt, die VietnamesInnen mussten gehen, damit die Antifa arbeiten konnte. Und diese Aussage ist nicht einmal falsch. Es gehört zum halboffiziellen Wissen der Rostocker Szene, dass der Staat nach dem Pogrom besonders spendabel war mit ABM-Stellen, Referenzbeispiele aus anderen ostdeutschen Städten ließen sich mit Sicherheit finden. Die Frage danach, was diese Einsicht für eine politische Auswertung der vergangenen zwanzig Jahre – inklusive des »Antifa-Sommers« und der in seiner Folge aus dem Boden sprießenden Beratungs- und Bildungsprojekte gegen »Rechts«, über die sich mittlerweile ein guter Teil der Bewegungskader mit Stellen versorgt – bedeutet, wird freilich weder gestellt noch beantwortet.

Recht eindimensional gerät schließlich auch die politische Hochauflösung. So hätte die Aussage von »Olga«, »vielleicht [hätten] wir viel eher interventionistische Politikansätze durchsetzen sollen, ›no pasaran‹ und ›Dresden Nazi frei‹ sind aktuelle Beispiele dafür« Ebd. 11. zumindest hinterfragt werden müssen – wäre es doch interessant gewesen, zu erfahren, wie sich ausgerechnet aus Lichtenhagen die Rückkehr zur Politik breiter Bündnisse ableiten lässt. Deutlicher und revisionistischer formuliert »Erwin« die Sache: »Wir hätten früher und konsequenter gegen den auf Selbstvergewisserung und Selbstbezüglichkeit ausgerichteten Teil der linken Bewegung opponieren müssen und unseren pragmatischen, auf gesellschaftliche Veränderung gerichteten Politikansatz stärker machen müssen. Diese auf Abgrenzung und Ghettoisierung gerichteten Tendenzen in der radikalen Linken, die ab Mitte der 1990er Jahre sehr stark geworden sind, waren verheerend.« Ebd. Wieder mangels einer Nachfrage durch das AIB bleibt es unklar, welche »Tendenzen« hier gemeint sind. Immerhin verrät der Verweis auf die Dresdener Bündnisse, woher der Wind insgesamt politisch weht: Dresden-Nazifrei und no pasaran wurden als Projekte von der iL initiiert.

Pathologische Lernprozesse

Die Interviewten verfügen aufgrund ihrer ZeitzeugInnenschaft über eine gewisse Autorität in der Debatte. Die wird im AIB, wohl durchaus kalkuliert, für eine geschichtspolitische Agenda in Stellung gebracht. Im Vorbeigehen absorbiert der aktionistische Imperativ dabei die kritische Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte. Jahrelange und bis zuletzt kontrovers geführte Debatten um Sexismus, die Organisierungsfrage oder das Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und den Nicht-Deutschen werden zu »Tendenzen« deklassiert, emanzipatorische Ansätze zur »Selbstbezüglichkeit« degradiert und die Brüche und Widersprüche der linken Historie zu einer linearen Einzelerzählung eingeebnet, die von Rostock-Lichtenhagen ohne Umwege nach Dresden führt. Die Psychoanalyse hält dafür den Begriff des »pathologischen Lernprozesses« bereit, ein »falsches Lernen«, das die Geschichte unkritisch in den Dienst einer vorgefassten Gegenwarts-Agenda stellt. Der Blick zurück wird so selektiv immer nur die Momente betonen, die diese Agenda bestätigen.

Mangels Einspruch oder aus allgemeinem Desinteresse haben bewegungsorientierte Gruppen in der linken Debatte über Lichtenhagen und die Neunziger Jahre momentan eine Art Deutungshoheit, das lässt sich zumindest für Berlin festhalten. Es war im Ton vielleicht übertrieben, in der Sache aber richtig, den OrganisatorInnen der Veranstaltung »Zwischen Aufbruch und Pogromen – Linke Politik Anfang der 90er in Ostdeutschland« Zu der Veranstaltung hatten die Zeitschriften Antifaschistisches Infoblatt, analyse&kritik und telegraph, die Gruppe Avanti – Projekt undogmatische Linke sowie der Verein sobi - soziale Bildung e.V. aus Rostock eingeladen. Ende September in Berlin eine »linksdeutsche« Instrumentalisierung der rassistischen Morde und Überfälle vorzuwerfen. Über Leichen sie gehen, http://www.cafemorgenland.net/archiv/2012/2012_09_12_ueber_leichen_gehen.htm. Gleichwohl blieb dieser Widerspruch ein vereinzelter, auf einer ansonsten gut besuchten Veranstaltung, die neben einigen Anekdoten wenig politische Analyse zu bieten hatte. Die einzige vernünftige Forderung, ausgesprochen von der einzigen Frau auf dem Podium, wer über die Neunziger Jahre rede, dürfe zur Mackerfrage nicht schweigen, wurde lediglich konziliant zu Kenntnis genommen – diskutiert aber wurde sie nicht.

Das Fuchsschwanzdelikt Als Fuchsschwanz wird ein bestimmter Typ Säge bezeichnet. bescherte dem antifaschistischen Einspruch gegen das Rostocker »Bratwurstessen für die Menschenwürde« (Jungle World) eine beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit. Das hatten die vorangegangene Demonstration von 6.000 Antifas Vgl. den Bericht in der Rubrik »In Motion« in diesem Heft. und die vereinzelte Störung des bundespräsidialen Auftritts am Folgetag so nicht vermocht. Mit deutlicher Resignation ließ die Stadt Rostock durch die Sozialsenatorin Liane Melzer öffentlich verlautbaren, die Stadt lese das Absägen der Eiche als ein Zeichen dafür, »dass der Aufarbeitungsprozess noch längst nicht beendet ist.« Auch in Zukunft müsse man damit leben, »dass Lichtenhagen […] als Plattform für Diskussionen um Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Asylpolitik« diene. http://rathaus.rostock.de/sixcms/detail.php?id=37706&_sid1=260&_sid2=291&_sid3=292. Bei der Kritik, auch von links, Vgl. beispielsweise: Mein Freund, der Baum. In: Jungle World Nr. 36 vom 6. September 2012. an der Aktion blieb ein heikler Punkt unberücksichtigt. Einmal mehr wurde mit der Behauptung, die Eiche sei ihnen ein »Schlag ins Gesicht«, https://linksunten.indymedia.org/de/node/66240. die Perspektive der von den Pogromen Betroffenen für politische Zwecke instrumentalisiert. Vorher gefragt hatte sie vermutlich niemand – im Zweifel geht die Tat eben doch über den Zweifel. Falls es daneben so etwas wie eine Lehre aus der Geschichte gibt, sie wäre für Lichtenhagen in 2012 dieselbe wie 1992: So lange in Deutschland Bäume oder Gras über Leichen wachsen sollen, ist die Zeit für Schulterschlüsse noch nicht reif. 

Von Anton Welm.