Eine linke und christliche Position, die zugleich Widersprüche im Verhältnis der Linken zum Christentum aufzeigen kann, ist nicht leicht zu finden. Im Umfeld des christlichen und radikal linken Befreiungstheologischen Netzwerks stießen wir auf Paul Martin. Paul ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg, zuvor arbeitete er als Pfarrer, Religionslehrer und Hochschuldozent in Leipzig. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler 1989/90 studierte er ab 1995 in Berlin Theologie und Philosophie. Er versteht sich als Christ, Anarchist, Teil der emanzipatorischen Linken und ist bei Leipzig nimmt Platz aktiv. Die Phase 2 sprach mit ihm über linke Ressentiments gegenüber gläubigen Menschen, wie das Christentum und linke Politik zusammenhängen und welche Rolle die Kirchen in der linken Bündnispolitik spielen.
Phase 2: Als wir den Schwerpunkt in der Redaktion diskutiert haben, teilten wir die Meinung, dass es innerhalb der Linken Vorbehalte gegenüber linken Christ:innen gibt. Kirche und Glaube stehen nach Ansicht vieler nicht für etwas Emanzipatorisches. Hast du diese Kritik schon bekommen bzw. diese Erfahrung schon mal gemacht?
Paul Martin: Ja, ich habe die Erfahrung gemacht. Ich besitze ein T-Shirt der »Antifaschistischen Kirchen«. Wenn ich das bei Demos trage, werde ich gefragt, ob das ein Witz sei. Wenn ich sage, dass ich Christ bin, sogar noch Theologe und als Pfarrer arbeite, wird es ganz schwierig, da ich unter einem Generalverdacht stehe. Selbstkritisch würde ich sagen: Das Christentum ist in dem, was wir als christliches Abendland titulieren, natürlich die vorherrschende Religion gewesen, die die Rolle übernommen hat, Macht zu legitimieren. Das ist eine fundamentale Aufgabe von Religion. Dadurch ist es auch für eine Vielzahl von Missständen verantwortlich, denen es nicht widersprochen und die es teilweise legitimiert hat. Es gab immer subversive Gruppen, die versuchten, das zu unterlaufen. Das ist auch ein wesentliches Element von Religion. Aber insgesamt war das Christentum über weite Strecken auch eine ziemlich traurige Angelegenheit. Dass da ein Ressentiment vorhanden ist, kann ich sehr gut verstehen.
Das Zweite, was mir auffällt: Die Linke und die christliche Religion sind beide Erlösungsideologien. Dadurch befinden sie sich in einer gewissen Konkurrenzsituation. Es ist manchmal auch ein bisschen bequem, etwas zugunsten der eigenen Position abzuqualifizieren. Ein fundamentales Problem an der Stelle ist, dass das Christentum eine Erinnerungskultur und auch eine Schuldgeschichte hat, derer es sich selbst sehr bewusst ist, während viele linke Kreise denken, dass mit ihnen die Geschichte anfängt. Sie können sich ganz einfach davon distanzieren, was vorher war. Sobald Ideologien oder Religionen die Möglichkeit bekommen, ihre Vorstellungen mit Macht und Gewalt durchzusetzen, neigen sie dazu, dies zu tun – um der guten Sache willen, für die sie kämpfen. Das war beim Christentum nicht anders als bei den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im letzten Jahrhundert. Das ist in ihrer Logik angelegt und ein Problem. Weshalb das Ressentiment vielleicht auch so ein bisschen eine Art Selbstschutz vor der eigenen Geschichte ist. In der Abwertung der anderen Position kann man sich gut davon absetzen.
Das Dritte ist, dass doch eine sehr eurozentristische Perspektive auf das Christentum dominiert, gerade in der europäischen Linken. Das Christentum ist in einem Teil der Erde entstanden, der damals Palästina genannt wurde, heute Israel. Es hat sich in vielen Erdteilen etabliert und spielt nicht immer die gleiche Rolle, die es in Europa oder Deutschland spielt. Nach Lateinamerika kam das Christentum zwar durch die Kolonisation und es hat dort eine sehr problematische Geschichte. Aber aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie kommen Ansätze, die ich mit großem Respekt betrachte: Da kommen die egalitären Elemente zum Tragen, die im Christentum ursprünglich angelegt waren. Das Christentum spielt in anderen Erdteilen durchaus eine subversive Rolle gegen Gewalt. Das kommt aber in unseren Diskursen nicht vor, weil wir das Christentum als eine europäische Sache erleben. Diese Verengung des Blicks ist problematisch, aber nicht untypisch.
Ernst Bloch leitet Atheismus im Christentum mit der paradoxen Formulierung ein: »Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, nur ein Christ kann ein guter Atheist sein.« Er sagt sinngemäß, wir könnten aus dem Christentum die radikalen Ideen retten, um sie für eine materialistische Sache einzusetzen. Braucht es umgekehrt diese radikale christliche Position, um auch eine radikale linke Position einnehmen zu können?
Das kann ich schwer einschätzen. Wir leben im Schatten einer Tradition, der wir nicht entkommen. Die Brille, die wir aufhaben, ist die der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums in Europa. Von daher spielt das Christentum auch in unseren kommunistischen Vorstellungen wahrscheinlich eine viel größere Rolle als etwa in China, wo andere Traditionen wichtig sind. Was wir machen können, ist: Wir können die Traditionen genauer anschauen, um ihre emanzipatorischen und herrschaftskritischen Impulse gegen die bürgerlich-normativen Vorstellungen zu stellen.
Wenn wir uns die Geschichte der jüdisch-christlichen Tradition anschauen und den ersten Schöpfungsbericht lesen, finden wir einen fulminanten Auftakt. Da geht es nicht darum, wie die Welt in sieben Tagen entstanden ist. Es ist ein Mythos, der die Welt erklärt, in der die Menschen leben. In dem Fall ist es ein Anti-Mythos, in dem sich die Besiegten gegen die Sieger der Geschichte wehren. Das ist eine witzige Geschichte: Am Anfang macht Gott das Licht an, damit er überhaupt etwas sieht. Am vierten Tag erschafft er Sonne, Mond und Sterne. Woher kommt in den ersten drei Tagen das Licht? Niemand weiß es. Das interessiert auch nicht, weil es um etwas anders geht. Warum werden die Sonne, der Mond und die Sterne erst am vierten Tag gemacht? Die Israelit:innen saßen damals in Babylon. Babylon war ein Weltreich, die imperiale Macht, in der die Götter durch Sonne, Mond und Sterne repräsentiert wurden. Und genau diese Repräsentant:innen der Macht werden durch die Geschichte degradiert und delegitimiert. Dass sie in dieser Schöpfungserzählung erst am vierten Tag geschaffen werden, zeigt, dass die Macht der Babylonier:innen vermittelt durch ihre Symbole im Dienst des abrahamitischen Gottes stehen – also der Besiegten.
Dazu kommt in der Tradition Israels eine radikale Kritik von Macht und Herrschaft. Macht wird so sakral gedacht, dass niemand den Anspruch auf Macht haben darf. Jeder und jede Machthabende greift eigentlich in den Bereich Gottes ein. Und diese Destruktion von Macht und Vorstellung von Anarchie sind auch im Kommunismus sichtbar. Wenn wir uns klar machen, dass es hier eine ideengeschichtliche Kontinuität der Ablehnungen von Macht gibt, weil Macht zerstörerisch ist, dann können wir uns vielleicht viel freier miteinander über Bündnisse verständigen, ohne Angst haben zu müssen, in Konkurrenz zu stehen. Dann können wir viel voneinander lernen. Es ist für mich als Christ leicht, mit Leuten zu reden, die antikapitalistisch denken und nicht christlich sind. Vielleicht ist es im gegenseitigen Diskurs wirklich befreiend zu sagen, wir haben gemeinsame Ideen, wir müssen nicht alles teilen, aber wir haben ein gemeinsames Ziel und das ist eine solidarische Gemeinschaft. Das ist eine grundchristliche Idee, auch wenn die Kirchen nicht viel dazu beigetragen haben. Wir müssen die Machtfrage stellen, die Macht muss delegitimiert werden, weil nur Gott oder nur das Unverfügbare Macht haben darf. Dann wäre es auch möglich, die Diskurse anders zu führen. Solange es aber um Machtdiskurse geht – und ich glaube, dass innerhalb der Linken ganz viele Machtdiskurse stattfinden –, wird es schwierig. Das ist zumindest meine Überzeugung. Deshalb bin ich auch Anarchist.
Was erwiderst du auf den Vorwurf, dass gläubige Menschen nicht rational seien oder nicht fähig, kritisch zu denken, weil Glaube aus einer aufgeklärten Position nicht einleuchtend ist?
Im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant, dass Gott für die reine Vernunft nicht erfassbar sei. Aus der Unbeweisbarkeit Gottes ergibt sich die Unbeweisbarkeit seiner Nicht-Existenz. Damit, so Kant, sei dem Atheismus die Wurzel abgeschnitten. Ein theoretischer oder wissenschaftlicher Atheismus ist in dem Sinne nicht möglich – ein Theismus ebenso wenig. Diese Vorstellung ist sehr spannend, weil das einem solchen linken Vorurteil die Stirn bietet. Wir alle leben mit Überzeugungen, die wir nicht begründen können. Wir können Gründe für unsere Überzeugungen angeben, aber die Gründe können wir nicht begründen. Wenn Gott als Letztbegründung genannt wird, habe ich entweder einen Nullpunkt erreicht oder ich besitze schon eine fertige Gottesvorstellung. Streng genommen ist in dieser philosophischen Tradition Gott nur als der Nullpunkt anzusetzen, von dem alle Begründungen ausgehen. Ich kann auf diesen Nullpunkt verzichten, dann verzichte ich aber auf den letzten Grund. Wenn ich sage, dass ich an Gott glaube, sage ich damit eigentlich nur, dass meine Vorstellungen von der Welt an einen Punkt stoßen, den ich nicht weiter begründen will, weil ich ihn ohnehin nicht begründen kann. Zumindest wüsste ich nicht, welches Prinzip da in Anschlag kommen sollte.
Mit dem Materialismus ist dieses Bedürfnis nach Letztbegründung ja ausgehebelt: Wir haben nichts anderes als den Menschen in der Natur, als das, was wir erfahren, und auf das wir uns intersubjektiv verständigen können. Um in einer marxistischen Geschichtsphilosophie die Unterdrückung der Menschen durch Menschen und in ihren Arbeitsverhältnissen zu begreifen und zu kritisieren, brauche ich aber nicht noch die Frage, ob die Unterdrückenden oder die Unterdrückten gläubig sind. Diese Kritik kommt ohne diese Letztbegründung und ohne Transzendenz aus.
Ich bin ganz auf Eurer Seite. Die Frage ist aber: Wie begründe ich gesellschaftliches Handeln? Aus der Natur heraus ergibt sich das überhaupt nicht. Ich habe schon Überzeugungen, die ich mitbringe, beispielsweise die prinzipielle Gleichheit aller Menschen. Die ist etwa in der Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen angelegt. Was kann der Materialismus begründen? Der Materialismus kann nur beschreiben, woraus die Welt zusammengesetzt ist. Aber wie ich in dieser Welt handeln sollte, das kann er eben nicht erklären. Warum soll es nicht auch eine Ideologie geben, die Unterdrückung gut findet? Nicht, dass es die nicht gab, die gibt es ja permanent. Wenn ich begründen sollte, warum alle Menschen gleich sein sollen, dann würde ich mich auf diesen Punkt zurückziehen. Nicht, weil ich glaube, dass Gott den Menschen so oder so gemacht hat, sondern dass mit der Aussage der Ebenbildlichkeit aller Menschen mit Gott eine prinzipielle Gleichheit postuliert ist, hinter die ich als Christ nicht zurück kann. Wenn andere Christ:innen etwas anderes sagen, dann würde ich sie unter Erklärungszwang setzen wollen. Aber wenn Nicht-Christ:innen die Gleichheit aller Menschen anders begründen, finde ich das völlig legitim.
Was sind denn die Gemeinsamkeiten von linken Positionen mit christlichen? Ist es damit getan, wie du das gerade beschrieben hast: Uns eint gewissermaßen die Geschichte des humanistischen Menschenbilds, das ebenso für Marx wie auch für Bloch oder den atheistischen Humanismus gilt? Und kann nicht trotzdem auf diese Geschichte bzw. Tradition verzichtet werden? Für die Überzeugung, dass wir als Menschen gleich sind, brauche ich nicht noch eine andere Instanz.
Die Linke, wie wir sie in Europa kennen, ist ein Kind des Christentums. Die europäische Geistesgeschichte lässt sich letztlich von bestimmten Vorstellungen nicht trennen. Begriffe und Ideen haben eine Geschichte. In diesem Zusammenhang blickten erst kürzlich einige Bücher auf unser ganzes gesellschaftliches Verhältnis, die Entwicklung des Patriarchats und die Entwicklung der Geldwirtschaft zurück. Der Evolutionsbiologe Carel van Shaik und der Literaturwissenschaftler und Historiker Kai Michel greifen zum Beispiel in dem Buch Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern den Adam-und-Eva-Mythos auf und verorten ihn geschichtlich in der Zeit der Sesshaftwerdung und des entstehenden Privateigentums. Auch in David Graebers Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre spielt das Christentum natürlich eine Rolle, da es in dieser Entwicklung lange Zeit (2.000 Jahre) prägend war. Wenn wir uns klar machen, dass Begriffe sich zwar verändern, aber an eine geschichtliche Kontinuität andocken, zu der auch der christliche Glaube gehört, können wir auch Gemeinsamkeiten im christlichen Glauben und in linken Positionen besser verstehen.
Wenn jemand nicht an Gott glaubt, ist das für mich überhaupt kein Problem, solange es für diese Person kein Problem ist, dass ich an Gott glaube. Ich will ihr damit ja nichts Böses tun. Für mich ist das die Überzeugung, dass das Leben einen Sinn und ein Ziel und einen Zweck hat, und dass dieser Zweck nicht in mir selbst liegt.
Ist der Glaube dann nunmehr eine private Meinung, die vielleicht allein einer Sinnhaftigkeit dient?
Ich kann immer nur für mich sprechen. Religion hat für mich den Zweck, dass Menschen sich in einem Sinnzusammenhang verstehen und soziale Verantwortung übernehmen. Ich als Christ fühle mich vor Gott verantwortlich und zwar vor Gott als dem Unverfügbaren. Unverfügbar meint, dass ich eben auch nicht mit meinem Glauben über Gott verfüge. Es gibt in der Philosophiegeschichte die Idee der negativen Theologie: Man kann von Gott nichts sagen, Gott ist das, was vollkommen jenseits der Begriffe und daher auch nicht als Machtmittel zu gebrauchen ist. Das hat das Christentum leider nicht richtig durchgezogen, obwohl die Idee mal da war. Es gibt etwas Unverfügbares, dem ich sozusagen nicht entgehen kann, was mich dann beispielsweise auch zu bestimmten Sachen nötigt.
Als konkretes Beispiel: Die Kirchen haben das große Privileg in Deutschland, dass sie Kirchenasyle durchführen dürfen. Es gab mal die Idee des Bürgerasyls. Aber der Staat kann kein Interesse daran haben, wenn alle Menschen privat das Recht missachten dürften. Das Asylrecht wurde den Kirchen zwar zugestanden, aber es gab einige Fälle, in denen Kolleg:innen dann doch inhaftiert wurden oder sich verantworten mussten. Ich habe drei Kirchenasyle durchgeführt und mich damit angreifbar gemacht. Das ist meine Verpflichtung vor jemandem, der unverfügbar ist, vor dem ich mich aber trotzdem nicht drücken kann. Dieses Unverfügbare ist der eigentliche Freiheitspunkt. Ich muss das nicht Gott nennen, sondern kann auch Gewissen dazu sagen – wobei das ein problematischer Begriff ist. Wenn ich Gott als das letzte Unverfügbare verstehe, dem ich mich nicht entziehen kann, bedeutet das für mich mehr als beispielsweise der Staat oder als das positive Recht. Das ist der Punkt, um den es geht: Ich bin vor Gott verantwortlich und aus dieser Verantwortung kann ich keine Normativitäten für andere ziehen. Religion ist immer gemeinschaftsorientiert. Das heißt, ich bin immer in Gemeinschaft derer, die ebenfalls vor dieser Verantwortung und dann auch in einem Diskurs miteinander stehen. Das ist in der nicht-religiösen Linken ein bisschen schwieriger, weil da die Ideologie bei vielen eine ganz andere Rolle spielt. In der Linken ist das Abweichen teilweise viel problematischer. Die Unbarmherzigkeit erlebe ich hier viel schlimmer, im Ausschluss leicht abweichender Meinungen zum Beispiel. Aber könnten wir nicht alle falsch liegen und könnten wir nicht alle vielleicht mal einen Schritt zurückgehen und noch mal nachdenken und nachfragen? Wo ist dieser Aspekt der Barmherzigkeit miteinander? Ich würde mir manchmal ein bisschen von diesem Moment, das es in der religiösen Linken gibt, auch in der Linken im Allgemeinen wünschen.
Du hast ja jetzt selbst angedeutet, dass Du eigentlich nicht den Begriff Gottes brauchst, um ein Menschenbild als Grundlage politischen Handelns zu postulieren. Auch beim Kirchenasyl scheint die philosophische Begründung wenig wichtig. Vielmehr ist es ein Privileg der Institution, die man auch als bloßes Vehikel begreifen könnte. Die Ursachen, warum es des Asyls jedoch bedarf, sind Ungerechtigkeiten, die seit jeher in der Theodizeedebatte diskutiert werden, also in der Frage, wie es einen vermeintlich guten Gott geben kann, wenn er eine so ungerechte Welt erschaffen hat. Was ist das für eine »unverfügbare« Instanz, wenn sie diese Welt zulässt?
Ja, die Theodizee ist in gewisser Weise die offene Frage an die Sinnhaftigkeit und Gerechtigkeit der Welt. Die Theodizeefrage ist eine philosophische, keine religiöse oder keine theologische Frage. Sie wird immer dort vorgebracht, wo man eigentlich auch die Antrophozideefrage stellen müsste. Wenn wir fragen: »Wenn es Gott gibt, warum lässt er dann Kriege zu?«, könnte ich genauso entgegnen: Warum lassen wir Kriege zu? Warum lassen wir die Notwendigkeit zu, dass es Kirchenasyl überhaupt geben muss? Warum sind wir als Zivilisation nicht in der Lage, wirklich zivil miteinander umzugehen? Warum hat sich in Westeuropa eine Ideologie durchgesetzt, die uns an die Grenze des Verkraftbaren bringt? Diese ganze kapitalistische Ideologie ist hier im Westen entstanden.
Du hast bereits erwähnt, es gäbe immer auch ein subversives Element in der Religion. Das Frühchristentum wird ja gerne mit Etiketten wie Urkommunismus oder Anarchismus belegt. Wie akkurat sind die Etikettierungen?
Den Begriff des Anarchismus gab es zu dieser Zeit so natürlich noch gar nicht. Es gibt bei Aristoteles die Vorstellung: Wenn die Sklaven keine Herren mehr hätten, würde Anarchie herrschen. Jacob Taubes redet im Blick auf bestimmte Traditionen im Juden- und Christentum von einem theokratischen Anarchismus. Das scheint sich erstmal zu widersprechen, Theokratie und Anarchismus. Aber der Grundgedanke ist der: Gott als absoluter Nullpunkt der Macht. Es gibt keinen Mittler zwischen Gott und allen anderen. Damit wird durch Gott alle Herrschaft delegitimiert. Diesen Zug gibt es im Alten Testament schon, als zum Beispiel in der Richterzeit ein König etabliert werden soll. Der König ist nicht der Inbegriff oder die Repräsentanz Gottes, sondern der König ist der Widersacher Gottes. Diese Idee setzt sich allerdings geschichtlich nicht durch. Die Vorstellung, dass jede Macht eigentlich eine Infragestellung der Macht Gottes ist, bleibt jedoch innerhalb des jüdischen und dann auch des christlichen Denkens immer untergründig bestehen. Herrschaft ist Widerspruch gegen Gott. Das steht quer zu allen anderen Traditionen, in denen der Herrscher immer in die Nähe des Gottes gerückt wurde. Das frühe Christentum ist eine Bewegung, die den Gedanken des Anarchistischen innehat, dort gibt es noch keine Machtstrukturen, auch keine Institution. Auf dem Apostelkonzil zu Jerusalem um 48 nach unserer Zeitrechnung wurden strittige Fragen verhandelt. Das verlief, wie man es sich beim Plenum vorstellt: Es wird Mitternacht oder gegen drei und irgendwann finden sie eine Aussage, der alle zustimmen können. Keinen Kompromiss, sondern einen Konsens. Diesen Konsens begründen die Apostel als Gottes Willen: »Es hat uns und dem heiligen Geist wohl gefallen«. So wurde die konsensuale Einigkeit zum Ausweis des Wirkens des Geistes Gottes gemacht. Und das ist natürlich ein anarchistisches Prinzip: Niemand beherrscht die anderen, auch die Mehrheit beherrscht nicht die anderen, sondern man findet einen Punkt, dem alle zustimmen können.
Mit einer gewissen inneren Notwendigkeit hat sich diese Bewegung irgendwann institutionalisiert. Das ist das große Problem aller Bewegungen, die ursprünglich basisorientiert und anarchistisch anfangen. Im Falle des frühen Christentums war es die Versorgung der Armen. Alle sollten eigentlich immer genug bekommen. Aber irgendwie wurden immer die gleichen vergessen, immer die, die irgendwie fremd waren. Dann haben sie überlegt, wie dem entgegnet werden könnte. Es wurde eine Institution gebraucht, die dafür sorgte, dass es gerecht zugeht, was wiederum dem anarchistischen und gemeinwohlorientierten Ideal entgegenstand. Das war im Prinzip der Sündenfall des frühen Christentums. Dieses Dilemma sehen wir auch in der marxistischen, insbesondere in der anarchistischen Tradition. Auch in anarchistischen Kommunen wird man irgendwann dazu übergehen müssen, Dinge zu institutionalisieren, um sie zu organisieren. Diese Institutionen dürfen nicht zu mächtig werden. Das ist im Christentum aber passiert, mit einer inneren Logik und mit einer inneren Notwendigkeit. Genauso wie das im Sozialismus nach den Revolutionen stattgefunden hat. Um die Probleme zu bewältigen, bedurfte es einer Verwaltung, die recht schnell ein Eigenleben entwickelt hat – mit den bekannten Folgen. Das ist für mein Empfinden das Hauptproblem: Wie halten wir die Idee lebendig? Das hat das Christentum einfach nicht gepackt und daraus ist dann der Machtapparat Kirche geworden. Ich habe starke Sympathien, wenn sich Menschen gegen dieses Christentum engagieren, weil es hochgefährlich ist.
Du sagst, diese innere Notwendigkeit sei jeder Institutionalisierung inhärent. Jede vielleicht als Idee menschenfreundliche Haltung wird durch Organisation korrupt, weil die Menschen so sind. Gibt es nicht auch Maßnahmen, die dieser Entwicklung entgegenwirken können?
Es braucht von früh an Kontrollinstanzen, die jede weitere Institutionalisierung noch mal kritisch hinterfragen. Das ist das, was wir gerade in Sachsen versuchen. Wir wollen eine unabhängige Beschwerdestelle für die Polizei, die nicht von der Polizei selbst gemacht ist. Wir können darüber diskutieren, ob es die Polizei braucht oder nicht. Wir haben sie und sie hat sehr viel Macht und Befugnisse, und jedes Mal, wenn etwas passiert, wird das innerhalb der eigenen Institution kontrolliert. Das Ergebnis ist meistens nicht so überraschend. Genauso ist es, wenn die katholische und evangelische Kirche ihre eigenen Missbrauchsfälle aufklärt. Wir wissen aus der Institutionentheorie, wie so etwas läuft. Gerade weil wir Menschen kennen, braucht es wirkliche Kontrollinstanzen. Das ist in der Kirche innerhalb des Apparats nicht geglückt. Aber innerhalb des Glaubenskosmos gab es immer wieder solche Gruppen. Es gab ein Ideal, das man dem Faktischen entgegenhalten konnte und an dem das Faktische sich auch immer messen lassen musste. Deshalb gab es immer solche kleinen revolutionären und subversiven Gruppen, die mal stärker, mal weniger stark waren und unterschiedlich mit der Institution Kirche umgegangen sind. Die franziskanische Bewegung wurde mit großer Dramatik von der Institution geschluckt. Eine Laienbewegung wie die Waldenser hat sich nicht schlucken lassen, aber sie ist fast vernichtet worden. Es stellt sich die Frage, wie eine subversive Bewegung am besten auf die Institution wirken kann – oder ob sie sich ihr in letzter Konsequenz verweigern muss.
Auch im 20. Jahrhundert gibt es eine Reihe christlicher linker Bewegungen, die sich subversiv oder antagonistisch zum Staat verhalten, beispielsweise die Bekennende Kirche oder vor allem die Befreiungstheologie. Welche Bedeutung haben diese Strömungen innerhalb der Kirche?
Die Befreiungstheologie ist natürlich sehr stark in Lateinamerika. Sie konfrontiert das Idealbild, das wir hier, beispielsweise wenn wir die Evangelien lesen, immer wieder vorgesagt bekommen, das aber mit dem Gegebenen überhaupt nicht mehr übereinstimmt. Irgendwann haben Priester angefangen, sich gegen diese Perversion des Lebens zu wehren und mit den Leuten gemeinsam etwas zu machen. Das ist eine extrem basisorientierte Bewegung gewesen, in der die Theologen – muss man ungegendert sagen – dann auch weitgehend auf eigene Meinungen verzichteten und sagten, wir sind die Stimme des Volkes, weil wir eine Stimme haben: Wir können lesen und schreiben und wir können uns artikulieren. Wir sagen aber nicht das, was wir denken, sondern wir sagen das, was das Volk denkt. Da gab es revolutionäre Bewegungen, die Gewalt als Mittel akzeptierten, und andere, die das nicht gemacht haben. Aus Rom ist es immer sehr kritisch betrachtet worden. Dazu gehört in gewisser Weise auch, was die katholische Kirche in Polen getan hat. Polen war das erste sozialistische Land, das gekippt ist, weil dort die katholische Kirche so stark blieb, dass die Staatsideologie nicht so ohne Weiteres durchgesetzt werden konnte. Problematisch ist natürlich, dass die Kirche dort sehr schnell einen nationalistischen Einschlag bekommen hat. Das ist auch ein Phänomen, das wir an Irland beobachten können. Es besteht immer die Gefahr, dass solche Bewegungen nationalistisch werden. In Lateinamerika stand jedoch die egalitäre und solidarische Gemeinschaft im Vordergrund.
Die Bekennende Kirche hingegen bestand zum großen Teil aus konservativen, teils nationalistischen Theolog:innen. Die Bewegung war nicht so sehr auf Egalität, Herrschaftsfreiheit und Solidarität aus, wie wir uns das heute vielleicht manchmal wünschen würden. Sie waren wichtige Oppositionelle und ich habe großen Respekt vor vielen, die sich in Lebensgefahr gebracht haben und zu Märtyrer:innen wurden. Aber sie handelten nicht aus einer linken oder egalitären Perspektive, sondern waren einfach gegen Nazis. Sie war also erst mal keine linke Bewegung, wie das die Befreiungstheologie ohne Zweifel ist.
Die Kirche in der DDR bot einen Schutzraum gegen Repressionen und spielte mit den Friedensgebeten eine Rolle beim Zusammenbruch der DDR. Wie lässt sich diese historische Rolle beschreiben und welche Bedeutung hat die Erfahrung der DDR für die Kirchen heute?
Die Rolle der Kirche in der DDR ist auch viel Folklore. Die Kirchen waren in den Staat eingebunden. Sie waren systemstabilisierend, indem sie einen gewissen Druck aus der Gesellschaft genommen und Orte der Freiheit ermöglicht haben, die natürlich dennoch strikt kontrolliert wurden. Von daher waren sie ein Teil des Ganzen. Allerdings waren sie eben auch ein Heterotop. Dort waren Dinge möglich, die woanders nicht möglich waren, Punkkonzerte, Hippie-Konzerte. Was die Kirchen wertvoll gemacht hat: Sie waren wichtige Andockstationen, in denen eine Idee von einem anderen Leben entstehen konnte. Sie waren Denkräume, wo die Selbstkontrolle nicht so zügig einsetzte. Viele der Leute, die aus dieser Bewegung kamen, sind mit einer gewissen Skepsis gegenüber dem Staat behaftet geblieben. Das zeigt sich heute mitunter auch negativ, weil sich einige aus dieser Haltung heraus in neurechten Bürgerbewegungen engagieren oder im Verschwörungsmilieu unterwegs sind.
Die Kirchen haben es verpasst, den Status der Vermittlung beizubehalten, und sind sehr schnell wieder auf die Seite der Verwaltenden gewechselt. Viele aus der Generation, die in DDR-Zeiten schon als Pfarrer:innen gearbeitet haben, haben sich mehr Distanz und Freiheit gewünscht. Sie wollten keine Militärseelsorge, keine Polizeiseelsorge, sondern das Kirchenasyl viel stärker ausbauen. Aber da ist die Kirche natürlich den konsequenten Weg in die Institution gegangen.
Für uns als linke Christ:innen ist es hier schwierig. Es gibt in Sachsen drei, vier Pfarrer:innen, die sich vielleicht als linksradikal bezeichnen würden. Ansonsten gibt es so eine links-grün-SPD-Affinität, bis hin zur CDU. Aber auf keinen Fall gibt es in Sachsen eine linkslastige Kirche. Von daher sind die Kirchen wirklich ein repräsentativer Querschnitt dessen, was wir gesamtgesellschaftlich erleben. Aber: Die Kirche ist die letzte Institution, in der milieu- und generationsübergreifend miteinander geredet wird. Selbst die Volksparteien bilden das nicht mehr so ab und das macht das Vermittelnde aus. Weshalb ich auch bei einer Kirchenkritik immer ein bisschen vorsichtig bin – auch wenn sie sehr berechtigt ist. Es braucht jedoch solche Institutionen, damit eine Gesellschaft nicht vollkommen auseinanderfällt.
Würdest Du trotzdem sagen, antifaschistische oder antirassistische Positionen sind in der Kirche marginal?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Die Kirchen sind schon relativ klar und der Widerstand gegen rechte Positionen geht ganz oft auch von den Kolleginnen und Kollegen aus. Ich habe eine Studentin gehabt, die als Pfarrerin in ein Dorf gekommen ist, wo 40 Prozent AfD gewählt haben. Dort als Pfarrerin antifaschistische Arbeit zu machen ist natürlich etwas ganz anderes, als wenn ich hier in Leipzig sitze. Was Kirchen da an Zivilisatorischem leisten, das finde ich in der Linken auch viel zu wenig reflektiert – bis zu dem Punkt, dass ein Superintendent beim Rechtsrock-Konzert in Themar mit seinem Talar und mit einem großem Schild »schwarzer Block« da stand. Er setzt sich damit einer fundamentalen Kritik aus. Davon gibt es viele. Es wird in der Linken nicht gesehen, dass die Kirchen nicht so ohne Weiteres an Sitzblockaden teilnehmen können. Aber was sie jeden Tag vor Ort leisten, das nötigt mir Respekt ab.
Du siehst es als unbedingt notwendig an, dass auch Linke in den Kirchen sind. Einerseits um innerkirchliche Kämpfe zu führen, andererseits um eine zivilgesellschaftliche Bündnispolitik breiter gestalten zu können, als die Linke es vielleicht hinkriegt?
Ich merke das bei Leipzig nimmt Platz. In diesem Bündnis sind SPD, Die Grünen, kommunistische und sozialistische Gruppen, Vertreter:innen der Kirchen. Es gelingt uns eigentlich immer, einen breiten zivilgesellschaftlichen Widerstand auf die Beine zu stellen, der anknüpfungsfähig für verschiedene Milieus ist. Das finde ich unabdingbar wichtig. Denn bloß weil jemand nicht eine radikal linke Positionen bezieht, muss er oder sie nicht gleich ein schlechter Mensch sein. Natürlich wünschen wir uns eine solidarische Gesellschaft. Aber es gibt ja darunter auch noch die Dinge, die uns mit vielen anderen Menschen verbinden, beispielsweise dass Nazis keine Chance bekommen. Ich glaube, dass die Kirchen hier einen wichtigen Beitrag leisten können. Es gibt auch sehr rechtslastige Kolleg:innen, aber in der großen Mehrzahl sind die Kirchen als Bündnispartner an vielen Stellen wirklich wichtig und eigentlich auch attraktiv. Im Verhindern von dem, was droht, bin ich auch gerne bereit, mit CDU-Leuten zusammenzuarbeiten. Um gemeinsam gegen Nazis zu demonstrieren, habe ich keine allzu großen ideologischen Scheuklappen.
Wo sind denn in die andere Richtung die Grenzen? Gibt es eine kirchliche Bündnispolitik mit antikapitalistischen oder linksradikalen Gruppen?
Die katholische Kirche hat den Kapitalismus als eine antigöttliche Ideologie bezeichnet, obwohl sie relativ gut davon lebt. Aber die Überzeugung, dass der Kapitalismus keine göttliche Idee ist, ist dort schon ziemlich deutlich. Die evangelischen Kirchen sind in Deutschland ganz gut mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verbunden. Da sie Teil dieses ganzen Prozederes sind, verstehen sie sich als in den demokratischen Diskurs eingebundene Bündnispartnerinnen. Da ist nicht so viel dagegen zu sagen, außer dass es uns blind macht dafür, dass die Ungerechtigkeiten nicht mit Kosmetik zu behandeln sind. Aber das teilen wir als Kirche mit allen Parteien im demokratischen Diskurs. Auch Die Linke ist als Partei insgesamt so gut innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses verortet, dass von ihr keine wirkliche revolutionäre Gefahr mehr ausgeht. Ich merke das immer bei den Diskussionen um das bedingungslose Grundeinkommen. Wenn das so vehement gefordert wird, ohne dass in den Blick kommt, dass das bedingungslose Grundeinkommen von Geldern erwirtschaftet wird, die anderswo abgezogen werden, dass das auch nur Teil eines kapitalistischen Wohlfühleffektes ist für die, die ohnehin schon auf der Sonnenseite stehen. Da wären die befreiungstheologischen Perspektiven unbedingt notwendig. Aber die sind eben eine Randerscheinung in der Kirche und in der Gesellschaft. In der Befreiungstheologie hat mal ein katholischer Theologe gesagt: Das Brot, das Ihr bei der Eucharistie brecht, ist das Brot, das Ihr uns wegesst. Wenn man sich diesen Ansatz in seiner dogmatischen Härte anschaut, kann man keinen schlimmeren Vorwurf machen. Das Brot, das wir essen, essen wir anderen weg, aber wir leben dabei mit ganz gutem Gewissen. Natürlich kommen wir aus den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht ohne weiteres raus. Dass dieses Bewusstsein wach bleibt, wird in der Befreiungstheologie permanent eingefordert. Das fehlt aber sonst im kirchlichen Diskurs.