»Lust; Hoffnung nicht!« Lust zieht Kassandra aus dem Beobachten der Geschehnisse um den Niedergang Trojas. Vielleicht ist es Lust, die die Autorin Christa Wolf selbst empfindet, wenn sie 1983 die Konflikte in der DDR in den Bildern des antiken Stoffes beschwört. Aber Hoffnung? Hatte die Autorin Hoffnung in die Zukunft des sozialistischen Staates, der wenige Jahre später untergehen würde? Hatte sie Hoffnung in die Frauenbewegung oder in den Willen der Menschen zum Frieden? Zuversicht in die Vernunft der westlichen Gesellschaften, die Ökosysteme zu schonen oder zumindest in deren Resilienz? Hätte die Autorin Hoffnung gehabt, wäre Kassandra dann ein utopischer Roman geworden?
Hoffnung erlaubt utopisches Denken. Hoffnung setzt voraus, dass es das Spiel mit den Möglichkeiten gibt, dass Menschen Alternativen sehen. Alternative — das bedeutet, dass mindestens eine andere Möglichkeit ein wahrscheinliches Szenario ist. Fast vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von Kassandra eröffnet sich eine Zukunft, die keine mehr ist. Die Möglichkeiten sind erschöpft, die Alternativen nicht mehr vorstellbar. Nur gibt es niemand zu. Alle machen weiter. Und schlittern durch ihr Leben, machen lediglich Ausweichmanöver. Jeder Urlaub beispielsweise ist ein Ausweichmanöver, ein vorübergehendes Aussteigen aus den traurigen Gewissheiten der Gegenwart. Im Urlaub kann kurz vergessen werden, wie absurd der Alltag geworden ist. Selten wird das deutlicher als in der Pandemie, die den Urlaub erschwert und die Minifluchten aus dem Kreislauf von Lohn- und Reproduktionsarbeit — Kino, Theater, Bar — eingeschränkt und zeitweise verunmöglicht hat. Der feministische Lesekreis, Fridays for Future, Antifa — auch politische Projekte vermögen der Zukunft keine Möglichkeit mehr hinzuzufügen, sind sie doch ihrerseits lediglich Reaktionen auf andauernde, unerträgliche Zustände. Alles schon mal gelesen, alles schon mal diskutiert. Ist das der Punkt, an dem man merkt, dass Hoffnung keinen Raum mehr hat? Ist das schon verzweifeltes Aufgeben?
Angst, Furcht, Verzweiflung, Hoffnung und Zuversicht — das nennt Erst Bloch die Erwartungsaffekte. Würde man sie auf einem Strahl anordnen, von links nach rechts, dann würde am einen Ende des Strahls das Nichts, am anderen Ende des Strahls Alles stehen. Wie zwei Pole, zwischen ihnen das Spektrum der Erwartungsaffekte. Während die Angst eine diffuse Innerlichkeit hat, sind Verzweiflung und Furcht Reaktionen auf ein bestimmtes Äußeres. Die Hoffnung ist die Antwort auf die Furcht. Am äußeren Ende des Spektrums indes befinden sich jeweils Verzweiflung und Zuversicht. Befindet sich die Zuversicht am dichtesten am paradiesischen Alles, so ist die Verzweiflung das Nichts, das Höllenhafte. Angst und Furcht sind noch fragend und unbestimmt. Verzweiflung ist definitiv, die endgültige Erwartung des Nichts. Zuversicht, ihr Gegenpol, wäre die definitive Erwartung des paradiesischen Alles. Wo Furcht ist, da kann also noch Hoffnung sein. Wo Verzweiflung ist — was kann da noch sein, wenn nach der Verzweiflung nur noch das Nichts kommt?
Die ewige Sonne
Die Angst, die Sonne würde eines Tages nicht mehr aufgehen, ist der gegenteiligen Gewissheit gewichen. Die Sonne wird niemals mehr untergehen. Kinder beschweren sich darüber, dass ihre Eltern ihnen die Zukunft gestohlen haben. Eltern beschweren sich darüber, dass ihren Kindern die Zukunft genommen wird. Dennoch hören Menschen nicht auf, weiter Kinder zu bekommen — ein Ausweichmanöver, ein Zeichen der Verdrängung? Gleichzeitig hören Kinder nicht auf, den Lebensstandard ihrer Eltern fortzuführen, weil Kinder meist tun, was Erwachsene tun.
35 Jahre Tschernobyl, 10 Jahre Fukushima — und die Welt setzt weiter auf Atomkraft. Schmelzen der Gletscher und des Permafrosts, Dürren, Waldsterben, Ozonloch, Überflutungen — diese Phänomene werden vermehrt seit 20 bis 50 Jahren registriert und spätestens seit den 1970ern vorhergesagt. Ein Dutzend Grafiken und Artikel im Ton der Endzeit — aber ja, es erwarten alle die Apokalypse, nur ihre konkrete Gestalt ist unbekannt. Die Sonne wird die Erde verbrennen, das Wasser wird sie überfluten. Während die einen glauben, das ließe sich noch aufhalten, wenn man nun wirklich endlich Klimaziele ernster nähme, treiben die anderen das Geo Engeneering voran. Für alle Fälle sucht die Menschheit Planeten im Weltall, auf denen das Leben sich fortführen ließe. Derweil wird auf Erden weiter konsumiert.
Klimaschutzaktivist:innen, beispielsweise von Extinction Rebellion oder Fridays for Future, diskutieren die unter ihnen grassierende Klimadepression. Dabei ist die Rede von der Klimadepression eine Verharmlosung. Genauer genommen leiden sie am Kapitalismus. Und daran, dass egal ist, welche Aktion sie als nächstes noch angehen. Da geht es ihnen nicht anders als denen, die zum Beispiel unter Armut leiden. Nur haben sie ein größeres Publikum, dem sie ihren Unmut mitteilen können, weil Klima (im Gegensatz zu Armut?) theoretisch ja uns alle angeht und sogar die Kids der Besserverdienenden auf die Straße holt. Auch Greta Thunberg, die Kassandra der Umweltbewegung, litt unter einer Depression, ehe sie Aktivistin wurde. An ihr lassen sich gleich mehrere Probleme der Gegenwart aufzeigen. Sie ist »anders«, weil sie eine Frau ist, weil sie Asperger hat, und vor allem macht sie den Mund zu weit auf. Für eine Frau. Für eine, die Asperger hat. Deswegen wird sie angegriffen. Nicht als Jugendliche, nicht als politisches Subjekt — dabei ließe sich dazu eine Menge sagen — , sondern als Frau, weil sie in dieser Rolle am leichtesten zu kritisieren ist. Wie Kassandra in der Erzählung zieht sie den Hass auf sich: »Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blaß, auch wütend, ich kenne es von mir selbst. Und daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiß.«
Zukunft verwalten
Menschen wie Kassandra stören die Gegenwart, weil sie daran erinnern, dass es an einer Vorstellung der Zukunft fehlt. Während jugendliche Menschen noch eine vage Idee davon haben, für etwas zu kämpfen, was in ihrer Zukunft liegt, ist den sogenannten Erwachsenen dieser Ausblick abhanden gekommen. Man überschaut nur noch das eigene Leben und — mit Erleichterung — dessen Endlichkeit. Das Denken in die Zukunft funktioniert nicht mehr, weil strukturell und gesellschaftlich nicht angelegt ist, dass es statt findet. Das Individuum und die Gesellschaft fallen auseinander, sie denken sich nicht mehr als eine Einheit.
Die Einzelne lässt sich von einem permanenten Sicherheitsdenken leiten, das nahezu alle privaten Lebensbereiche durchzieht. Neben Versicherungen und Vorsorgen aller Art werden sämtliche Orte und Aktivitäten durch sorgfältige Planung berechenbar gemacht. Nirgendwo fährt man hin, nichts unternimmt man, ohne im Internet zuvor im Detail auszuloten, was zu erwarten ist. Dating im Internet. Nicht mehr nur: Die Person schon vorher auf Fotos, in Beschreibungen kennen lernen. Nun auch der Background Check. Diese Überfürsorge für die Selbsterhaltung wird durch Resignation und Desinteresse gegenüber gesellschaftlichen Visionen kontrastiert. Das Gemeinsame ist aus Gesellschaften getilgt, es geht unter in der Bewältigung der eigenen Lebensplanung.
Das meinte Ernst Bloch wohl, wenn er sagt, dass die Hoffnung als eine Wendung auf dem bürgerlichen Boden gar nicht möglich ist. Der durchorganisierte Alltag lässt keinen Raum für das Nachdenken über ein anderes Morgen.
Daran knüpfte auch Mark Fisher an. Je mehr Zeit der Communicative Capitalism im Alltag einnimmt, so Fisher, desto schwieriger ist es zu begreifen, in was für einer historischen Situation wir leben. Die Dimension der Zukunft sei verschwunden und mit ihr die Spezifität von Kultur, das heißt: Das Leben schreitet voran, während die Zeit still steht. Gleichzeitig sind alle stets verrückt nach Neuem, nur gibt es nichts wirklich Neues mehr. Das lässt sich am Revival illustrieren. Alles kann wiederkommen, alles wird wiederholt. Die Gewöhnung an diesen Stillstand ist so ausgeprägt, dass wir gar keine radikalen Brüche oder Paradigmenwechsel mehr in der Mode, der Musik — kurzum: in der Kultur — erwarten. Zugleich begünstigt die stete Wiederholung in der Kultur den Eindruck, dass die Linearität und ein Narrativ von Zeit, die eine Verortung in einer spezifischen historischen Situation anzeigen würden, verschwunden sind. Diese Erfahrung mündet in einen Zustand von Melancholie, der nicht Trauer über Verlorenes werden kann, weil diese Trauer kein Objekt hat, weil sie sich an nichts Bestimmtes in der Vergangenheit oder Gegenwart zu hängen vermag. Zumindest sah Fisher in dieser Melancholie aber noch die Verweigerung, die gegenwärtigen Verhältnisse zu akzeptieren bzw. sich an diese anzupassen. Die Alternativen dazu wären Verleugnung, Hoffnungslosigkeit und Depression — vielleicht der Selbstmord, für den Fisher sich 2017 entschied.
Die Unfähigkeit zu trauern und die Ahnung, die Gegenwart führe ins Nichts, steigert die Verwaltungsakte ins Dystopische. Menschen wollen sich nicht von dem trennen, was sie kennen und was ihnen lieb ist, weil sie nichts Besseres erwarten. So wenig können die Menschen sich eine Zukunft vorstellen, dass sie sich entschließen, ihre verstorbenen Haustiere klonen zu lassen. Never ending love. Für 32-50.000 Euro lassen sich Katze oder Hund in Deutschland replizieren. Ein Bericht darüber im Deutschlandfunk im September 2020 diskutierte das Verfahren zum Sicherstellen des Erbguts und empfahl schnelles Handeln nach dem Tod des Tieres: »Hunde können eine Woche lang im Kühlschrank aufbewahrt werden, Katzen nur drei Tage.« Haustierliebe in Zeiten des Kapitalismus. Die Erfahrung der Menschen ist, dass alles immer schlimmer wird. Sie verwalten das bisschen bessere Gegenwart in ihre Zukunft.
Einmal mehr illustriert auch die Corona-Pandemie dieses Festhalten an Gewohnheiten. Die Menschen forderten im Frühjahr 2021, dass es eine Rückkehr zur Normalität geben müsse. Damit meinten sie, dass sie in ihre Gewohnheiten zurückkehren und ihr altes Leben wieder haben wollen — ob sie ihr Leben und ihren Job nun gemocht haben oder nicht.
Das zeigt die Bahnen des Denkens jenseits der Hoffnung. Wenn Veränderungen den Menschen die Möglichkeit bieten, sich ein neues Leben unter neuen Bedingungen auszudenken, dann wünschen sie sich das alte zurück. Es wird kein besseres geben, das ahnen sie längst und denken sich deshalb kein anderes aus. Es ist ein Eingeständnis der Verzweiflung, der Triumph der Verzweiflung über die Hoffnung.
So wie den Urlaub hat die Pandemie weitere Ausweichmanöver weggespült und die Verdrängung der desolaten Gegenwart erschwert. Vorher konnte das Spiel mit den Möglichkeiten simuliert werden in den sogenannten Freiräumen. Beispielsweise auf der Tanzwiese der Fusion. Deswegen ist die Absage der Fusion für viele so ein Verlust. Ferienkommunismus für 220 Euro pro Ticket, ein paar Tage lang so tun als ob. Wenn diese Auszeit abgesagt wird, wofür lohnt sich dann das Jahr noch? Die Gegenwart feiert 30 Jahre Techno. Techno hat sich am allerwenigsten verändert. Es gibt viele Erzählungen von »den frühen Raves«, dem unglaublichen Gefühl von Verbundenheit und Teil von einer besonderen Entwicklung zu sein. Eine Verklärung. Gerade in der Ausstellung No Photos on the Dance Floor, die 30 Jahre Techno dokumentiert, wird das Dilemma der Gegenwart noch viel deutlicher: Die Sehnsucht nach Freiräumen, nach Squats oder wenigstens bezahlbaren Mieten gab es schon damals. Sie ist selbst historisch geworden. Bleibt nur noch die rückwärts gewandte Sehnsucht nach dieser Zeit, in der der Sound sich neu angehört hat und deshalb verheißungsvoll war. In der die Wende einen Neuanfang und eine Zukunft versprochen hat. In der es noch vorstellbar war, dass die Sehnsucht sich nach vorn in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit richtet.
Der Club ist Sehnsuchtsort geblieben — und es ist kein Zufall, dass die Clubkultur in der Corona-Pandemie so sehr fehlt. Clubs sind Orte der Regeneration und der Selbsterhaltung. Soziale Räume für die Jugendlichen und diejenigen, die vor 30 Jahren schon dabei waren und nicht loslassen wollen. Fisher hätte sie vielleicht Orte der Melancholie genannt.
Die Berufsjugendlichen gibt es aber nicht nur im Club. Es gibt Widerstände gegen das Erwachsenwerden. Christine Kirchhoff beschreibt diesen Zustand als Dauer-Adoleszenz. Mit dem Erwachsensein wird die Anpassung an einen unaushaltbaren Zustand assoziiert: Zwänge und Unfreiheit; jede Arbeit annehmen müssen, um zu überleben; erholen, nur um wieder arbeiten gehen zu können. Es fehlt eine positive Aussicht auf die Phase nach der Adoleszenz, deswegen wirkt Erwachsensein wie ein Nichts. Die Verweigerung, die Adoleszenz zu verlassen, ist Resultat einer diffusen Angst: Es ist zu schmerzhaft, das vorgestellte Nichts anzuerkennen. Beides, das Festhalten an Gewohnheiten, an dem Geliebten und die Verweigerung, in die Verwaltung der Zukunft einzustimmen, sind in diesem Ausweichmanöver enthalten. In der Verweigerung steckt aber zugleich ein Nichteinverstandensein mit den Zuständen. Nur findet es keine Artikulation, die etwas an den Zuständen ändern würde. Das zu ignorieren, dieser Artikulation keinen Raum zu geben, bedeutet Resignation. Auch hier also keine Hoffnung?
Verfluchte Kassandra
Was man nicht gern hört, was man als störend empfindet, das soll keinen Raum haben. Oft sind es die Dinge, an denen man eigentlich etwas ändern könnte, die man am weitesten von sich fort schiebt. Dass sie schwer zum Schweigen zu bringen sind, ahnt man. So haben die Griechen der Antike den Mythos um Kassandra erschaffen, wissend, könnte man meinen, dass Unaufgeräumtes und Verdrängtes sich den Weg zurück in die Gegenwart bahnen. Dennoch bleibt das Verdrängte in dieser Gestalt abgespalten und Kassandra taugt als Projektionsfläche gerade weil sie wie eine Instanz außerhalb des Systems zu stehen scheinen. Außerhalb — weil die Umwelt mit Hass und Ausschluss auf Kassandra reagiert, spiegelt sie doch das eigene Handeln wider. Sicher ist es kein Zufall, dass Kassandra eine Frau ist. Apollon begehrte Kassandra und schenkte ihr die Gabe des Sehens. Kassandra begehrte Apollon nicht und wies ihn zurück. Daraufhin verfluchte Apollon Kassandra. Weil er die Gabe nicht zurücknehmen konnte, fügte er hinzu: Sie möge hellsehen und niemand solle ihr glauben. Nicht-Glauben, das allein trifft es dabei nicht, es impliziert lediglich eine Gleichgültigkeit. Der Fluch aber, der bis in die Gegenwart gesellschaftliche Unterschiede manifestiert, ist um ein aktives gesellschaftliches Moment erweitert: Das Ignorieren, das Zum-Schweigen-Bringen und das Bestrafen.
Seit Tausenden von Jahren werden Frauen gemaßregelt, wenn sie sich anders verhalten, als die Gesellschaft es von ihnen erwartet. Erste, zweite und dritte Frauenbewegung — Gewalt gegen Frauen und Sexismus gibt es weiterhin, ebenso die Drohungen gegen diejenigen, die dies monieren.
Ähnliches ließe sich über diejenigen sagen, die Rassismus kritisieren. Nach der Erschießung von Daunte Wright erhielt seine Familie Todesdrohungen. Zusammen mit der Familie des ein Jahr zuvor getöteten George Floyd waren sie recht schnell nach dem Tod von Wright an die Öffentlichkeit gegangen und hatte die anhaltende Polizeigewalt gegen Schwarze kritisiert. Naisha Wright beklagt den Tod ihres Neffen Daunte Wright kurz vor dessen Beerdigung auf CNN: »Why do we have to keep going through burying our babies?«.
Das Höllenhafte
Nicht erst Klimakatastrophe oder Kriege sind das Höllenhafte. Diese Gegenwart ist das Höllenhafte. Diese Gegenwart, die die Abgründe unter einer Decke von Normalität verbirgt. In der die Menschen aggressiv oder depressiv werden, wenn ihnen das letzte genommen wird, was sie vor dem kompletten Wahnsinn bewahrt: Urlaub und kollektives Saufen.
In den vergangenen Monaten hat man viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob man noch Hoffnung hat. Corona als Chance — wenig überraschend sind diese Seifenblasen recht schnell geplatzt, niemand redet mehr davon. Nicht mal die Stimmen derjenigen, die den Anteil der Menschheit an der Entstehung des Virus’ und vermutlich zukünftiger Pandemien problematisieren, sind noch zu hören. Es ist, als habe der Ausnahmezustand davon überzeugt, dass nichts mehr hilft.
Schon immer haben Menschen gesagt, dass es mit der Welt zu Ende gehen würde. Die individuelle Situation spielt dafür eine entscheidende Rolle — je aussichtsloser sie ist, desto wahrscheinlicher ist diese Empfindung. Was eigentlich so banal wirkt — je schlechter es mir geht, desto pessimistischer bin ich —, mag den Unterschied ums Ganze machen. Denn andererseits haben Menschen in auskömmlichen individuellen Situationen stets abgewunken: Immer wieder wurde das Ende der Welt vorausgesagt — und immer ist es irgendwie weiter gegangen. Das ist wahr. Es könnte also auf den ewigen Konflikt zwischen Pessimist:innen und Optimist:innen hinauslaufen. Das Schlechte will der Mensch stets abspalten, verneinen, um das Gute zu erhalten. So verharmlost auch dieses Abwinken die Gefahr. Schönreden, Vermeiden, Nichtsehen. »Das hab ich lange nicht begriffen«, sagt Kassandra, »daß nicht alle sehen konnten, was ich sah. Daß sie die nackte bedeutungslose Gestalt der Ereignisse nicht wahrnahmen. Ich dachte, sie hielten mich zum Narren. Aber sie glaubten sich ja. Wenn wir Ameisen wären: Das ganze blinde Volk stürzt sich in den Graben, ertränkt sich, bildet die Brücke für die wenigen Überlebenden, die der Kern des neuen Volkes sind. Ameisengleich gehen wir ins Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von Blut. Nur um nicht sehn zu müssen. Was denn? Uns.«
Stine Meyer
Die Autorin ist Redakteurin der Phase 2.